DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Epiphanie des Bildungs-Glücks

Roger Willemsen über durstige Lerner und traurige Weise

Roger Willemsen - Foto: Brigitte Bosche

Roger Willemsen (50) ist als Fernsehmoderator in den 1990er Jahren – u.a. mit »Willemsens Woche«* im ZDF – einem Millionenpublikum bekannt geworden. Seit einigen Jahren ist der promovierte Literaturwissenschaftler als Essayist, Regisseur und Buchautor tätig. Geschätzt wird er als scharfsinniger Beobachter des Alltags (»Deutschlandreise«), als Kulturkritiker und als einer, der Gesprächspartnern stets mit großer Wertschätzung entgegen tritt. DIE-Redakteur Peter Brandt befragte den Bestseller-Autor und Grimme-Preisträger zu »Bildung und Glück«. Wie kein anderer kann Willemsen Brücken schlagen zwischen ambitioniertem Bildungsanspruch und der Bewährung hochkultureller Errungenschaften im ganz normalen Leben mit seinen erfreulichen und unerfreulichen Seiten.

DIE: Herr Willemsen, gab es in Ihrer Bildungsbiographie Glücksmomente?

Willemsen: Ja, zahlreiche. Begegnungen mit Büchern, bei denen ich durch die Zähne gepfiffen habe, weil sie so gut geschrieben oder so komprimiert waren oder weil ich permanent glaubte, ich wachse mit denen. Teilweise durch bizarre Umstände verursacht: Ich habe angefangen zu lesen mit fünf und hatte mit zwanzig das Wichtigste gelesen, was ich in meinem Leben lesen musste. Und warum? Weil ich meiner Mutter, die Schneiderin war, immer vorlesen musste, mehrere zehntausend Seiten, immer laut vorgelesen. Auf diese Weise habe ich noch jetzt eine ganz präzise Erinnerung an Thornton Wilder, Thomas Mann und sicher die Hälfte der Romane von Dostojewski. Was die Schule dann tat, das war nur noch, das zu differenzieren und in Ausläufern zu erhellen, die mir selber weniger interessant erschienen waren. – Später war ich hier in Bonn zweieinhalb Jahre lang Nachtwächter aus dem einfachen Grund, weil man dann zwölf Stunden lesen konnte und dabei auch noch Geld verdiente; ich machte zwischendurch einen Rundgang und dann las ich weiter. Ich habe pro Nacht 400 bis 500 Seiten gelesen. – Aber ich sollte mich gar nicht so auf Bücher konzentrieren; ich erinnere mich, dass ich einen simplen Ablauf der arabischen Philosophie in der Spätmittelalter so rasant gefunden habe, dass ich ihn heute noch referieren könnte, obwohl es nur um die Zeit zwischen 1300 und 1500 ging. Also, das Glück des Erkennens und auch das Glück der eigenen Orientierung, das habe ich häufig gehabt.

DIE: ... alles keine Momente in einem organisierten pädagogischen Kontext. Gab es da keine Glücksmomente?

Willemsen: Doch, es gibt den pädagogischen Eros; ich vermittele sehr gerne, versuche Dinge aufzubereiten, reichere sie durch Enthusiasmus an, sonst bleiben sie meistens unbelebt. Das macht das Lehren für mich sehr anstrengend, aber gleichzeitig auch sehr erfüllend.

DIE: Wo sind oder waren Sie lehrend tätig?

Willemsen: Ich war Dozent für Literaturwissenschaft in München und habe parallel in der Erwachsenenbildung unterrichtet – die Eltern meiner Studenten. Es gibt so etwas wie das »Glück der Vermittlung«, wenn man Wege bahnt. Oft ist man prägender, als man selber meint. Für mich war das ein gut gemachtes Seminar, und für die Lernenden waren es zum Teil Schlüsselstellen; sie haben sich daraufhin entschlossen, dieses oder jenes neu zu versuchen.

DIE: Es ist interessant, dass Ihnen Glücksmomente in einem organisierten pädagogischen Kontext ausgerechnet aus der Perspektive des Lehrens und nicht des Lernens in den Sinn gekommen sind.

