DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Region und Netzwerke

Aktuelle Aspekte zu einem Spannungsverhältnis

Dietrich Fürst

Prof. Dr. Dietrich Fürst ist Leiter des Instituts für Landesplanung und Raumordnung an der Universität Hannover.

Weshalb gibt es in Wissenschaft und Praxis eine Renaissance der „Region“ in Zusammenhang mit der aktuellen Netzwerkdiskussion? Worin besteht das Spannungsverhältnis zwischen Netzwerken und Region? – Dietrich Fürst beschreibt den Wandel des Regionsbegriffs und geht auf aktuelle Tendenzen der gegenwärtigen Regionalisierungsdiskussion ein.

Abstract: Why have we lately seen a renaissance of the concept of „region“ in the social sciences? The author explores changing perspectives on this concept against a background of technical and social development. While the electronic media allow networking as a form of cooperation that is motivated by functional aspects and exceeds regional boundaries, cooperation within the physical boundaries of a region is facilitated by ease of personal contacts, shared facilities and common institutions. Both tendencieswill work together in a process of regionalisation towards decentralised, semi-autonomous governance systems.

Begriffliches

Regionen im sozialwissenschaftlichen Sinne werden durch menschliches Handeln konstituiert. Ihr Kennzeichen ist eine besondere Interaktionsdichte, welche sie gegenüber ihrem Umfeld unterscheidet. Gleichwohl bedarf die genaue Regionsabgrenzung besonderer Entscheidungen, die vom Zweck der Regionsbildung abhängen. Deshalb gibt es eine große Zahl von Abgrenzungen, die verwaltungstechnisch, wissenschaftlichstatistisch oder politisch begründet sind. Aber „Region“ hat häufig Zusatz-Konnotationen, die den Begriff ideologisch werden lassen können. Territoriale Abgrenzungen haben vor allem für politisch-administrative Prozesse hohe Bedeutung: Politische Entscheidungs- und Legitimationsstrukturen, Wahlsysteme, Verwaltungskompetenzen u. Ä. sind auf Territorien bezogen (vgl. Fürst 1995). Werden mit der Regionsabgrenzung besondere Vergünstigungen/Privilegierungen für diejenigen gewährt, die innerhalb der Region leben, so wird die Abgrenzung ein Politikum. Das war der Fall, als die Regionsabgrenzung gleichzeitig darüber befand, welche Gemeinden unter eine gemeinsame Regionalplanung resp. in die Gebietskulisse der Wirtschaftsförderung kommen sollten.

In den wissenschaftlichen Disziplinen dominiert heute die Einstellung, dass eine allgemeine Diskussion über Regionsabgrenzung nur zweckgebunden erfolgen kann: Regionen definieren sich danach, in welchem Raumbezug bestimmte Handlungen sinnvollerweise mit welchen Akteuren zusammen durchzuführen sind (vgl. die Diskussion zur Region aus Sicht verschiedener Disziplinen in Ellwein/Mittelstraß 1996, S. 11-88).

Die höhere Dichte der Interaktionen in einer Region vermittelt die Vorstellung, dass Regionen eine eigenständige Gestaltungskraft hätten. Durch sozio-kulturelle Bindungen, gemeinsame Geschichte und Traditionen kann historisch eine „ Regionsidentität“ entstanden sein, die sich auf eine Raumeinheit richtet. Die Frage der Regionsidentität wird allerdings kontrovers diskutiert, weil der gemeinsame Bezug auf historisch entwickelte kollektive Werte, Erinnerungen und Institutionen (bis hin zu folkloristischen Einrichtungen) sozial konstruiert ist und heute – im Zuge der Individualisierung der Lebensstile, der hohen räumlichen Mobilität und der Dominanz von marktähnlichen Beziehungen – an Bedeutung verliert. Die Diskussion zur „ Reflexiven Modernisierung“ unterstreicht diese Raum-Entkoppelung zugunsten funktionaler Vernetzungen von Akteuren, auch über weite Distanzen.

