DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Neues Verständnis vom „Lernen"

Anforderungen und Fragen

Johannes F. HartkemeyerJohannes
F. Hartkemeyer ist Direktor der Volkshochschule Osnabrück.

Welches Verständnis vom Lernen ist heute erforderlich? Welche Art von Qualität unserer Institutionen der Erwachsenenbildung wollen wir? - Johannes F. Hartkemeyer hinterfragt neue Anforderungen an Kursleitende und neue Kompetenzprofile aus der Sicht von Lernenden und von Erwachsenenbildungseinrichtungen.


Kursleiterinnen und Kursleiter sind die „Visitenkarten" aller Erwachsenenbildungseinrichtungen. Sie entscheiden im konkreten Bildungsprozeß über die Leistungsfähigkeit der Einrichtung. Und langfristig bestimmt sich über die „Kundenzufriedenheit" das Weiterbildungsverhalten der potentiellen Teilnehmenden und damit der ökonomische Erfolg der Einrichtung. Das mag banal klingen. Aber wenn in den letzten Jahren die Stichworte „Programmqualität" und „Durchführungsqualität" in den Mittelpunkt der Diskussion um „Standards" und „Dimensionen" organisierter Lernprozesse gestellt werden, ist die Rolle und Einbindung der Nebenberuflichen von entscheidender Bedeutung.

„Semiprofessionalität" und Flexibilität

Der Einsatz, die Fortbildung und die Betreuung von Kursleiterinnen und Kursleitern ist der zentrale Aufgabenbereich der hauptberuflichen pädagogischen MitarbeiterInnen (HPM). In dieser Funktion stehen sie für die Innovationsfähigkeit und die Einhaltung der Qualitätsstandards der Einrichtung. Diese „halbe Professionalisierung" der Einrichtungen ist Chance und Problem für die Qualität und die Identität zugleich.

Inhaltlich ist die Tatsache, daß KursleiterInnen ihr Wissen und ihre Erfahrung aus ihren unterschiedlichen Biografien und unterschiedlichen praxisbezogenen, gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern einbringen, also in der Regel keine verschulte „Pädagogenkarriere" hinter sich haben, eine große Chance für Lebendigkeit und Praxisnähe. Allerdings muß hier auch ein entsprechender pädagogischer Prozeß in Richtung Teilnehmerorientierung ansetzen.

Die Schattenseite der Situation von KursleiterInnen ist ihre mangelnde soziale Absicherung. Aufgrund der Entwicklung der öffentlichen Finanzen sind sowohl die Zahlen der HPM insgesamt rückläufig als auch die Bemühungen um alle Formen einfacher sozialer Absicherung für Nebenberufliche gescheitert. Zeiten für Unterrichtsvor- und nachbereitung oder die Teilnahme an Konferenzen werden in der Regel nicht bezahlt. Finden Kurse nicht statt, gibt es in den seltensten Fällen Ausfallhonorare. Steuern und Versicherungen sind ebenfalls Sache der Nebenberuflichen. Diese Gruppe als „neue Selbständige" zu bezeichnen, wie es heute Mode zu sein scheint, ist aus diesem Grund schon reichlich problematisch.

Allerdings ist die Gruppe der KursleiterInnen/DozentInnen nicht homogen. Gut bezahlte HochschullehrerInnen und andere Personen mit abgesichertem Hintergrund sind darunter, aber auch KünstlerInnen, Ruheständler, Studenten ohne Abschluß, Mediziner, Rechtsanwälte mit eigener Praxis - eine Vielfalt von etwa 30 bis 120 Personen, die von einem/einer HPM betreut werden wollen.

Darüber hinaus bringt diese Vielfalt und die Tatsache, daß ein Teil dieser „neuen Selbständigen" und „Experten" eben keine spezifische Trägerbindung hat, sondern in einem wechselseitigen Benutzungsverhältnis zu den Fachbereichen der jeweiligen Bildungsinstitution steht, Identitätsprobleme mit sich.