Willemsen: Böse, böse ... Es hat sie dann und wann aber auch in der Schule gegeben. Ich habe einen Musiklehrer gehabt, der uns in die Musik des 20. Jahrhunderts eingeführt hat. Wir haben komponiert und sind aufgetreten im Bonn-Center mit James-Joyce-Texten in einem Arrangement für zwei Querflöten, Naturgeräusche und ein Xylophon. Das war Hörbildung pur. Das Hineinstaunen in künstlerische Zusammenhänge, die letztlich immer diffiziler werden, das ist Glück. Das sind Landschaften, in die man treten kann.

DIE: Was könnte, abstrakt formuliert, das Glück der Bildung sein?

Willemsen: Ich glaube, dass Bildung im Grunde genommen die Kräfte beschränkt, die einen unterdrücken. Man hat einen gewissen Orientierungsvorsprung in dem Augenblick, in dem man sich nicht allem unterworfen fühlen muss, sondern Dinge erkennt, in ihrer kausalen Herleitung, in ihrer Geschichtlichkeit begreifen kann, indem sie nicht isoliert, sondern in kulturellen Zusammenhängen erscheinen können oder in religiösen oder in ethischen. Je mehr ich davon weiß, um so weniger wird es mich einschränken. Böse gesagt: Der Lebensraum des ungebildeten Menschen, wenn wir uns den einmal als Konstrukt vorstellen, der muss ja eigentlich so sein, dass er unablässig im Sehen, im Denken, im Wahrnehmen auf Ablehnung stößt, weil es immer nur sagt, du verstehst mich nicht, oder ich verstehe dich nicht, ich kann dich nicht erklären, ich durchschaue deine Gesetze nicht, ich begreife dein Wesen nicht. Sage ich aber jetzt, ich weiß, an welchem Platz wir uns befinden, ich weiß, wer hier gesessen hat oder so, dann wird jeder Raum expansiv wahrgenommen. Ich würde immer denken, dass dieser alte Begriff Entfremdung letztlich immer noch das Gegenüber dessen ist, was wir Bildung nennen würden. Bildung strebt ja auch immer an, den mündigen Menschen hervorzubringen. Bei Kant heißt es, Erziehung sei die Emanzipation vom infantilen Bann. Das meint etwas Ähnliches. Infantiler Bann heißt, das Kind, das allem unterworfen ist, das nichts versteht und sich alles erst aneignen muss, das ist im Grunde nach diesem Konzept der unfreieste Mensch. Und der Mensch wird durch seine Vernunft frei in dem Augenblick, in dem er nicht mehr allem unterworfen ist, sondern begreifen kann, es erklären kann, es zu etwas Subjektivem gemacht hat. Das ist eine Form von sublimem Glück; ich würde es viel­leicht eher durch »Souveränität« ersetzen oder durch »Mündigkeit«. Ich weiß nicht, ob der Begriff Glück überhaupt anwendbar ist darauf, denn Glück hat auch eine motorische Seite, das kann auch durch Muskelspannung ausgelöst werden oder durch heftiges Joggen ...

DIE: Das kann ja durchaus auch in Erkenntnisprozessen eine Rolle spielen, dieses plötzliche Glück in Momenten höchster Konzentration und Andacht.

Willemsen: Ja, das wäre ein Gegenkonzept zu dem des regelmäßig wachsenden, des allmählich mündig werdenden Individuums, das immer auch noch die Vorstellung der universalen Bildung, des Naturverständnisses propagiert – des rationalen Verstehens und auch der Einfühlung. Das Konzept des plötzlichen, emphatischen Aufschwunges, den Joyce als »Epiphanie« bezeichnet hat, tritt Anfang des 20. Jahrhunderts an mehreren Stellen der Literatur auf – ohne dass die Autoren voneinander wissen. Sie artikulieren einen völlig neuen Glückstypus. Der wird dann als mystische Verschmelzung mit Gott identifiziert – in »Lord Chandos’ Brief« von Hofmanns­thal werden sie das finden – oder bei Benjamin oder bei Proust in der berühmten »Madeleine-Episode«, wo Raum und Zeit zusammenfließen in dem Augenblick, in dem ein Sandgebäck in eine Tasse Lindenblütentee getaucht wird und plötzlich alle Bilder, die je­mals in diesem Madeleine-Törtchen gespeichert waren, befreit werden. Das ist schon auffällig. Da hat kulturell, glaube ich, eine Erosion stattgefunden: dass plötzlich das bürgerliche Glück, das bei Wilhelm Raabe noch bis in die Zehner-Jahre fortlebt, abgelöst wird von diesen »momenta«.

DIE: Welche Rolle kommt denn der Bildung zu im Hinblick auf dieses unfassbare, epiphanische Glück?

