DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

"Neue kulturell-zivilisatorische Kompetenz erforderlich!"

Innovation und "Standortlogik"

Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker ist Präsident des 1991 gegründeten Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Zuvor war er Professor für Biologie in Essen, Universitätspräsident in Kassel, Direktor am UNO-Zentrum für Wissenschaft und Technik in New York und Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik in Bonn. Zusammen mit Amory B. Lovins und L. Hunter Lovins (Rocky Mountain Institute in Colorado, USA) verfaßte er 1995 das Buch "Faktor vier - Doppelter Wohlstand - halbierter Naturverbrauch" als neuen Bericht an den Club of Rome. 1996 erstellte das Wuppertal-Institut im Auftrag von BUND und Misereor die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland". - Das DIE-Gespräch mit Ernst Ulrich von Weizsäcker (E.U.v.W.) führte Herbert Bohn (DIE).

DIE: Der Begriff "Innovation" wird heute sehr inflationär gebraucht. Nahezu alle Veränderungen - in der Wirtschaft, in der Industrie, der Arbeitswelt, im Sozialstaat, in der Politik - werden mit der Notwendigkeit von Innovationen begründet. Was bedeutet "Innovation" unter der Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklung?

E.U.v.W.: Wie praktisch jedes andere Thema wird heute das Wort "Innovation" nur noch unter dem Leitbegriff "Standort Deutschland" gesehen. Allerdings ist vorherzusehen, daß die inhaltlichen Bedingungen für einen Erfolg im internationalen Wettbewerb großen Änderungen unterworfen sein werden. Die Menschheit geht auf zehn Milliarden Köpfe zu. Davon werden mindestens fünf Milliarden ein Wohlstandsniveau beanspruchen, welches etwa dem heutigen mitteleuropäischen entspricht. Dies bedeutet mehr als eine Vervierfachung der Wohlstandsansprüche. Gleichzeitig gibt es starke ökologische Gründe, den Naturverbrauch nicht noch weiter wachsen zu lassen, sondern ihn im Gegenteil um etwa die Hälfte zurückzufahren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Verachtfachung der Ressourcenproduktivität. Insofern die Innovation dieser dramatischen Verbesserung der Ressourcenproduktivität nutzt, kann sie sowohl dem "Standort Deutschland" als auch der Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit dienen.

DIE: Inwiefern hat sich das Verständnis von Innovation historisch gesehen verändert?

E.U.v.W.: Lange Zeit galt der militärtechnische "Fortschritt" als die gesellschaftlich relevanteste Innovationsrichtung. Dann, seit der Frühindustrialisierung, war das Leitthema die Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Mit Technik ist es gelungen, die Arbeitsproduktivität ungefähr zu verzwanzigfachen. Dieses Programm besinnungslos fortzusetzen kann heute nicht mehr als sehr sinnvoll angesehen werden.

DIE: Nicht alles, was als angeblich fortschrittlich angepriesen oder gefordert wird, ist also in diesem Sinn innovativ. Ist manches von dem, was heute unter dem Etikett Innovation firmiert, "alter Wein in neuen Schläuchen"?

E.U.v.W.: Ja, wenn weiterhin Arbeitsrationalisierung im Vordergrund steht. Nein, wenn man sich endlich um die Ressourcenrationalisierung kümmert. Wenn wir die Ressourcenproduktivität entscheidend erhöhen, wenn wir aus einem Faß Öl oder einer Tonne Erdreich mehr als viermal soviel Wohlstand herausholen, dann können wir den Wohlstand verdoppeln und gleichzeitig den Naturverbrauch halbieren. Und das ist neu, einfach und aufregend, wie in "Faktor vier" beschrieben: Neu ist diese Forderung, weil sie nichts weniger will als eine Neuausrichtung des technischen Fortschritts; einfach, weil sie eine ganz primitive Formel benutzt; aufregend, weil sie nicht utopisch ist, sondern ganz real.

Effizienzverbesserung und Markt

DIE: In welchem Verhältnis stehen ökologische, ökonomische und ethisch-moralische Gründe, die zu Innovationen zwingen? Weshalb ist Innovation gesellschaftlich notwendig?

E.U.v.W.: Wer stehenbleibt, den bestrafen die Konkurrenten oder auch die Geschädigten. Mit makabrem Witz hat Lewis Carroll in "Alice in Wonderland" ein Wettrennen von Alice gemeinsam mit der schwarzen Schachkönigin geschildert. Bei diesem rennt Alice schon beachtlich schnell, um alsbald von der grausamen Königin belehrt zu werden, daß man bei dieser Geschwindigkeit noch überhaupt nicht vom Fleck komme. Die sei nur gut genug, um nicht zurückzufallen. Um vom Fleck zu kommen, müsse man noch schneller rennen.

DIE: Heißt das: Der Markt zwingt zu Innovationen und bestimmt das Tempo?

E.U.v.W.: In diesem Alptraum-Bild wird zugleich die prinzipielle Problematik der marktwirtschaftlich gesteuerten Innovation sichtbar. Es ist ja überhaupt nicht klar, ob man in die richtige Richtung rennt. Die marktwirtschaftliche Beteuerung, die Richtigkeit der Richtung werde vom Markt selber definiert, kann bei näherem Nachdenken keinesfalls befriedigen. Die eigentliche Herausforderung, die zivilisatorische Aufgabe, die für das 21. Jahrhundert im Zentrum stehen wird, ist doch die Verkleinerung des Kuchens des Naturverbrauchs. Und diejenigen Länder, die sie verschlafen, sind dann eben am Schwanz der Entwicklung und werden dies auch ökonomisch zu spüren bekommen. Nun wird gelegentlich gesagt: Diese Verkleinerung des Kuchens schaffen wir durch die naturwüchsige Erhöhung der Energieefffizienz als Folge des technischen Fortschritts. Aber das Wettrennen zwischen dieser naturwüchsigen Effizienzverbesserung und dem Mehrverbrauch durch Wohlstandswachstum verlieren wir. Glauben Sie nicht denen, die sagen, der Markt löst die Probleme von selbst.

DIE: Ich zitiere aus Ihrem Buch "Faktor vier" aus dem Kapitel 'Sieben gute Gründe für Effizienz'. Dort schreiben Sie unter der Überschrift "Märkte nutzen und die Wirtschaft einspannen": "Wo (die Erhöhung der Ressourcen-)Effizienz rentabel ist, kann sie sich über den Markt durchsetzen. Staatliche Vorschriften sind hier nicht nötig ..."

E.U.v.W.: Ja. Dort heißt es aber weiter, daß man mit der Wirtschaft darüber verhandeln muß, wie Hemmnisse für den Durchbruch der ökonomisch-ökologischen Vernunft abgebaut und wo noch bessere Anreize geschaffen werden können. Und an anderer Stelle ist erklärt, daß uns der Markt nur sehr eingeschränkt dabei hilft, die ökologisch nachhaltige Wirtschaft - die Forderung von Rio de Janeiro - zu erreichen. Und noch ein Zitat: "Ressourcenvergeudung ist auch symptomatisch für eine Wirtschaft, die die Menschen aufteilt in die, die Arbeit haben, und in Arbeitslose: Wer Arbeit hat, erledigt sie bis zur Erschöpfung, um seinen Arbeitsplatz zu behalten. Wer arbeitslos ist, hat neben dem Einkommen auch Status, Sinn und Selbstbewußtsein verloren. In beiden Fällen werden heute menschliche Talente und Kraft vergeudet."

Relativierung von Globalisierung

DIE: Im Zusammenhang mit "Innovation" wird oft das Stichwort "Globalisierung" genannt. Sind Innovation und Globalisierung eigentlich gut für alle, wie oft behauptet wird?

E.U.v.W.: Mit der Globalisierung, die in den achtziger Jahren richtig in Schwung kam, entstand auch ein neues Phänomen, nämlich daß die Einkünfte aus Kapital in die Höhe geschnellt sind, während die Einkünfte aus abhängiger Arbeit stagnierten und inzwischen sogar zurückgehen. Das nennt man Globalisierung. Man sagt zwar: "Das ist gut für alle." Dahinter aber steckt eine Art von weltwirtschaftlichem Sozialdarwinismus - wobei auch noch Darwins Evolutionstheorie falsch verstanden wird: Er hat auf den geographisch isolierten Galapagos-Inseln einzigartige Finken entdeckt, die sich ungestört von Festlandskonkurrenten entwickeln konnten und sogar den Werkzeuggebrauch entdeckt haben. Sie benutzen Kakteenstacheln als Ersatz für lange Schnäbel. Wäre Darwin ein moderner Ökonom, dann hätte er gesagt: Jetzt müssen wir mit Steuermitteln eine Landbrücke bauen von Ekuador auf die Galapagosinseln, damit die tüchtigen Spechte diese Stümper von Darwinfinken, die so tun, als seien sie Spechte, so schnell wie möglich ausrotten, und das wäre gut für die Evolution! So funktioniert doch dieses Denkgebäude. Es ist aber grundfalsch: Es ist sicher gut für die Stärksten, aber nicht notwendigerweise gut für alle.

DIE: Welche Arten von Innovationen sind angesichts der globalen Veränderungen in der Umwelt, der Arbeits- und Lebenswelt vordringlich? Geht es hauptsächlich um technologische Innovation?

