DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Stichwort »Alphabetisierung«

Sabina Hussain

Seitdem die Erklärung der Menschenrechte 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, fördert insbesondere die UNESCO die Alphabetisierung (engl. literacy) als Fundament für Bildung und Lebenslanges Lernen. Dass Analphabetismus auch in Industrieländern und nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern vorkommt, ist spätestens seit Ende der 1970er Jahre bekannt. Die beständige internationale und nationale Brisanz dieses Themas spiegelt sich in Konferenzen und Kongressen, aber auch in der von der UNESCO ausgerufenen Weltalphabetisierungsdekade (2003–2012) wider. Analphabetismus in seinen verschiedenen Ausprägungen und Erscheinungsformen ist ein globales Phänomen, dessen Auswirkungen auf die sozioökonomischen Gegebenheiten sich zunehmend zu einem politischen und wirtschaftlichen Problem entwickelt haben. Es besteht konkreter und dringender Handlungsbedarf auch für Deutschland.

Schätzungen des Bundesverbandes Alphabetisierung e.V. zufolge leben in Deutschland circa vier Millionen deutschsprachige funktionale Analphabeten (vgl. www.alphabetisierung.de/infos/faq.html ). Obwohl keine offiziellen Zahlen zur Größenordnung des Analphabetismus in Deutschland vorliegen, lassen die Ergebnisse von Studien wie International Adult Literacy Survey (IALS) und Programme for International Student Assessment (PISA) Vermutungen über das Ausmaß zu. Bei der 1995 von der OECD veröffentlichen Studie IALS erreichten 14,4 Prozent der getesteten Personen nur die unterste Kompetenzstufe. Vermutlich gibt es also eine weitaus größere Gruppe von Personen in Deutschland, deren Kenntnisse in der Schriftsprache nicht ausreichen, um sie im Alltag oder Berufsleben in ausreichendem Maße als Kommunikationsform zu nutzen. 

Bei Betrachtung der Definitionen wird jedoch deutlich, dass Analphabetismus komplex und kontextabhängig ist. Neben den technischen determinieren insbesondere kulturelle und soziale Aspekte die unterschiedlichen Ausprägungen und Anforderungen von Schriftsprache. Begrifflichkeiten sollen hierbei helfen, diese Kriterien zu reflektieren und gleichermaßen zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen zu unterscheiden. So wird von totalem, primärem, sekundärem und funktionalem Analphabetismus gesprochen. Der totale und primäre Analphabetismus beispielsweise, der sich auf Menschen ohne jegliche Schriftsprachkenntnisse bezieht, kommt in Industrienationen selten vor. Aufgrund bestehender Schulpflicht wird es als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass die Menschen, die in diesem Kulturkreis aufwachsen, mit Schriftsprache in Berührung gekommen sind. Deshalb wird hier zumeist vom Funktionalen Analphabetismus gesprochen, der sich weniger auf die technische Beherrschung der Schriftsprache bezieht, sondern vielmehr ein Defizit in der Anwendung von Schriftsprache als Kommunikationsmittel beschreibt. Hierbei wird deutlich, dass die Marginalisierung der Betroffenen nicht durch das Erlernen des Alphabets aufgehoben wird, sondern, dass weitaus höhere Ansprüche für die uneingeschränkte Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen gestellt werden.

Konzepte der Alphabetisierung und Alphabetisiertheit wurden durch die der Grundbildung und Literalität erweitert. Der aus dem Englischen von literacy/ies abgeleitete Begriff Literalität/en beschreibt das schriftsprachliche Handeln in einer von Schriftsprache geprägten Gesellschaft. Literalität bezieht sich auf unterschiedlich ausgeprägte Gesellschaftsformen, aber auch auf Individuen und unterstreicht die Fähigkeit an einer durch Schriftlichkeit organisierten Kultur zu partizipieren. Ähnlich dem Begriff der Literalität wird unter dem Begriff Grundbildung eine Vielzahl von Fertigkeiten, die für eine aktive Partizipation an der Gesellschaft notwendig ist, subsumiert. Während Literalität sich immer auf Konzepte von Schriftsprache bezieht, wird die Anwendung des Lesens und Schreibens als Teil von Grundbildung vorausgesetzt.

 Für den Weiterbildungsbereich stellt die Heterogenität der Vorbedingungen und der Notwendigkeiten eine Herausforderung dar. Die unterschiedlichen Bedürfnisse und die sich kontinuierlich verändernden gesellschaftlichen Anforderungen verlangen nach adaptionsfähigen Programmen und Konzepten. Zwar gibt es bereits Projekte, die auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sind oder Programme wie das der Family Literacy, das sich bereits im internationalen Umfeld bewährt hat. Doch die Professionalisierung der Lehrenden, eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, Strategiepapiere, und nicht zuletzt die Einbindung von Lernenden in die Konzeptentwicklung sind Bereiche, die zunehmend der Beachtung bedürfen. Eine wesentliche Voraussetzung ist dabei, nicht nur zu verstehen, was Literalität für Menschen in verschiedenen Kontexten bedeutet, sondern auch die Differenzen und Vielfalt im Rahmen der Globalisierungsprozesse miteinander zu verbinden. 

Sabina Hussain, PhD, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programm „Inklusion durch Weiterbildung“ am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE).