DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Überraschende Lerner-Reaktionen beim Umgang mit Neuen Medien

Hans Giessen

Der Autor erzählt die Geschichte von zwei Lernertypen. Für beide bedeutet das Lernen am Computer eine neuartige Erfahrung. Das Überraschende ist: Was für die eine Person zum befreienden (entgrenzten?) Lernerlebnis wird, ist für die andere das Anlegen einer neuen Fessel. Während es für diese unerträglich ist, der maschinellen Logik des Rechners zu folgen, scheint es sich für jene positiv ausgewirkt zu haben, dass der Computer anonym war und gerade keine menschlichen Reaktionen zeigte, er also „anonymen und bestärkenden Einzelunterricht“ machte. Die Beispiele stammen aus einem Projekt des BLK-Modellversuchsprogramms zum „Lebenslangen Lernen“ (vgl. www.blk-lll.de/LLL/laender/saarlan1.htm ) und sind im Schulkontext gewonnen. Die präzisen Beobachtungen aber reichen aber weit darüber hinaus und sind auch im Hinblick auf das Lernen Erwachsener lesenswert.

Einleitung

Die folgende Darstellung fußt auf Beobachtungen, die im Rahmen des saarländischen Projekts innerhalb des BLK-Modellversuchsprogramms zum „Lebenslangen Lernen“ gesammelt worden sind. Programmträger war das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung; Projektträger waren die Volkshochschule des Stadtverbandes Saarbrücken in Kooperation mit dem Landesinstitut für Pädagogik und Medien und dem Saarländischen Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft. Ziel des Projekts war es schwerpunktmäßig, mediengestütztes Sprachenlernen mit lern- und bildungsbenachteiligten Jugendlichen erproben.

Zunächst: was sind ,Neue Medien’? Wir verstehen darunter ganz allgemein Kanäle und Produkte, die (1.) digital übermittelt werden, sowie (2.) Interaktivität und (3.) Multimedialität ermöglichen. Dazu zählt beispielsweise auch die Videokonferenz; im folgenden wollen wir uns aber auf den Computer beschränken – und dort auf Nutzungsformen, die eben interaktiv und multimedial sind. Die Arbeit mit solchen computergestützten Medien stellt eine besondere Chance der modernen Lerngesellschaft dar. Die Erfahrung zeigt, dass sie zumindest den anfänglichen Zugang und die Motivation erleichtern. Die Gründe dafür sind vielfältig; dies beginnt mit dem Image ,Neuer Medien’ als zeitgemäßer Form des Lernens und Arbeitens (insbesondere bildungsbenachteiligte Jugendliche dürften sich aufgewertet fühlen, wenn sie mit solchen Medien arbeiten können). Desweiteren ist es möglich, Lerninhalte mit ,Neuen Medien’ adäquater und zielgruppenorientierter zu erstellen, als dies mit ,alten Medien’ machbar war und ist. Aus diesem Grund schien es sinnvoll zu sein, zu untersuchen, wie ,Neue Medien’ adäquat als Lernmedien eingesetzt werden sollten, welche Vorteile sie haben, und natürlich auch, welche Nachteile gegebenenfalls auftreten können.

Der folgende Beitrag bezieht sich auf eine Untersuchung, die sich explizit auf die Mikroebene eines solchen Lernprozesses, also auf die Lernerperspektive konzentriert hat. Im Rahmen des Projekts wurde natürlich auch untersucht, welche Medien wie eingesetzt werden sollten oder welche Inhalte sich besonders für mediales Lernen eignen – und welche weniger. Es fiel jedoch auf, dass die Lernperspektive insgesamt (auch in der Literatur) bislang häufig noch stiefmütterlich behandelt wird; zumeist findet sie sich (nur) in Bezug auf spezifische Produkte (etwa im Sinn von Usability-Studien). Wir fanden in jedem Fall (bemerkenswerterweise) nahezu keine Aussagen, die allgemein die Prädispositionen der Lerner und die daraus resultierenden Konsequenzen für das mediengestützte Lernen thematisiert hätten. Dagegen fiel uns im Projektkontext auf, dass die ,Neuen Medien’ diesbezüglich ganz überraschende Wirkungen aufweisen können. So war ihr Einsatz gerade in Situationen beziehungsweise bei Personen durchaus unbefriedigend, bei den man ,eigentlich’ ein problemloses Arbeiten mit ,Neuen Medien’ erwartet hätte. Umgekehrt gab es ebenso überraschenderweise positive Effekte an gänzlich unerwarteter Stelle.