Damit wird für die Regions-Diskussion ein spezifisches Spannungsverhältnis konstituiert: zwischen funktionaler und territorialer Bindung des Handelns. Es gibt Akteure – primär Politiker und Verwaltungsleute –, die territorial gebunden sind, weil der institutionelle Rahmen, in dem sie handeln und Bedeutung haben, territorial abgegrenzt wurde. Aber immer mehr Akteure interagieren funktional: Für sie sind die Kooperationspartner entscheidend, nicht der Raum, in dem sie leben. Das gilt allerdings mit Einschränkungen. Denn die sog. „ Raumüberwindungskosten“ (Transport) und die spezifischen Vorlieben für Räume (Raumpräferenzen) erzeugen Raumbindungen und stärken damit die territoriale Komponente.

Netzwerke und Region – ein Spannungsverhältnis

Dieses Spannungsfeld zwischen einer funktionalen und einer territorialen Regionsbetrachtung wird in der neueren Netzwerk-Diskussion wieder aktuell, denn Netzwerk-Theoretiker gehen von funktionalen Vernetzungen von Akteuren aus. Der Raumbezug ist nebensächlich und eher zufällig. Das gilt umso mehr, wenn die neuen IuK-Technologien die Raumunabhängigkeit fast ohne Transaktionskosten möglich machen: Dann bilden sich Gemeinschaften, für die ein gemeinsamer Raumbezug immer unwichtiger wird – „community goes beyond the neighbourhood“ (Wellman 2001, S. 233f.).

Aber man beobachtet auch ein wachsendes Bedürfnis nach dezentraler Selbststeuerung und Organisation dezentralen kollektiven Handelns. Das könnte dafür sprechen, dass die territoriale Bindung wieder stärker wird. Tatsächlich handelt es sich aber um unterschiedliche funktionale Bezüge, und zwar in zweifacher Richtung: Auf der einen Seite wächst die individuelle Optionenerweiterung durch Bezug auf funktionale Netzwerke weit über die Grenzen des Lokalen hinaus. Auf der anderen Seite behält die Bindung an das Lokale, an Gruppen, an Nachbarschaften weiterhin Gültigkeit und gewinnt teilweise sogar an Bedeutung. Aber wenn der Region in diesem Sinne wieder wachsende Bedeutung zugeschrieben wird, dann nicht wegen ihres territorialen „container“-Charakters (Läpple 1991), sondern weil sie recht gut die horizontalen Netzwerke gegenüber den traditionellen hierarchischen Entscheidungsstrukturen unseres politisch-administrativen Systems stärken kann (vgl. Fürst 1999). Die Wettbewerbsfähigkeit von Regionen wird heute in enger Beziehung zur Fähigkeit der Regionen gesehen, soziale und institutionelle Bindungen zwischen den Akteuren der Region derart aufzubauen, dass Regionen als Kollektive handlungsfähig werden. Dabei hat die räumliche Dimension (nicht: die Regionsbindung) insofern Bedeutung, als Netzwerke, die durch schwache Institutionalisierung und horizontale Kommunikation gekennzeichnet sind, Bindungen brauchen, wenn kollektives Handeln erreicht werden soll (vgl. Morgan u. a. 2000). Der „Kitt“ der Bindungen sind Vertrauen, ungeschriebene Spielregeln (wie Reziprozität, Fairness und Verlässlichkeit des Handelns), Kooperationsbereitschaft, Solidarität u. Ä. – also das, was vielfach mit „Sozialkapital“ umschrieben wird.

Sozialkapital beruht aber meist auf persönlichen Kontakten. Dafür reichen Internet-Dialoge nicht aus. Vielmehr spielen hier die Raumüberwindungskosten und die regionale Interaktionsdichte eine Rolle. Denn Menschen, die in demselben regionalen Umfeld zusammenleben, gehen Bindungen ein, die von Zugehörigkeit zu gemeinsamen Institutionen über gemeinsame Geschichte bis zu sozialen Normen reichen können.