Willemsen: Sehr berechtigte Frage, weil dieser zweite Glückstypus den Begriff Glück aus dem Begriff Bildung herauskatapultiert. In diesen Momenten augenblickshaften Zusammenfahrens von Glück und Erkenntnis wird die Welt als das erkannt, was sie eigentlich ist. Und dieser Akt des Erkennens wird als geschenkt, als vermittelt erlebt, ohne dass man ihn vorbereiten oder sich erarbeiten könnte. Insofern gehen Formen von Wahrheit, die man durch Bildung glaubt akkumulieren zu können, hier ins Leere. Aber wahrscheinlich würden Joyce oder Proust jetzt sagen, es gehört eine gewisse Verfügung über die eigene Geschichte dazu, über die Vergangenheit des eigenen Erfahrens. Bei Proust würde das heißen, dass jemand, der die Bewusstheit für die eigene Geschichte nicht mehr hat, eine Epiphanie dieser Art nicht wird erleben können.

DIE: Und dann wäre der Beitrag der Bildung, eine Sensibilität dafür zu schaffen?

Willemsen: Richtig. Für den Umgang mit der eigenen Geschichte, der eigenen Biographie. Ein Dilemma unserer Bildung besteht glaube ich darin, dass sie sich kanonisch organisiert, aber keinen Zugang zu den Erfahrungen der Lernenden herstellt. Alles, was Curriculum ist, oder alles, was literarischer Kanon in Schulen ist, ist Ausdruck großer Verlegenheit vor der Primärerfahrung. Ich würde ja erst mal einen Lehrer brauchen, der seine eigene Gegenwart so präzise beobachtet, dass er letztlich über Mode, Kultur, Street Wear und Popgeschichte wenn schon nicht Bescheid weiß, sie doch zumindest zur Kenntnis genommen hat. Und dass vor diesem Horizont einer erkennbar sich verändernden Wirklichkeit auch so etwas wie Bildung erst definiert wird und in dem Augenblick erst entschieden wird, welche Bücher diese Situation beantworten.

DIE: Die Erwachsenenbildung ist hier vielleicht schon einen Schritt weiter. Ich nenne nur die Stichworte Teilnehmerorientierung, Erfahrungsbezug und Lernberatung. In der Weiterbildung ist im Moment Thema, dass Lernprozessen eine ordentliche Lernberatung vorausgeht, die erheben will, was die Lernenden eigentlich wollen, und so das Individuum noch stärker in den Mittelpunkt stellt. Auch wenn Sie jetzt erst mal kritisch geguckt haben, als ich das Wort »Lernberatung« ausgesprochen habe: Es geht darum, die Lerner dazu zu bringen, zu reflektieren, was sie lernen wollen und wohin sie sich entwickeln wollen und warum.

Willemsen: Mir fällt dazu ein – und das ist nicht übertrieben: Als ich Dozent in München war, haben 50 Prozent aller Studenten, die in die Sprechstunde kamen, die identische Frage gehabt: »Wofür soll ich mich interessieren? Sagen Sie es mir!« Und unter solchen Voraussetzungen wurden auch Magisterarbeitsthemen vergeben. Am Ende landete man wieder beim schulischen Kanon, weil es das einzige Gebiet war, wo sich die Studenten gut orientieren konnten. Dieselben werden Deutschlehrer, auf dieser Basis. Also, dieser Zirkel ist trostlos. Und da war das Schwierigste eigentlich, so etwas wie ein Ich zu etablieren. Nämlich zu sagen – und das könnte mit der Lernberatung gemeint sein: Frage dich, was du selbst mit deiner psychologischen Individualität brauchst, an welchen Stellen Bildung dich ergänzt, vervollständigt, dich steigert oder zu eigener Produktivität anregt. Diese Ansprüche werden von Studenten normalerweise gar nicht erhoben. Also, es wird nicht danach gefragt: Könnte diese Arbeit etwas mit mir zu tun haben? Statt zu sagen, es ist ein Privileg, ein halbes Jahr lang sich mit einem kulturellen Gegenstand auseinander zu setzen und daraus Nektar zu saugen, wird viel eher gefragt: Wo bringt mich diese Arbeit hin? Was kann ich damit machen?

DIE: Bildung würde dann instrumentalisiert für das individuelle Glück.