Da das Projekt überwiegend unterschiedliche Lernsettings variiert hat, waren quantitative Aussagen nur begrenzt möglich. Die folgende Darstellung beschreibt daher zwei individuelle Lernerbiographien, die mit Hilfe mehrer mehrstündiger Tiefeninterviews erarbeitet worden sind. Wir gehen davon aus, dass die dahinterstehenden Phänomene auch bei anderen Lernern auftauchen, ungeachtet der individuellen Situation beider dargestellten Personen.

Mediengestütztes Lernen: Individuelle Einschränkungen

Die erste Charakterisierung bezieht sich auf ein Interview mit einem 16-jährigen Schüler, der eine saarländische Gesamtschule besucht. Er ist kein schlechter Schüler, als Typus eher ruhig, kann aber auch ungehalten reagieren, wenn er sich langweilt oder etwas nicht versteht. Im ,normalen’ Unterricht beteiligt er sich regelmäßig, er meldet sich immer, wenn er etwas weiß, und das ist in fast allen Fächern häufig der Fall. Wird er aufgerufen und gibt er die richtige Antwort, zeigt er sich befriedigt, ohne auf die Mitschüler herabzusehen. In der Regel macht er seine Hausaufgaben gewissenhaft und gut. Insgesamt ist er ein Schüler, der von der Schule profitiert.

Der beschriebene Schüler war ebenfalls sehr motiviert, was die konkrete Projektarbeit betraf. Seine Motivation bezog sich aber ausschließlich auf die Projektinhalte. Vor dem Computer wirkte er gelegentlich geradezu unglücklich. Sein Problem war offensichtlich nicht, dass er mit Inhalten Schwierigkeiten gehabt hätte. Simples Recherchieren bereitete ihm keine Probleme, und wenn er ein Programm beherrschte, ging er damit souverän um und profitierte davon ebenso stark wie andere Schüler. Aber er hatte eine Abneigung dagegen, sich in neue Programme einzuarbeiten. Es war also der Computer selbst, mit dem er nicht zurechtkam oder zurechtkommen wollte. Der Schüler hatte keine Scheu, darüber zu reden. Da er sich recht gut ausdrücken kann, brachte er seine Abneigung auf den Punkt. Er sagte:

„Es überkommt mich manchmal eine große Leere, wenn ich vor dem Gerät sitze. Handbücher durchlesen, um dann ein blödes Programm langsam kennenzulernen, wo ich doch eigentlich etwas ganz anderes lernen will, das will ich nicht, das kann ich nicht. Ich verstehe Handbücher nicht. Und erst Recht verstehe ich nicht, was mir die Hilfe-Funktionen oder Einführungen der Programme sagen wollen. Ich sitze dann davor und bin unfähig, zu verstehen, was ich machen soll. Wenn mir aber der Lehrer oder mein Banknachbar sagt, was im Handbuch drinsteht, ist es kein Problem. Selbst wenn er es aus dem Handbuch vorliest, ist alles sonnenklar. Ich verstehe alles sofort und kann dann sehr schnell mit dem Programm arbeiten. Aber ich habe einen Widerwillen gegen das sogenannte selbstständige Lernen am Computer.“