E.U.v.W.: Neben der schon genannten Ressourcenproduktivität könnte eine wichtige Innovation die "Wiederentdeckung der Langsamkeit" sein. Es müßte möglich sein, die möglicherweise katastrophale "Führung durch den schnellsten Prozeß" zu vermeiden und im gesellschaftlichen Wettbewerb Prämien für Langsamkeit zu entwickeln. Dringend notwendig ist in diesem Zusammenhang auch eine Veränderung unserer Wahrnehmung und des Bewußtseins darüber, was Wohlstand und Wohlergehen ausmachen. Wir werden lernen, daß ein ganz großer Teil von dem, was heute wirtschaftlicher Erfolg, wirtschaftliches Wachstum ist, in Wirklichkeit gar nicht mehr dem Wohlstandswachstum dient. Wenn man durchhaltbarere Indikatoren für Wohlstand definiert und politisch durchsetzt, dann merkt man auf einmal, daß ein großer Teil von dem, was wir in den letzten Jahren als Erfolg gefeiert haben, gar kein Erfolg war.

Veränderte Wahrnehmung

DIE: Können Sie ein Beispiel für die Notwendigkeit eines Umdenkens, einer veränderten Wahrnehmung von Wohlstand und Wohlergehen, nennen?

E.U.v.W.: Jeder zusätzliche Verkehrsunfall steigert zwar das Bruttosozialprodukt, das Wohlbefinden aber vermutlich nicht. Das Bruttosozialproduktwachstum ist vielleicht nichts mehr anderes als die Beschleunigung von Hamsterrädchen. Und es macht den Hamster nicht notwendigerweise glücklicher, wenn sich sein Rädchen doppelt so schnell dreht. Wir müssen also wieder eine Wahrnehmung für optimierte statt maximierte Geschwindigkeiten kriegen. Das ist eines der Ziel- und Leitbilder, die wir in der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" entwickelt haben: eine Wiederentdeckung von optimalen statt maximalen Wachstumsphänomenen, Beschleunigungen, Geschwindigkeiten. Aber das fordert natürlich wieder ein Umdenken.

DIE: Was bedeutet das konkret? Welche Bereiche der Gesellschaft, der Politik und der Wirtschaft sind von dieser Forderung betroffen? Wo müssen wir auf optimale statt maximale Geschwindigkeiten und Wachstumsphänomene besonders achten?

E.U.v.W.: Wir müssen uns überlegen: Was ist das eigentlich, was uns Freude macht, und wie können wir die Gratifikationssysteme in der Gesellschaft so entwickeln, daß das floriert, was wirklich Freude macht, und nicht nur das, was die Beschleunigung bringt. Wir haben in der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" auch z.B. darüber gesprochen, wie wir eine Relativierung des Erwerbsarbeitsvolumens erreichen können, so daß Wohlstands- und Wohlergehensanteile teilweise in Eigenarbeit, in Nachbarschaftshilfe usw. erarbeitet werden können.

DIE: Welche Funktion hat Bildung in diesem Zusammenhang? Ist ein solches Umdenken durch Bildung in traditionellen Formen zu erreichen? Welche neuen Kompetenzen sind erforderlich? Was müßte sich am Bildungssystem ändern?

E.U.v.W.: Die konventionelle Vorstellung, nach welcher die Innovationsfähigkeit im wesentlichen durch naturwissenschaftlich-technische und allenfalls sprachliche Kompetenz gegeben ist, ist nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr geht es auch um kulturell-zivilisatorische Kompetenz. Und für mich ist völlig klar, daß die Qualifikationsanforderungen sehr viel weniger als in der Vergangenheit auf die Maximierung der Produktion im produktiven Sektor gerichtet sein dürfen, wo durch Arbeitsrationalisierung ohnehin immer mehr überflüssig wird, dafür aber viel stärker im Kundenbezug, im dispositiven Bereich, im Bereich der Kommunikation gesucht werden müssen. Das ist natürlich in der Berufsschule bisher noch kaum angelegt, auch in der Allgemeinbildung und an der Universität noch viel zu wenig. Die Erkenntnis von Bedarfslagen im In- und Ausland ist nicht nur für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit von entscheidender Bedeutung, sondern auch für die erweiterte soziale Kompetenz. Das Bildungssystem, welches bislang stark im Fächerkanon mit enggefaßten Lerncurricula stehengeblieben ist, müßte sich zur Vermittlung dieser erweiterten Kompetenzen viel stärker in interdisziplinärer und gesellschaftlicher Richtung fortentwickeln.

Neue Anforderungen an Weiterbildung

DIE: Welche Innovationen braucht die Weiterbildung, um diesen Anforderungen - Relativierung von Globalisierung, verändertes Bewußtsein von Wohlstand und Wohlergehen, Veränderung der Qualifikationsanforderungen, erweiterte soziale Kompetenz - gerecht werden zu können?

E.U.v.W.: Neben den relativ selbstverständlichen technischen, sprachlichen - einschließlich der fremdsprachlichen - und rechtlich-politischen Inhalten und Themen von Weiterbildungsmaßnahmen sollten, wenn möglich projektartig, Möglichkeiten der komplexen Erfassung und Bearbeitung von aktuellen Problemen sozial-ökologisch-technischer Natur angeboten werden. Wenn wir die zivilisatorischen Herausforderungen wirklich ernstnehmen, kommen wir vermutlich zu einer bis an die Wurzeln gehenden Veränderung aller Bildungsbereiche.