Diese Verknüpfung von funktionalen Netzen und territorialen Bindungen spielt in der neueren Forschung zu Innovations-Regionen eine Rolle. Denn neben funktionalen Netzen sind es „Milieu-Effekte“, also sozio-kulturelle Bezüge (z. B. innovationsoffene oder innovationsfeindliche Klimata), gemeinsame Werthaltungen und Normen, gemeinsame Kollektivgüter (z. B. innovationsorientierte Bildungs- und Forschungseinrichtungen) etc., die innovative Regionen charakterisieren. Aber auch diese „ Milieutheorie“ verwendet keinen territorial begrenzten „container-Begriff“ der Region. Vielmehr geht man von unterschiedlichen Raumbindungen aus, die das Verhalten in Regionen bestimmen (vgl. Fürst 2001).

Netzwerk-Diskussion – Wandel des Regions-Begriffs?

Die Netzwerk-Diskussion beschreibt zwar weder neue empirische Phänomene noch behandelt sie ein theoretisch unerschlossenes Thema – die Gruppenpsychologie und die Organisationssoziologie haben sich seit langem damit befasst. Sie ist primär Ausdruck davon, dass die Steuerung im Modernisierungsprozess einer Gesellschaft außer durch Institutionen immer mehr durch überlagernde Netzwerke erfolgt. Sie verschaffen Gesellschaften Flexibilität, die in den herkömmlichen Institutionen verloren geht; sie vermitteln schneller und leichter neue Ideen und Innovationen; sie entwickeln Synergie-Effekte durch das Zusammenspiel verschiedener Akteure; sie setzen neue Kräfte über dezentrale Selbststeuerungs-Potenziale frei etc. Zudem erweist sich die Koordination von Akteuren über face-to-face-Kontakte in komplexen, mit Unsicherheit belasteten kollektiven Prozessen immer noch als eine der wirksamsten Formen. Zumindest lässt sich das für wirtschaftliche Produktionsund Innovationsprozesse bei interorganisatorischer  Vernetzung nachweisen. Man kann sogar so weit gehen, dass die Stärkung von netzwerkartigen governance- Formen auf Regionsebene zu einer „neuen Form von Politik“ führen wird (Benz u. a. 1999, S. 47ff., S. 133ff.).

Aber die pauschale Diskussion zur „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 1996) wird zur Zeit noch sehr spekulativ geführt: Die damit befassten Sozialwissenschaften sind bekanntlich Deutungswissenschaften, die empirische Beobachtungen interpretieren und in Bezug zu theoretischen Deutungsmustern setzen. Je komplizierter die zu beobachtenden Zusammenhänge sind und je komplexer das beobachtete System ist, umso weniger lassen sich Deutungen empirisch prüfen. Darauf basiert z. Zt. der in den Raumwissenschaften blühende Wettlauf um neue Interpretationsfiguren für innovatives und strukturveränderndes Verhalten in Regionen (einen sehr guten Überblick darüber gibt Störmer 2001, S. 131-196). Da man die Zusammenhänge nicht empirisch abbilden kann, aber intuitiv und aufgrund von Theorien deduktiv Vorstellungen darüber hat, was für regionale Entwicklungsprozesse wichtig sein kann, entstehen immer neue theoretische Modelle über das Zusammenspiel von funktionalen und raumgebundenen Bezügen der Raumentwicklung (vgl. Fürst 2001). Unter diesen Bedingungen wird es immer schwieriger, empirisch gehaltvolle Theorien zu entwickeln. An die Stelle treten theorie-geleitete Analyse-Konzepte, die eine Art „Suchraster“ bilden, wie die komplexe Wirklichkeit erfasst werden kann. Aber Suchraster bilden nicht die Dynamik des Zusammenspiels von Netzwerken und raumgebundenen Strukturen ab.

Deshalb ist auch weitgehend unbestritten, dass die Vorstellung, die Region werde sich in einen „space of flows“ (Castells 1999) auflösen, nur als Metapher, aber nicht als Abbildung der Wirklichkeit zu verstehen ist. Vielmehr beobachten wir überall eine Renaissance der Region und teilweise auch des Lokalen. Selbst Castells sieht ein „grassrooting the space of flows“ (ebd.).