Wenn keine soziale Sicherheit versprochen werden kann, dann ist es den KursleiterInnen häufig gleich, für wen sie arbeiten. Sie bilden keine Institutionenidentität aus, sondern werben für sich als „Markenzeichen."

In diesem Zusammenhang sind auch die Bemühungen der Fortbildungsbeauftragten der VHS-Landesverbände und des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung von Bedeutung, eine „Erwachsenenpädagogische Grundqualifikation der Kursleitenden" in ein Rahmenkonzept zu bringen.

Neben den methodischen, didaktischen und institutionellen/gesellschaftlichen Kompetenzen ist die Entwicklung der personalen Kompetenzen von zentraler Bedeutung.

Leben - Lernen

Die Reflexion der eigenen Lerngeschichte ist insofern von Bedeutung, als sie eigene motivationale Spuren und Strukturen deutlich macht. Statt abstrakter Lerntheorien ist die intensive Begegnung mit eigenen Lernimpulsen, Lernstrategien, Mustern, Schattenthemen, die Offenlegung der eigenen Reaktivität von entscheidender Bedeutung für die Begegnung mit anderen Lerngeschichten.

Der Beschäftigung mit der eigenen Biografie scheint mittlerweile in unserer Kultur eine besondere Bedeutung zuzukommen. Möglicherweise suchen Menschen in Zeiten allgemeiner Orientierungslosigkeit nach einer anderen Verankerung ihres Lebens. Vielleicht führt die Suche nach neuen Sinnperspektiven zur Neureflexion des eigenen Lebenslaufes.

Wirklich zu „wissen" und anzuerkennen, daß im Kurs oder Seminar 20 unterschiedliche Lernbiografien mit akut unterschiedlichen Lernimpulsen präsent sind, und diese Zeitqualität optimal für ein Lernerlebnis zu kultivieren, gehört zur Lehrkunst auf der Basis eines humanistischen Menschenbildes. Sehr deutlich ist in den letzten Jahren zumindest in der Bildung mit Erwachsenen der Trend vom „Referenten" hin zum „Prozeßbegleiter" gegangen.

Eine neue Perspektive für die Funktion von Lehrenden ist auch durch die Begründung einer dezidiert „antipädagogischen" Haltung durch den „Konstruktivismus" entstanden.

Weg von der „Belehrungsdidaktik"

Mit der Abkehr von der traditionellen „Belehrungsdidaktik" wird „einer normativen Pädagogik, die ,für andere` ein richtiges Handeln entscheidet und postuliert, die erkenntnistheoretische Grundlage entzogen" (Siebert 1996). Thematisiert wird zumindest, daß die „traditionelle Belehrungsdidaktik" an Boden verliert. Die Beziehung von Lehrenden und Lernenden in einem gleichberechtigten Prozeß, nach dem dialogischen Prinzip von Martin Buber oder dem Volkspädagogen Paulo Freire, wird neu aktuell.

Es ist nicht nur für die politische Bildung eine entscheidende Frage, ob es in der Erwachsenenbildung darum geht, die „Einsichten" oder „Ansichten", die Pädagogen oder Lernzielgeber in Curricula übersetzt haben, durch Lernprozesse anderen überzustülpen. In allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern muß neu- und umgedacht werden, wollen wir eine zukunftsfähige Perspektive entwickeln.

Es geht also nicht darum, „Gedachtes" neu zu verpacken oder neu zu sortieren. Wir brauchen eine „kreative Spannung", die alle „Selbstverständlichkeiten" in Frage stellt. Wir brauchen ein neues Rollenverständnis der Kursleiter als „Lernbegleiter", und das bedeutet eine veränderte pädagogische Handlungskompetenz.

Was ist „neu"?

Die Erwachsenenbildung war schon immer ein Kind ihrer Zeit. Eduard Weitsch sprach bereits in „Dreißigacker", einem der Geburtsorte der deutschen Erwachsenenbildung, von der „Schule ohne Katheder".

