DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

»Entgrenzung« in der reflexiven Moderne

Meditation über einen Schlüsselbegriff

Andreas Seiverth

Über Entgrenzung meditieren heißt, im Modus des Assoziativen über entgrenzte Katastrophen, entgrenzte Märkte, die entgrenzte Macht des Ökonomischen, entgrenzte Zuständigkeiten für Bildung, entgrenzte Lernzumutungen, aber auch die entgrenzende Kraft der entgrenzten weltbürgerlichen Bildung sprechen, über Perspektivöffnungen. Mit Rekursen auf Comenius und Ralf Dahrendorf möchte der Autor den »amoklaufenden Ökonomismus zur Besinnung kommen lassen«. Hierzu legt er die Entgrenzungsformel des lebenslangen Lernens als Totalitätskategorie aus und warnt vor der Überschätzung der Wirkungskraft manches zeitgenössischen Mythos.

Das Wort »Entgrenzung« kennt mein Word-Programm nicht, es wird als Fehler markiert. Ich müsste es also durch eine Ergänzungsoperation hinzufügen, um Wortschatz und Semantik auf die Höhe des Diskurses zu bringen. »Entgrenzung« ist kein Kunstwort, aber bislang ein Fremdwort im Selbstverständigungs- und Explikationsdiskurs der Erwachsenen- und Weiterbildung. Das ist in benachbarten sozialwissenschaftlichen Diskursen anders. Wie zur Erläuterung und Begründung der Aktualität unseres Themas hat Ulrich Beck (und Jörg Lau) gerade einen umfänglichen Band mit dem Titel: Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? (Frankfurt/M. 2004) veröffentlicht. Becks Veröffentlichung ist deshalb interessant, weil er 1986 mit seinem Klassiker Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne (Frankfurt/M. 2003) die theoretische Ouvertüre und die ersten empirischen Begründungen zum Thema Entgrenzung geliefert hat. Als hätte die Theorie darauf gewartet, verifiziert zu werden, liest sie sich nach der Tschernobyl-Katastrophe (26. April 1986) als »platte Beschreibung der Gegenwart«. Der radioaktive Fallout demonstrierte und vollzog in souveräner Ignoranz gegenüber geografischen, staatlichen und ideologischen Grenzen, nur dem Wind und dem Wetter gehorchend, einen ersten brutalen und lange wirksamen Prozess der Entgrenzung; aus einem lokalen Ereignis wurde eine kollektive, grenzüberschreitende Bedrohung.

Die Erfahrung dieser Katastrophe ist für mich zur wirklich ersten bewusst wahrgenommenen Entgrenzungserfahrung geworden und bildet den Hintergrund für meine persönliche Überzeugung, dass es beim Begriff Entgrenzung nicht um eine zwanghafte semantische Modernisierung geht, sondern in der Tat um nichts weniger als den Versuch, »die Zeit in Gedanken zu fassen« (Hegel), und diese damit »reflektierend« zu begreifen. Ich verstehe ihn deshalb als philosophischen Begriff, mit dem wir vieles von dem, was uns »betrifft«, auch in der Erwachsenen- und Weiterbildung besser begreifen können. Dies ist der Impetus und die Voraussetzung dieser assoziativ verfahrenden Meditation – und dass ich die Freiheit habe, diese der religiösen Praxis entlehnte Denkübung und Haltung hier einzunehmen, mag als Beleg dafür gelten, dass auch unsere sprachlichen und intellektuellen Verständigungs-, Denk- und Mitteilungsformen offener, flexibler und eben »entgrenzter« werden müssen. (In systematischer Absicht und in diskursiv angelegter Argumentation habe ich das Thema »Entgrenzung« dargestellt in Seiverth 2002.)

Ein Begriff, unsere »Zeit in Gedanken zu fassen«

Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauungen ohne Begriffe aber sind blind. Es soll deshalb an historische und politische Modellerfahrungen erinnert werden, die dem Begriff empirischen Inhalt und sachliche Bestimmtheit geben. Jan Amos Comenius (1592–1670) hat eines seiner berühmtesten Bücher (»orbis pictus sensualium«) mit einer Abbildung versehen, in der ein Mensch die Grenzen des Erkenntniskosmos buchstäblich durchbricht und in den unbegrenzten Kosmos blickt. Blick- und Horizonterweiterung verlangen Grenzverschiebungen und Grenzöffnungen, die mit Risiken und Erwartungen verbunden oder von ihnen auch motiviert sind. Das Bild und der darauf abgebildete Akt der Perspektivöffnung hatte bei Comenius nicht nur eine illustrierende Funktion für die Wissens- und Erkenntnisneugier des Menschen, sondern sollte auch den Übergang zu einem theologisch fundierten, enzyklopädischen Wissensbegriff und einem universalistischen (in seiner Sprache »pansophischen«) Denken zeigen, in dem die Welt des Menschen gleichsam von außen, aus einer göttlichen Perspektive wahrgenommen werden soll.

Von Comenius und seinem Denken ist aber auch auszugehen, weil er ein Repräsentant der Epoche des ersten gesamteuropäischen und in gewisser Weise eines ersten Weltkrieges war, dessen Verwüstungen und Zerstörungen, dessen Greueltaten und Traumatisierungen in einem System souveräner Territorialstaaten »aufgehoben« wurden, durch das zumindest die innergesellschaftlichen Konflikte allmählich auf eine Bahn des zivilisierten Ausgleichs gebracht werden konnten. Spätestens seit dem neuen welthistorischen Epochenjahr 1989 werden wir Zeugen des Endes dieses Systems »souveräner Territorial- und Nationalstaaten«, wie es im Westfälischen Frieden (1648) besiegelt und seither als Grundlage der europäischen Staatenwelt vorausgesetzt wurde. Damit sind »Souveränität«, »Abgrenzung« und »absolute Gesetzgebung« zu den fundamentalen, prinzipiell »nicht-metaphysischen« Bestimmungen des Politik- und Weltverständnisses in Europa geworden. Die revolutionäre Selbstbegründung der demokratischen Verfassungsstaaten brauchte als metaphysische Restanleihe nur noch die »unveräußerlichen Menschenrechte« und als politisches Prinzip die »Volkssouveränität«, um jenes Ordnungsgefüge zu etablieren, in dessen Rahmen sich die Dynamik kapitalistischer Produktionsverhältnisse entfalten konnte. Dass der Kapitalismus die »souveränen Nationalstaaten« nur für funktional begrenzte Zwecke brauchte, sie andererseits aber bereits als Grenzen eines schrankenlosen Weltmarktes erfuhr, ist bereits im »Kommunistischen Manifest« zweihundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden (1848) in literarisch unüberbietbar-expressionistischer Form artikuliert worden; es ist das erste »Globalisierungsmanifest«, dessen ökonomischer prognostischer Gehalt sich in dem Augenblick bestätigt, in dem sein politischer Gehalt – die Vision einer »Diktatur des Proletariats« – glücklicherweise historisch begraben wird.

Um traditionelle Denkgebäude und scheinbar unverrückbare Ordnungs- und Machtgefüge zum Einsturz zu bringen, bedarf es schon lange nicht mehr der organisierten Macht der Bajonette und Gewehre. Der unwiderstehliche Charme technischer Erneuerungen und die lautlose Macht der Kapitalbewegungen sind inzwischen die weit wirkungsvolleren und in der Tat auch »humaneren« Wirkungsmächte, die das Gesicht der Welt und unser Bild von ihr verändern. Sie kennen keine Grenzen mehr und überführen die Ideen einer Erziehung in »weltbürgerlicher Absicht« (Kant) und des »Menschengeschlechts« (Lessing), jenen noch utopischen Kosmopolitismus der Aufklärung, der Menschenrechte und des deutschen Bildungsidealismus, in »maßgeschneiderte Bildungsangebote« zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen.

»Alte Gegensätze zu neuer Harmonie gezwungen.«

Der Kosmopolitismus des Kapitals entfaltet so seine zivilisierende und destruktive Kraft und erweist sich als die produktive Entgrenzungsdynamik der Gegenwart, die gerade in den Denkfabriken der Wirtschaft dazu inspiriert, Bildung »neu zu denken« (»Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt« lautet der Titel einer gemeinsamen Studie der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft e.V. und der Prognos AG von 2004). In diesen Fabriken artikulieren sich gleichsam aus der globalen Aktions- und Beobachtungsperspektive »der Wirtschaft« (die sich schon lange zum selbstverständlichen und selbstredenden Subjekt erklärt hat) die bildungspolitischen Reformforderungen, durch die mit souveräner Geste die alten Gegensätze von allgemeiner und beruflicher Bildung, von individueller Selbstverantwortung und ökonomischer Abhängigkeit, von staatlicher Finanzierungsverantwortung und pädagogischer Autonomie aufgehoben und zu neuer Harmonie gezwungen werden.

Das Dilemma, das sich daraus für die allgemeine und auch die politische Bildung und speziell für die Erwachsenenbildung ergibt, gleicht dem Wettlauf zwischen Hase und Igel: Indem die ursprünglich emanzipatorisch codierten Semantiken der Erwachsenen- und Weiterbildung zum frei verfügbaren Vokabular der Bildungs(reform)debatte mutiert sind, kann »die Ökonomie« ihr vergnügtes »Bin-schon-da« der hoffnungslos sich selbst antreibenden und ermutigenden Bildungsreformdiskussion entgegenrufen.

»Mündigkeit«, »eigenständiges Leben«, »individuelle Selbstbestimmung«, »völlige Selbstverantwortung« – genau das brauchen wir und eben das fordern wir als die neuen Prinzipien der Bildung und ihrer neuen institutionellen Verfassung. Für diese wird – wie in anderen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen des Sozialstaates auch – der Rückzug des Staates gefordert, damit sich das selbstverantwortliche Individuum zukünftig die Bildung kaufen kann, die es – wofür auch immer – braucht.

Die Forderung gegenüber dem Staat und dem Individuum fällt der grande dame Ökonomie umso leichter, als sie weiß, dass die wahre Tagesordnung des Bildungsdiskurses ohnehin primär durch die leeren Kassen diktiert wird – woran sich zugleich eine spezifische Variante von »Diktatur« studieren lässt. Um aber einer anderen ökonomischen Wahrheit etwas die Reverenz zu erweisen, sollte man in diesem Kontext doch auch von den »leer gemachten Kassen« sprechen und von dem Umstand, dass sich die Kosten einer verlustreichen »Übernahmeschlacht« eines internationalen Kommunikationskonzerns zwar auf die Kleinigkeit eines Jahresdefizits des Bundeshaushaltes summieren, dass sie sich aber im Laufe der nächsten Jahre eben diesem Bundeshaushalt als »negative Ersparnisse« – zu Deutsch: als Unternehmensverluste und Steuerausfälle – zuschreiben lassen.

Mit Hilfe der Bildungsökonomie kann seit kurzem ein lange übersehenes Aschenputtel unserer öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit – endlich! – zu Ehren kommen: das »lebenslange Lernen«. Die »unabhängige Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens« hat nämlich in ihrem jetzt vorgelegten Schlussbericht genau vorgerechnet, dass sich Investitionen ins Humankapital tatsächlich lohnen und dass sich ihre Rendite sogar berechnen lässt. Zumindest dieses (und wenn nicht dieses, welches dann überhaupt?) Argument aus der betrieblichen Buchhaltungslogik wird nun sicher auch die hartgesottenen Ökonomen erweichen und sie zur Einsicht bringen, dass die Erwachsenen- und Weiterbildung, jetzt aber unter dem Obertitel »Lebenslanges Lernen«, gefördert werden muss. Denn mit diesem Konzept ist der ultimative Schlusspunkt unseres Bildungsdenkens erreicht.