Willemsen: Ja, ein solches instrumentelles Verständnis ist durchaus verbreitet, es findet sich in allen Parolen, bis hin zu »Bildung ist Macht« – die Vorstellung, dass man Bildung erwirbt, um eine Überlegenheit herzustellen. Das kann es nicht sein. Da hat, finde ich, die Frankfurter Schule Recht, wenn sie sagt, alles Entfremdet-Instrumentelle im Bereich der Kunst oder des Kulturerwerbs ist letztlich Unkunst, unkulturell. Aber so funktioniert Bildung ja auch nicht: Man erwirbt Erfahrung nicht, um ein Werkzeug aus ihr zu machen, und: Sie macht nicht glücklich. Sie macht jedenfalls nicht in der Weise glücklich, wie sich das jemand vorstellt, der sagt, Bildung stellt Freiheit oder Glück zur Verfügung. Das macht sie erstmal nicht. Bildung macht in vielerlei Hinsicht trauriger. Mir fällt dieser Satz von Lord Byron ein, ein Generalnenner für Vieles:

»They who know the most
Must mourn the deepest
o’er the fatal truth,
The Tree of Knowledge
is not that of Life«.

Also: Der Baum der Er­kenn­t­nis ist kein Lebensbaum. Wie viele heitere Philosophen kennen wir? Eine Handvoll vielleicht. Und die entstammen der hellenistischen Vergangenheit, und die haben wir uns glücklich gedacht. Aber eigentlich ist der Weise in Trauer, im selben Prozess, indem er Welt versteht.

DIE: Ist das Glück (oder Unglück) der Bildung nur ein hochkulturelles Thema?

Willemsen: Ich glaube, dass es so etwas wie genuine Bedürfnisse gibt, sich zu transzendieren; ich habe im Dschungel von Borneo Kinder getroffen, die lasen und sich nicht für Rambo interessierten, der die Kinos auch da erreicht hatte. Oder in Afghanistan habe ich erlebt, dass die Kinder mit einem Hunger auf Bildungsgüter reagiert haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Gesichtsausdruck da 30, 70 Kinder in der Klasse sitzen und den Schulunterricht verfolgen. Sie nehmen an jedem Wort, das vom Lehrer kommt, Anteil. Sie erkennen an der Tafel Dinge wie­der, die in ihrer Realität eine Rolle gespielt haben und die jetzt handhabbar werden: Diese Mine ist gefährlich und jene ist weniger gefährlich, da darf ich nicht in die Nähe und die darf ich so­gar hochheben. Das ist ein instrumentelles Wissen, natürlich. Aber das Wichtigste dabei ist das Erkennen der eigenen Wirklichkeit.

Rober Willemsen und Peter Brandt

DIE: Ich kann mir schwer vorstellen, dass dieser Durst in mancher deutschen Hochhaussiedlung ähnlich ausgeprägt sein sollte.

Willemsen: Tja, gegen die sozialen Kräfte, die das verhindern, ist kein Kraut gewachsen. Trotzdem: Was glauben Sie, warum Menschen so viel reisen und so viel Reiseführer kaufen, wenn nicht klar wäre, dass eine Reise schöner wird in dem Augenblick, wo man versteht, wo man ist? Unabhängig von der sozialen Herkunft eint die Leute das Interesse, mit dem Reiseführer durch die Stadt zu gehen. Alle werden versuchen, alle anderen zu informieren über das, was sie wissen über den Ort. In Reisen ist die Bildungsreise immer schon verkapselt. Bildung steigert die Souveränität im Umgang mit den Dingen, und Sprachverleihung ist ein Akt von Souveränität. Glück vielleicht im Sinne von ­Wiedererkennen. Stellen Sie sich vor, Sie treten auf den zentralen Platz von Siena. Sie können sagen, wann dieser Platz gebaut wurde, wissen, warum er aus rotem und weißem Marmor und Sandstein gebaut wurde. Sie stehen vor diesen Dingen begriffslos, aber können sie benennen, sie in ihrer Geschichte verfolgen. Das ist der Traum vom sublimen Glück.

DIE: Vielen Dank, Herr Willemsen.

* Vgl. hierzu: Seitter, W. (1997): »Willemsens Woche«. Die Talkshow als Ort pädagogisch strukturierter Wissensvermittlung und biographischer (Selbst-)Präsentation. In: Behnken, I./Schulze, Th. (Hrsg.): Tatort: Biographie. Spuren, Zugänge, Orte, Ereignisse. Opladen, S. 117–135