Dagegen sprechen heute manche „Medienpädagogen" aus meiner Sicht vom Menschen mit „Katheterverbindung" zur Informationsgesellschaft. „Der Mensch ist ... Schaltmoment im Medienverbund", meint etwa der Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Nach dem Motto: „Am Anfang war das Wort ... am Ende steht das Bild" wird aus meiner Sicht weder richtig diagnostiziert noch sinnvoll beraten, sondern einem sozialen und geistigen Rückfall in „Anpassungsdidaktik" Vorschub geleistet. Was wir brauchen, ist nicht weniger, sondern mehr soziale, kommunikative Kompetenz und systemische Sichtweisen. Diese erreichen wir nicht, wenn wir die Menschen elektronischen Systemen anpassen. Das Gegenteil ist eher richtig.

So ist meines Erachtens auch die aktuelle Diskussion um das „Selbstlernen" kritisch zu sehen. Eine Kurzschlußreaktion einer unheiligen Allianz von Sparkommissaren und Hard- und Softwareherstellern könnte man fast vermuten. Natürlich werden die öffentlichen Kassen immer leerer - wenn auch in Deutschland noch nie so viel verdient wurde wie heute. Das Versprechen aber, mit Multimedia bequem und trotzdem effektiv, „interaktiv" - um nicht zu sagen: „hyperaktiv" - bei einer womöglich besseren, vorhersagbaren Qualität und natürlich „billiger", weil ohne Kursleiter, zu lernen ist eine verständliche Marktstrategie der Medienkonzerne.

Aber gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Geld und Bildung? Und welchen?

Die Metakognition

Es scheint so, daß wir sehr begabt dafür sind, unsere Strategien zu ändern, aber weniger in der Lage sind, unsere mentalen Modelle zu ändern. Die mentalen Modelle, d.h. die tief verankerten Annahmen, verstehe ich als Verallgemeinerungen, die Bildervorstellungen und -geschichten, die unser Verständnis der Welt prägen und Einfluß darauf nehmen, wie wir handeln.

Die kurzschlüssige Antwort: Um gute Bildungsarbeit zu machen, brauchen wir Geld. Aber welche Zusammenhänge zwischen Geld und Bildung gibt es unter unseren oder unter anderen kulturellen Bedingungen? Welche gibt es konkret für uns und unser Bild vom Lernen?

Wo stehen wir?

Wir wissen, daß unsere Teilnehmenden kritischer geworden sind. Sowohl Inhalte als auch das methodisch-didaktische Vorgehen werden deutlicher hinterfragt. Und wir stehen in einer breiten Konkurrenz nicht nur mit anderen Trägern, sondern mit den wachsenden Möglichkeiten technischer Mittler.

Hier aber liegt auch eine Chance. Bei uns als öffentlichen Einrichtungen kann man Orientierungswissen erwerben, das nicht von vordergründiger interessengebundener Verwertungsorientierung geprägt ist. Das heißt auch, daß eine aktive Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen Bestandteil ist. Wenn ein Umbruch zu sehen ist, dann einer der Fachsystematik, des Vernetzungshorizontes. Das ändert auch Begriffe. Das Entscheidende geschieht selten „lehrplanmäßig". Der „Arbeitsplan" ist zugunsten eines „Programms" oder gar „Magazins" verschwunden. Auch der „Masterplan" einer Verwaltungsreform scheitert, wenn er „Folienreform" bleibt und nicht lebendiger „Prozeß" wird.

Am deutlichsten zeigt sich dies im Niedergang der konventionellen Form der sog. problemorientierten politischen Bildung. Letztlich leitet sich dieser Ansatz aus dem klassischen schulischen Verständnis ab und zeigt deutlich seine Grenzen. In der Erwachsenenbildung problematisieren sich überlebte Formen eher, da hier anders als in der kasernierten „Beschulung" eine „Abstimmung mit den Füßen" erfolgt. Nicht wenn die Bildung etwas von den Menschen will, sondern die Menschen etwas von der Bildung wollen, sind wir auf dem richtigen Weg. Und weil viele Problemstellungen in unserer Gesellschaft so neu sind und so tiefgreifende Veränderungen mit sich bringen, weiß kein Lehrer oder Lehrplan die Antworten. Das gilt auf immer mehr Gebieten. Vereinfachungen gehen in die Irre, erkundende dialogische Haltungen sind notwendig.