Offensichtlich gibt es verschiedene Typen, die unterschiedlich gut mit dem Computer als Medium zurecht kommen. Wir kennen dieses Phänomen aus anderen Zusammenhängen: Es gibt Schüler, die große Schwierigkeiten mit Mathematik haben, während andere das Fach spannend finden. Man spricht deshalb auch davon, dass Mathematik ein ,Begabungsfach’ sei. Oder: Manche lernen fremde Sprachen am besten, wenn sie sie hören – das sind die auditiven Typen; andere müssen ein Wort sehen (die visuelle Typen), und wieder andere müssen es mit großen Gesten ausprobieren, um es behalten zu können (die Kinesthetiker). Ähnlich scheint es Schüler zu geben, die sich kreativ und schnell im Internet bewegen können, die beispielsweise mit dem Textverarbeitungsprogramm spannende Geschichten schreiben – deren geistige Strukturen aber Schwierigkeiten mit den Strukturen der Computerprogramme haben. Sie benötigen stets (und zumindest) einen ,Übersetzer’, ein ,menschliches Gegengewicht’.

Der Schüler, dessen Aussage protokolliert worden ist, hat stets und sofort den Lehrer zu Hilfe gerufen, wenn er Schwierigkeiten mit einem Programm hatte. Im Gegensatz zu manchem Mitschüler reizte es ihn überhaupt nicht, herumzuknobeln, wie ein Programm funktionierte. Er hatte „einen Horror davor“. Er wollte den Computer gerne anwenden, aber empfand es als eine „Selbstzweck-Beschäftigung, die mich einfach nicht interessiert“, wenn er sich mit den Strukturen von Computerprogrammen beschäftigen musste. „Wenn ich ein Buch lese, muss ich ja auch nicht wissen, wie es gedruckt worden ist – im Gegenteil: Wenn ich beim Lesen immer daran denken muss, ist das Lesevergnügen schnell futsch.“

Die Lust oder Unlust, mit dem Computer Neues zu entdecken, korreliert also nicht unbedingt mit der ,Intelligenz’ eines Schülers. Der genannte Schüler ist sicher nicht dumm. Aber der Computer ist für ihn ein Hindernis. Er ist nicht fasziniert, wenn er am und mit dem Rechner lernen muss. Wenn er ein Programm beherrschte, lernte er offenbar nicht anders, nicht schlechter als mit einem Buch oder mit Freunden. Wenn er sich aber in eine neue Lern-Software einarbeiten sollte, überkam ihn jedoch „das kalte Grausen, Leere, Verzweiflung – ich will das einfach nicht“.

Es gibt also Menschen, deren geistige Strukturen sich mit den Strukturen des Computer schwer tun. Ihnen muss die Möglichkeit gegeben werden, auch ohne Computer lernen zu können.

Mediengestütztes Lernen: Individuelle Chancen

Umgekehrt gibt es aber offenbar auch Schüler, die auf überraschende Art und Weise leichter mit dem Computer lernen. Im folgenden soll das Beispiel einer solchen Schülerin protokolliert werden. Die genannte Schülerin (aus einer anderen saarländischen Gesamtschule, ebenfalls 16 Jahre alt) war jedoch nicht in der Lage, ihre Situation zu reflektieren. Die Analyse bezieht sich auf diese Schülerin, weil – zusätzlich zu verschiedenen Gesprächen mit ihr – im Rahmen des Projekts und mit mehreren Lehrern besonders ausführlich über ihren Fall diskutiert wurde, so dass Aufzeichnungen auch über ihren persönlichen Kontext vorliegen. Auch hier kann aber festgestellt werden, dass ihr Fall für verschiedene Schülerinnen und Schüler charakteristisch ist; weitere Protokolle und Aufzeichnungen über entsprechende Einzelbeobachtungen bestätigen dies.

