DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Der Wunsch des Kunden und die Pflicht des Fachmanns

Gerhard von der Handt

„Wünschen Sprachenlerner E-Learning?" titelte die DIE Zeitschrift im Forum von Heft IV/2003 und präsentierte Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Karin Vogt (S. 46-48). Ein Ergebnis lautete: Die meisten Lerner lehnen einen rein virtuellen Kurs ab. DIE-Mitarbeiter und Sprachenlernforscher Gerhard von der Handt setzt sich in diesem Beitrag mit der Frage auseinander, was aus dieser Haltung von Lernern praktisch zu folgern sei. In einigen Fällen gebe es zur Nutzung Neuer Medien keine Alternative, gerade wenn die „suasive" Sprachkompetenz mit erworben werden soll.

„Der Kunde hat immer recht" – hat er natürlich nicht. Aber er entscheidet letztlich, ob er für eine Dienstleitung oder ein Produkt Geld ausgeben will (ob er recht hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle). Ein gutes Fachgeschäft berät seine Kunden, versucht deren Wünsche zu präzisieren und in Abgleich mit dem vorhandenen Angebot zu bringen. Eine nichtberatene Entscheidung beim Discounter kann einen wesentlich teurer zu stehen kommen als sich in ein Fachgeschäft zu bemühen. Kann, muss aber nicht, wenn der Kunde selbst genug Fachkenntnisse hat. „Kunde", „Dienstleistung" und „Produkt" gehören inzwischen zum gängigen Vokabular des Bildungswesens. Machen wir also die Überlegung für das Sprachenlernen konkret: Der Kunde Sprachenlerner hat die nötigen Fachkenntnisse für eine verantwortete nichtberatene Entscheidung im Allgemeinen nicht; er kann zwar seine Grobziele benennen, was das im Einzelnen für das Lernen bedeutet, weiß er nicht. Beratung bleibt also wichtig.

Im Bereich des Sprachenlernens kann man zwischen einer Beratung vor und während einer solchen „Bildungsdienstleistung" unterscheiden. Beim „Vorher" werden Bedürfnisse, Wünsche und Voraussetzungen des Sprachenlerners festgestellt und mit dem Kursangebot abgeglichen. Eine gute Beratung übernimmt übrigens die Informationen über Kundenwünsche und -voraussetzungen für die ständige Verbesserung des Kursangebots, so dass es sich um eine Wechselwirkung handelt. Im Allgemeinen steht am Ende einer solchen Beratung die Empfehlung für einen bestimmten Kurs. Möglich wäre z.B. auch die Empfehlung von Materialien für eigenständige Lernformen, z.B. in Form eines interaktiven Lernprogramms; und zwar weil für die besonderen Ziele des Bildungsnachsuchers kein entsprechendes Angebot besteht. Der Begriff „eigenständig" wurde gewählt, weil die meisten dieser Programme wenig mit „selbstgesteuerten Lernen" zu tun haben; die angebotenen Übungen lassen oft wenig Raum zur Selbststeuerung. Die „Während"-Beratung dient der individuellen Begleitung des Lernprozesses im Kurs; hier kann z.B. ebenfalls eine Empfehlung für ein Lernprogramm gegeben werden, mit dem der Lernende in Ergänzung zum gemeinschaftlichen Mainstream des Kurses eine Individualisierung (Ausweitung, Vertiefung) erreichen soll.

Diese und eine Reihe anderer Differenzierungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Beratung und erfordern eine hohe Expertise des Beraters: Letztendlich geht es um umfassende Kenntnisse, wie die Ziele strukturiert sind, welche Wege angemessen sind und wie die Rahmenbedingungen aussehen. Dies alles ist im Dialog mit dem Kunden zu einer Empfehlung bzw. Entscheidung zu bringen. Der Abgleich aller Parameter und Daten ist dabei das Entscheidende, d.h. die einzelnen Kategorien müssen aufeinander bezogen werden.

Eine solche Verknüpfung von Parametern und Daten erfolgt zum Beispiel im Beitrag „Wünschen Sprachenlerner E-Learning?" im Forum der DIE Zeitschrift IV/2003 von Karin Vogt (S. 46-48) mit dem Ergebnis: Die meisten Lerner lehnen einen rein virtuellen Kurs ab (S. 47). Die Einstellung der Kundschaft den sog. Neuen Medien gegenüber zu kennen, ist für Kursplaner und -organisatoren sicherlich für sich genommen wichtig. Aber sie ist von relativem Wert, es sei denn, man beabsichtigt, undifferenziert alle Sprachkurse plötzlich online/virtuell durchführen zu lassen. Es bestand zwar eine zeitlang eine diffuse Furcht, der leibhaftig präsente Kursleiter könnte durch interaktive Programme oder ein virtuelles Betreuungskonzept ersetzt werden, aber die bisherigen Erfahrungen bestätigen die Ergebnisse der Vogt’schen Umfrage: Virtuelle Angebotsformen ohne Präsenzphasen sind bis jetzt und wahrscheinlich auch weiterhin über ein Kümmerdasein nicht hinausgekommen. Sind sie deshalb grundsätzlich obsolet? Wenn die Alternative lautet: „virtuelles Angebot oder gar keins" mögen viele/einige trotz ihrer Vorbehalte diese Möglichkeit nutzen. Dass Lernen tatsächlich nur über ein Online-Angebot möglich und ein Präsenzangebot nicht vorhanden ist, taucht als Problem z.B. bei selten gelernten Sprachen auf. Wenn es auch ein Präsenzangebot gibt, wird – aus den in der Umfrage zutage geförderten Gründen – der traditionelle Kurs bevorzugt werden.

Ob man Neue Medien nutzen möchte oder nicht ist nicht zuletzt eine Frage der Tiefe, in der man Sprache erlernen möchte. Auch hier würde ein Verzicht auf die Möglichkeiten der Neuen Medien dazu führen, dass man sein gewünschtes Ziel nicht erreicht: Will man über das Erlernen von Sprache für Standardsituationen hinaus, soll die Sprachkompetenz auch die suasive Komponente umfassen, d.h. denjenigen Aspekt von Sprache, über den Handlungen, Einstellungen und Haltungen anderer beeinflusst werden, dann gibt es keine Wahl – man muss die Neuen Medien nutzen. Dies gilt besonders für den beruflichen Bereich, aber auch für alle „tiefen" sozialen Einbindungen im privaten Alltag, am augenfälligsten in der Migrationssituation. Die suasive Komponente wird besonders auf der Diskursebene von Kommunikation wirksam: Wie ordne ich Sprache an, um unter Berücksichtigung des besonderen sozio-/interkulturellen Umfeldes zu meinem Handlungsziel zu kommen. Dies kann nicht in der Vermittlung von einfachen Modellen oder Rezepten geschehen, sondern nur „konstruktivistisch" erfolgen: über eine Vielzahl von authentischen Kommunikationsfällen, wobei authentisch strikt an die individuelle Verwendungssituation geknüpft ist. Die Kommunikationsfälle müssen sich im Rahmen des inhaltlichen Interesses des einzelnen Lerners und seines persönlichen Vorwissens befinden, sonst sind sie nicht „authentisch". Durch Interesse und Vorwissen ist der Anwendungsbezug gegeben. Da mehr als nur Sprache als solche gelernt wird, und darüber hinaus Information und Kommunikation im authentischen Sachzusammenhang stattfindet, ist auch eine ausreichende Motivation für den erheblichen Zeitaufwand gewährleistet. Das Internet mit seinen (themenbezogenen) Foren und Mailing-Listen – um nur zwei Beispiele zu nennen – und seiner vergleichsweise leichten Zugänglichkeit ist dementsprechend notwendiger Bestandteil des Sprachenlernens – will man sich nicht mit ein paar sprachlichen Formeln für den touristischen Alltag begnügen.

Die im Internet zu findende authentische sprachliche Kommunikation in ihren vielen kontextabhängigen Varianten ist durch ihre „schriftliche Verlangsamung" einer gründlicheren Analyse zugänglich als ein Gespräch im Vollformat einschließlich der lautlichen Komponente von Sprache und im visuellen Umfeld. Eine solche Analyse kann sich z.B. auf die Diskursebene beziehen, auf der die Ziele der Kommunikationspartner verortet sind. Die fehlenden sprachlichen Dimensionen der Internet-Kommunikation, Lautsprache und visuelles Umfeld müssen über andere Lernarrangements (z.B. in der angeleiteten Lerngruppe) abgedeckt werden. Neben dem beschriebenen Beispiel gibt es eine Reihe weiterer Lernaktivitäten mit dem Internet, z.B. zur Entwicklung des Leseverstehens, denn hierfür stehen für fast jedes Thema entsprechende Texte zur Verfügung, welche den individuellen Interessenbezug gewährleisten. Die Zeitinvestition, die notwendig ist, damit die sprachlichen Handlungen nicht nur exemplarisch und bewusst, sondern zunehmend auch beiläufig und unbewusst ausgeübt werden können, ist erheblich. In extensiven Kursen alleine ließe sich nie eine entsprechende Flüssigkeit erreichen. Selbststeuerungsphasen und angeleitete Gruppenphasen ergänzen sich somit in ihren Möglichkeiten. Die Verteilung der Lernziele auf die Phasen leitet sich aus fachdidaktischen Erfordernissen ab. Es reicht also nicht hin, eine Kombination von Präsenzlernen und einer Online-Komponente zu stricken, die den Teilnehmern die soziale Nähe einer präsenten Gruppe schafft – so wird „Blended Learning" im Allgemeinen definiert. Auf die differenzierte Didaktik eines Medienverbundes kommt es an.

Ein „Online"-Kurs (keine sehr glückliche Bezeichnung, da es durchaus auch „Offline"-Phasen geben kann), bei dem Lernen und Kommunikation ausschließlich über den PC/Internet und/oder E-Mail laufen, ist deutlich von den Verbundformen zu unterscheiden, auch was die Lernerakzeptanz bezüglich Neuer Medien angeht. Dementsprechend differenziert muss eine Wertung der verschiedenen Lernformen sein: „Online", wenn es die Umstände erfordern und es keine Alternative gibt; „Blended Learning" im beschriebenen Sinne (Lernen in der angeleiteten Gruppe und selbstgesteuerte mediengestützte Phasen), wenn man über rezepthaftes Sprachkönnen hinauskommen will.

Ein Vorteil des Beibehaltens einer angeleiteten Lerngruppe ist es, dass der Unterrichtende auf diese Notwendigkeiten und Möglichkeiten hinweisen kann. Er kann (und muss sogar) dafür werben und den richtigen Umgang mit dem Medium zeigen, denn das erforderliche selbstgesteuerte Lernen ist nicht voraussetzungslos. Sprach- und Sprachlernbewusstsein (eine differenzierte Vorstellung vom Ziel und dem Wie des Lernens) muss aufgebaut werden.

Also: Wenn die Umfrage ergibt, dass viele Lernende Neuen Medien skeptisch gegenüber stehen, dann ist nicht zu folgern: „dann lassen wir es eben". Vielmehr wird man mit differenzierenden Argumenten dafür werben müssen. Es ist die Pflicht des Fachberaters seinen Kunden gegenüber. Zum Glück sind Einstellungen nicht ein für alle Mal festgelegt und können sich wandeln – dies ist sogar das ausgesprochene Ziel vieler Bildungsprozesse. Je sinnfälliger die Argumente sind, desto leichter wird dieser Werbevorgang verlaufen. Die Änderung von Einstellungen braucht sicher seine Zeit. Aber ist nicht eine der größten pädagogischen Tugenden die Geduld?


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Dezember 2003

Gerhard von der Handt, Der Wunsch des Kunden und die Pflicht des Fachmanns.
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/12004/handt_03_zeit01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
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