Information - Wissen - Weisheit?

Wenn man zentralen Sprüchen der Politik glauben darf, soll Bildung das „Mega-Thema" (Roman Herzog) der Gesellschaft werden. Bildung sei das „höchste Gut" (Bill Clinton) der Zukunft, und eine „Bildungsrevolution" (Tony Blair) stehe unmittelbar bevor.

Was aber ist gemeint? Steht der „Übergang von einer belehrten zur lernenden Gesellschaft" bevor, oder sollen „Informationsriesen" und „Wissenzwerge" gezüchtet werden?

Lernkultur

Eine entscheidende Frage ist: Welche Art von Qualität unserer Institutionen wollen wir?

Welche Art von Qualifikationen brauchen wir für eine neue Art des Umgangs zwischen Menschen? Wie kann eine Neubesinnung auf die „Lernkultur" von Erwachsenenbildung aussehen, wo das „Zwischenmenschliche das sonst Unerschlossene" (Martin Buber) erschließt? Ist der Weg in die Objektivität falsch, weil sie die Person in ihrer jeweiligen Lage weder annähernd beschreiben noch führen kann, wie Edmund Kösel behauptet? Brauchen wir eine subjektive Didaktik? Oder ist gar der herrschende Wissenschaftsbegriff falsch, wie Wilhelm Mader den englischen Soziologen Stanislav Andreski zitiert: „Die Annahme ist daher nicht so weit hergeholt, daß der Qualitätsverlust der Erziehung irgend etwas mit der Expansion der Sozialwissenschaft zu tun haben mag, natürlich nicht etwa aufgrund einer logischen Notwendigkeit, sondern entsprechend dem Charakter, den diese Fächer angenommen haben."

Kann es sein, daß in einer solchen Sozialwissenschaft die Triebfeder die Flucht des Menschen vor sich selbst ist? Oder ist dies zu provokativ, als daß sie zu tieferen Fragen führen kann? Nach H.-G. Gadamer ist alles Verstehen eine Anwendung des Verstandenen auf uns selbst. Und dieses lebendige Denken ist immer auch ein Durchbrechen von Regelschablonen. Wohin lenken wir unsere Energie? Welches Bewußt-Sein haben wir? Können und werden wir es uns leisten, uns diesen tieferen Sinn-Fragen zu stellen? Oder werden wir an der Oberfläche einfältiger Antworten surfen?

Was wir brauchen, ist aus meiner Sicht eine neue „Fragekultur" und eine „Ermöglichungsdidaktik" in unseren Bildungseinrichtungen. Denn: „Die Methode ist in Wirklichkeit die äußere Seite des Bewußtseins, das sich in Handlungen ausdrückt" (Paulo Freire).

Literatur

Hartkemeyer, Johannes F.: Der Schlüssel zum Erfolg für das 21. Jahrhundert. In: Süddeutsche Zeitung vom 4./5. Nov. 1995

Hartkemeyer, Johannes F.: Die Suche nach zeitgemäßen Lernräumen. In: Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Okt. 1994

Hartkemeyer, Johannes: Fragen sind es durch das, was bleibt, entsteht. In: Informationen Weiterbildung in NRW 6/1995, S. 21 ff.

Hartkemeyer, Martina: Die Wiederentdeckung von Langsamkeit. In: Manfred Zimmer (Hrsg.): Von der Kunst, umweltgerecht zu planen und zu handeln. (Internationale Erich Fromm Gesellschaft) Osnabrück 1997

Kösel, Edmund: Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch der subjektiven Didaktik. Elztal-Dallau 1993

Senge, Peter: Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Stuttgart 1996

Siebert, Horst: Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung, Didaktik in konstruktivistischer Sicht. Neuwied 1996