Die genannte Schülerin kam morgens stets pünktlich in die Schule und setzte sich dann ruhig an ihre Bank in der hindersten Reihe des Klassensaals. Sie saß immer alleine, wobei unklar ist, ob niemand neben ihr sitzen wollte oder ob sie selbst das so wollte. Vielleicht hatte sie es einfach nicht gewagt, sich neben jemanden zu setzen oder gar eine Mitschülerin oder einen Mitschüler zu fragen. Da sie immer pünktlich kam, fiel sie auch nie negativ auf; und da sie alleine saß, konnte sie auch mit niemandem schwätzen. Wenn man sie als ,Problemfall’ bezeichnen könnte, dann gerade nicht, weil sie den Unterricht stören würde oder gar aggressiv wäre. Im Gegenteil: Sie bewegte sich kaum, von sich aus sagte sie gar nichts. Auch Fragen beantwortete sie in der Regel nicht, sondern schaute mit gesenktem Kopf auf ihr Schulheft und hoffte, dass der Lehrer sich bald wieder von ihr abwenden würde. Wenn die Schülerin nach der letzten Stunde ihren Platz aufräumte und nach Hause ging, hatte sie an vielen Tagen kein einziges Wort gesprochen.

Die Schülerin hatte zuhause offenbar nie geistige Anregungen erhalten. Die Mutter war alleinerziehend und arbeitete als Putzfrau. Wenn sie zuhause war, machte sie in der Regel offenbar sofort das Fernsehgerät an, bis sie ins Bett ging. Am liebsten sah sie Talk-Shows und das Werbefernsehen – Nachrichten und Dokumentationen schien sie zu vermeiden, und sie sah sich auch nur Spielfilme an, die komödienhaften Charakter hatten. Es gab offenbar keine Zeitung im Haushalt. Mutter und Tochter schienen auch wenig Bekannte oder Freunde zu haben. In der Regel schienen sie gemeinsam zuhause zu sitzen und in die Glotze zu starren. Die Mutter kochte zwischendurch für beide ein Fertiggericht.

Die Mutter sorgte sehr dafür, dass ihre Tochter stets saubere Kleider trug, aber ansonsten konnte sie sich offenbar wenig um die Tochter kümmern. Sie kontrollierte keine Hausaufgaben und nahm auch von den Schulnoten keine Kenntnis. Sie konnte oder wollte nichts zu den Schulleistungen sagen, denn sie selbst hatte die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, und ihre Kenntnisse haben seither nur abgenommen.

Die meisten Lehrerinnen und Lehrer ließen das Mädchen in Frieden, denn sie wussten: Wenn sie etwas sagt, ist es falsch oder sinnlos. Und auch sie selbst wusste, dass sie, wenn sie den ,Mund aufmachte’, in der Regel schlechte Noten (von den meisten Lehrern) sowie Hohn und Spott (von den Mitschülern) erntete. Sie hatte offenbar Panikgefühle, wenn sie angesprochen wurde, so dass sie erst recht nichts Vernünftiges denken und sagen konnte. Sie konnte noch in der achten Klassenstufe nur gebrochen lesen.

Dabei war sie ein ,braves Kind’, wie alle Lehrerinnen und Lehrer bestätigten. Wenn sie sich den Fragen der Lehrer verweigert hatte, dann eben nicht, weil sie aufsässig gewesen wäre, sondern aus Unkenntnis und Angst. Sie gehorchte sofort, wenn zum Beispiel die Anweisung erfolgte, eine gewisse Seite im Schulbuch aufzuschlagen und dort etwas abzuschreiben. Allerdings: In der Regel schien sie dabei nichts zu lernen.

Interessant war nun, die Schülerin vor dem Computer zu beobachten. Wie üblich, saß sie alleine, und da die Gruppe klein genug war (und die Schule einen großen Rechnerraum hatte), konnte sie ihren eigenen Computerplatz haben. Die Frage, ob dies pädagogisch sinnvoll war oder nicht, ging im Rahmen der eingespielten Verhaltensweisen unter. Es war also eher Trägheit oder Zufall, dass die Schülerin alleine an einem Rechner arbeiten konnte.