Deshalb gibt es in Wissenschaft und Praxis eine Renaissance der „Region“. Denn die Interaktionen und Vernetzungen in einer Region erweisen sich weiterhin als geeignet, um die Interaktion zwischen sozialen, ökologischen und ökonomischen Handlungsträgern vergleichsweise „kostengünstig“ zu gestalten, um Selbsthilfekräfte zu mobilisieren, um den gesellschaftlichen Strukturwandel mit den schwächsten Störwirkungen für die Gesellschaft zu bewältigen etc. Aber auch die territoriale Komponente von Region ist weiterhin bedeutend, wenn wir politischadministrative Steuerungsprozesse dezentralisieren.

Regionalisierung ist eine „Variante einer Modernisierungspolitik im öffentlichen Sektor“ (Benz u. a. 1999, S. 52ff.). Aber auch die lokale Ebene verändert sich, weil die arbeitsteilige Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft neue regionale Abhängigkeiten erzeugt, die nicht mehr auf lokaler Ebene, sondern überlokal auf regionaler Ebene bearbeitet werden müssen: Verund Entsorgung, Arbeitsmärkte, Gesundheitswesen, Kulturbedarfe werden heute auf regionaler Ebene aufgefangen, und eine funktionsfähige Region gilt als Standortfaktor (vgl. Fürst 1996).

Diese politisch-administrative Dimension beherrscht gegenwärtig die „Regionalisierungs-Diskussion“. Regionalisierung ist heute in allen Gesellschaften angesagt und zielt darauf, die gesellschaftliche Selbststeuerungsfähigkeit im Kontext großer Herausforderungen an Innovation und strukturelle Anpassungsleistungen zu verbessern. Dezentrale, halb-autonome Steuerungssysteme, die zudem über Vernetzungen unterschiedlich betroffene und beteiligte Akteure einbinden können, haben hier Vorteile der Synergie-Effekte, der Anpassungsflexibilität und der Motivation. Aber Regionalisierung hat auch Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Steuerung und verändert sie – gewollt oder ungewollt (vgl. Benz u. a. 1999, S. 133ff.).

Literatur

Benz, A./Fürst, D./Kilper, H./Rehfeld, D. (1999): Regionalisierung. Theorie, Praxis, Perspektiven. Opladen

Castells, M. (1996): The rise of the network society. Malden/MA

Castells, M. (1999): Grassrooting the space of flows. In: Urban Geography S. 294-302

Ellwein, Th./Mittelstraß, J. (Hrsg.) (1996): Regionen, Regionalismus, Regionalentwicklung. Odenburg

Fürst, D. (1995): Region/Regionalismus. In: Nohlen, D./Schultze, R.-O. (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 1: Politische Theorien. München, S. 539-543

Fürst, D. (1996): Zur Entwicklung des modernen Regionalbegriffs – die räumliche Komponente. In: Ellwein/Mittelstraß, a. a. O., S. 39-53

Fürst, D. (1999): Regionalisierung – die Aufwertung der regionalen Steuerungsebene? In: ARL (Hrsg.): Grundriß der Landes- und Regionalplanung. Hannover, S. 351-363

Fürst, D. (2001): Die „learning region“ – Strategisches Konzept oder Artefakt? In: Eckey, H.-F. u. a. (Hrsg.): Ordnungspolitik als konstruktive Antwort auf wir tschaftspolitische Herausforderungen. Stuttgart, S. 71-90

Läpple, D. (1991): Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, H. u. a. (Hrsg.): Stadt und Raum. Soziologische Annäherungen. Pfaffenweiler, S. 156-207

Morgan, B./Brooksbank, D./Connolly, M. (2000): The role of networking in the new political economy of regional development. In: European Regional Studies, H. 8, S. 319-336

Störmer, E. (2001): Ökologieorientierte Unternehmensnetzwerke. Regionale umweltinformationsorientierte Unternehmensnetzwerke als Ansatz für eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. München

Wellman, B. (2001): Physical place and cyberplace: The rise of personalized networking. In: International Journal of Urban and Regional Research, H. 25, S. 226-252


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Dezember 2001

Dietrich Fürst, Region und Netzwerke. Online im Internet:
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