LLL – »Entgrenzungsformel und Totalitätskategorie«

Das »lebenslange Lernen« ist – wie »die Globalisierung« die ökonomische – die »pädagogische Entgrenzungsformel« schlechthin. Sie enthält allerdings auch die Gründe, warum sich der Begriff nicht feiern und nur schwer vermarkten lässt. Es ist nicht nur die hinlänglich ausgeschlachtete fatale Assoziation des »lebenslänglich«, an der sich die semantische Zähigkeit des Begriffs zeigt. »Das Leben« hatte es auch als philosophischer Begriff bei seiner Einführung vor etwa hundert Jahren (ausgehend von Nietzsche, Dilthey und Bergson) schwer, sich gegenüber der Bewusstseins- und Rationalitätsphilosophie durchzusetzen. Damals trat er als kritischer (Kampf-)Begriff der Jugendbewegung auf und hatte alle Mühe, den Makel des Irrationalismus abzustreifen. Mehr als hundert Jahre haben aber zur Ernüchterung ausgereicht, um nun als gefahrlose Totalitäts- und Integrationskategorie im bildungspolitischen Diskurs verwendet werden zu können. Es geschieht dies just in der Phase, in der alle Varianten – zerstückelnder – tayloristischer Theorie und Praxis sowohl in der Managementlehre als auch in den Organisationstheorien durch »systemische Konzepte« und durch den Rekurs auf »Ganzheitsforderungen« ersetzt werden. Seit auch in der Ökonomie der »ganze Mensch« und insbesondere seine »kreativen Potenziale« gefragt sind und gebraucht werden, können und müssen traditionelle Lerngrenzen (z.B. des Alters) ebenso beseitigt werden wie traditionelle Lernkonzepte.

Die Wirkungskraft von Mythen sollte auch in der Bildungsdebatte weniger unterschätzt werden, denn im Zeichen des »Leitmythos Globalisierung« werden sich auch die Koordinaten des Bildungssystems weiter verschieben. In solchen Augenblicken ist aber umso mehr eine Hellsicht und Geistesgegenwart eines wirklich liberalen Zeitdiagnostikers vonnöten, die im reduzierten Diskurs der Bildungsökonomie nicht möglich ist, weil sie ihn vielleicht sogar irritieren könnte. Ralf Dahrendorf schrieb schon 1996:

»Die vielleicht schwerwiegendste Folge der mit Flexibilität, Effizienz, Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität einhergehenden Werte ist die Zerstörung der öffentlichen Dienste. Der Begriff sollte eigentlich differenziert werden: Gemeint ist die Zerstörung öffentlicher Räume und der damit einhergehende Niedergang der entsprechenden Werte. Dem herrschenden Grundsatz von Zuckerbrot und Peitsche folgend, hat man jene Motive zuerst ignoriert und dann attackiert, die Menschen veranlassen, Dinge zu tun, weil sie richtig sind, oder auch weil sie ein Pflichtgefühl besitzen oder Engagement. Die Einführung pseudo-ökonomischer Motive und Kriterien in den öffentlichen Bereich beraubt diesen seiner wesentlichen Merkmale. Das staatliche Gesundheitswesen, das Recht auf Bildung, das garantierte Mindesteinkommen werden im Namen eines amoklaufenden Ökonomismus geopfert« (Dahrendorf 1996, S. 18).

Damit er zur Besinnung kommen kann, bedarf es der zwar schwachen, aber nicht ganz haltlosen Hoffnung auf eine »weltbürgerliche Bildung«, für die es Ansätze und Modelle gibt, die »Spielräume der Erneuerung und Ermutigung« eröffnen (vgl. Ruf/Seiverth 2004, S. 78). Und Comenius hat in seinem Hauptwerk, der Summe seiner theologischen, politischen und pädagogischen Gedanken, den ersten Entwurf einer »universalen Bildung« als Konzept eines alle Lebensstufen des Menschen begleitenden Lernens entworfen; die »Pampaedia« steht dabei im Zentrum der Gesamtkonzeption (vgl. Hofmann 1970). Auch das wäre »Entgrenzung«.

Literatur

Dahrendorf, R. (1996): Die Quadratur des Kreises. In: Transit, H. 12, S. 5–28

Hofmann, F. (Hrsg.) (1970): Jan Amos Komensy´: Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge. Berlin

Ruf, A./Seiverth, A. (2004): Globales Lernen in der Evangelischen Erwachsenenbildung – Zwischenergebnisse eines Konsultationsprozesses (Beiheft zu Forum EB). Frankfurt/M. (DEAE)

Seiverth, A. (2002): Neue Beweglichkeit in der Weiterbildung – Was heißt und wohin führt Entgrenzung? In: Ders. (Hrsg.): Am Menschen orientiert – Re-Visionen Evangelischer Erwachsenenbildung. Bielefeld, S. 561–576

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
November 2004
Andreas Seiverth,»Entgrenzung« in der reflexiven Moderne
URL: http://www.diezeitschrift.de/12005/seiverth04_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
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