Die Gruppe lernte, per Internet zu recherchieren, um jeweils kleine Präsentationen für die Mitschüler auszuarbeiten. Natürlich traute niemand der genannten Schülerin zu, diese Aufgabe zu lösen. Eher pro forma wurde sie als letzte, kurz vor Stundenende, gefragt, ob sie auch etwas berichten könne. Die Überraschung war groß, dass sie in der Tat den Computer erfolgreich zum Recherchieren genutzt hatte. Ihre Präsentation war sehr kurz, kürzer als die der meisten Mitschüler – aber korrekt. Sie schien dabei sogar etwas gelernt zu haben, denn sie konnte das, was sie im Internet gefunden hatte, nicht nur richtig wiedergeben, sondern dabei auch für sie offenbar neue Zusammenhänge erläutern.

Wie angedeutet, war es schwierig, festzustellen, warum sie plötzlich erfolgreich gearbeitet hatte und in der Tat auch Wissen erwerben konnte. Sie konnte sich schlecht ausdrücken, und es war ihr ganz unmöglich, ihre Reaktionen und Lernerfahrungen zu beschreiben. Trotz mehrer längerer Gespräche sind unsere Erklärungen also letztlich Mutmaßungen.

Zunächst scheint es sich für sie positiv ausgewirkt zu haben, dass der Computer anonym war und gerade keine menschlichen Reaktionen zeigte. Wenn sie etwa beim Eintippen des Suchbegriffs zu langsam war, wurde sie nicht gerügt, sah sie keinen abfälligen Gesichtsausdruck. Es gab keine Mitschüler, die hämisch kommentierten, dass sie ,eine Schnecke’ ist und ,unfähig’ und ,dumm’. Hier konnte sie in ihrem eigenen Tempo arbeiten. Und wenn sie einmal einen Suchbegriff falsch geschrieben hatte, fragte sie das Programm sogar, ob sie nicht etwas anderes gemeint hatte, und schlug ihr, ohne Vorwurf, die richtige Schreibweise vor. Der Computer war geduldig, er bewertete ihr Tun nicht. So konnte sie erstmals selbstbestimmt ihr eigenes Arbeits- und Lerntempo entwickeln.

Mit Menschen war ihr das nicht möglich, dort gab es nur Frustration und Angst. Deshalb konnte kein Lehrer erreichen, was der Computer quasi automatisch ermöglicht hat. Dies war aber erst die Voraussetzung dafür, dass sich ein weiteres Charakteristikum des Computers positiv auswirken konnte: die Interaktivität. Nicht nur, dass es keine negative Rückmeldung auf ihr Handeln in der Schule gab, dass sie also (in Ansätzen) erstmals selbstbestimmt arbeiten konnte – der Computer gab ihr umgekehrt sogar positive Rückmeldungen. Wenn sie eine Frage in die Suchmaschine eingegeben hatte, erhielt sie von der Maschine eine Reaktion, nämlich eine positive Antwort in Form vieler Links. Sie kam über einen Link sogar zu neuen Informationen, und da die vom Lehrer angegebene Suchmaschine Links ihrem Bezug zum Suchbegriff nach ordnet, konnte auch sie die für die Frage wichtigen Informationen finden. Sie hatte also erstmals regelrechte Erfolgserlebnisse.

Ähnliche Erfahrungen sammelte sie mit dem Programm Word, das ihr ihre Rechtschreibfehler ohne Rüge kenntlich machte und ihr auch Korrekturvorschläge übermittelte. Im Prinzip ermöglichte der Computer also nicht anderes als eine bestätigende Pädagogik. Im ,normalen’ Unterricht war dies aber offenbar nicht möglich. Dies geschah in der Regel der Fälle sicherlich nicht aus Boshaftigkeit, im Gegenteil empfanden die meisten Lehrerinnen und Lehrer die Schülerin als angenehmes Wesen, dem sie nicht Schlechtes wünschten. Sie ist einfach ein ganz banales Opfer unseres Schulsystems, denn sie würde offenbar einen Einzellehrer benötigen und müsste, zumindest zeitweise, vor den üblichen sozialpsychologischen Mechanismen der Mitschüler und des Schulalltags geschützt werden. Das ist in eben diesem Schulalltag kaum möglich, und so erschien ihre Situation unveränderbar. Erst der ,anonyme und bestärkende Einzelunterricht’ mit der Maschine konnte den Teufelskreis durchbrechen.

Zur realistischen Bewertung gehört die Einsicht, dass sich dennoch nicht allzuviel geändert hat. Es war kein Durchbruch, nur das Aufleuchten einer Möglichkeit. Zumindest innerhalb des Schuljahrs, in dem die Schülerin beobachtet werden konnte, beschränkten sich ihre Fortschritte auf kleine Arbeiten mit dem Computer – auf die Klassensituation und ihr Auftreten dort wirkte sich dies (noch?) nicht aus. Und auch am Computer musste immer einkalkuliert werden, dass sie selbst für scheinbar kleine, begrenzte Aufgaben außergewöhnlich viel Zeit benötigte. Tatsächlich wurden ihr in der Regel eigene Aufgaben zugewiesen, die sich im Anspruchsniveau und vom Bearbeitungsaufwand deutlich von denen der übrigen Schüler unterschieden. Hier aber konnte sie, wie gesagt, erstmals eigenständig, selbstbestimmt und erfolgreich Arbeiten und Lernen, in welch begrenztem Rahmen auch immer.

Der Computer kann, weil er anonym ist und (nur) positive Rückmeldungen gibt, Selbstvertrauen ermöglichen, das gerade bildungsbenachteiligten Schülerinnen und Schülern zumindest bezüglich des Lernens und der Schule häufig fehlt.

Bewertung

Individuelle Prädispositionen scheinen beim Lernen mit ,Neuen Medien’ eine ebenso große Rolle zu spielen (und möglicherweise ebenso viele oder gar noch mehr Varianten zu produzieren) wie beim ,traditionellen Lernen’. Auch dort hat es viele Jahre benötigt, bis die Pädagogik die entsprechenden Lernertypen erkannt hat; dass dies unterschiedliche Konsequenzen erfordert, ist bislang offenbar allzu oft noch immer nur theoretisch bekannt, wirkt sich noch immer allzu selten auf die Unterrichtspraxis aus. Von daher ist es kein Wunder, wenn vergleichbare Beobachtungen beim Lernen mit ,Neuen Medien’ auftreten – und noch weniger überrascht, dass dies bislang ebenfalls weitgehend unerforscht und ohne Praxisauswirkungen geblieben ist. Unsere Beobachtungen legen aber nahe, der Lernerdisposition im Kontext des Lernens mit ,Neuen Medien’ mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Insofern seien diese Beobachtungen als Aufforderung für weitere Forschungsaktivitäten verstanden.

In den beiden hier geschilderten Fällen scheint das entscheidende Kriterium in der Sozialkompetenz der betreffenden Schüler zu liegen; vermutlich gibt es noch weitere Kriterien. Bezogen auf die beiden Schüler lässt sich eine reziproke Korrelation zwischen Sozialkompetenz und erfolgreichem mediengestütztem Lernen beobachten. Dies scheint im ersten Beispiel nicht zwangsläufig zu sein; dagegen steht zu vermuten, dass dies im zweiten Beispiel quasi notwendigerweise der Fall war. Auch hier sind weitere Untersuchungen notwendig, um verallgemeinerbare Aussagen gewinnen zu können.

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
November 2004
Hans Giessen, Überraschende Lerner-Reaktionen beim Umgang mit Neuen Medien
URL: http://www.diezeitschrift.de/12005/giessen4_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp