DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Nicht-Teilnahme als Verweigerung

Lernwiderstände und reflexive Lernberatung

Rosemarie Klein/Marita Kemper
Rosemarie Klein, Dipl.-Päd., ist Geschäftsführerin und Trainerin des Büros für berufliche Bildungsplanung und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Planung und Entwicklung des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung.
Marita Kemper, Dipl.-Päd., ist freiberufliche Trainerin und Beraterin in der beruflichen Weiterbildung.

Widerstände gegen organisiertes Lernen können sich in unterschiedlichen Formen äußern. Sind Nicht-Teilnahme oder passive Nichtbeteiligung immer Ausdruck von persönlichen Störungen und Barrieren? – Die Autorinnen zeigen am Beispiel beruflicher Weiterbildung auf, dass und warum organisiertes Lernen von sich heraus Widerstand provoziert, der in sozialen Lernprozessen auch Lernanlässe bieten kann. Dies setzt reflexive subjektbezogene Lernberatung voraus.

Abstract:
Their own experience in vocational training leads the authors to the conclusion that organized learning situations are inevitably calling upon participant’s resistance. Instead of feeling disturbed trainers should see this resistance as an opportunity to kick off new learning processes. The author’s concept of learning consultancy follows Holzkamp’s idea of ‘subject orientation’. But, as the case study of a consultation situation illustrates, the practical application might again result in a spiral of resistance, which can only be overcome by reflective communication of the consultation process itself.

"Warum soll der Pellwormer Skifahren lernen?"

Wenn (berufs-)lebenslanges Lernen zur individuellen Bringschuld aller erklärt wird, wird die Nicht-Teilnahme an Weiterbildung zum Lernwiderstand. Wer sich einer scheinbar einsichtigen und gesellschaftlich konsensualen Norm entzieht, leistet Widerstand. Dieser Lernwiderstand wird allerdings in der Weiterbildung nicht auffällig, weil sein Ausdruck die passive Verweigerung ist. Welche quantitative Dimension dieser Widerstand umfasst, zeigt die Statistik. Trotz des gestiegenen Stellenwerts von Weiterbildung und eines entsprechenden Anstiegs der Sich-Weiterbildenden nehmen 52% der erwachsenen Bevölkerung nicht an Weiterbildung teil (vgl. Berichtssystem Weiterbildung 1999). Ist ihr "Unterlassungshandeln gegenüber fremdgesetzten Anforderungen" (Axmacher 1990) Ausdruck einer uneinsichtigen Verweigerungshaltung, stellt es eine Form von Lernwiderstand dar, gar eine klassenbewusste Auflehnung gegen die Normen der Herrschenden, oder ist es schlichtweg Ausdruck einer Entwicklung, die realiter von vielen, aber noch lange nicht von allen Weiterbildungsanstrengungen verlangt? Im Umgang mit dem Begriff "Lernwiderstand" ist somit Vorsicht angebracht, Unterlassung unterschiedslos als Widerstand zu interpretieren scheint zumindest fragwürdig, kann sie doch auch Ausdruck von Barrieren und Störungen sein. Es gibt alsogute Gründe, sich in der Auseinandersetzung mit Lernwiderständen auf die Prozesse organisierten Lernens zu konzentrieren.

Organisiertes Lernen erzeugt aus sich heraus Widerstände

Organisiertes Lernen kann in seinem Arrangement und in seiner Zielrichtung der Heterogenität der Interessen und Bedarfe der Individuen nicht gerecht werden. Dies gilt in hohem Maße für die traditionelle berufliche Weiterbildung mit ihrer Abschlussbezogenheit und den damit verbundenen geschlossenen Curricula, die Partizipation und Mitentscheidung der Beteiligten weitgehend ausschliessen. Es gilt aber auch für (teil-)offene Bildungskonzeptionen. Lernen im sozialen Kontext erzeugt Widerstände, weil der Prozess des Aushandelns und Ausbalancierens individueller Interessen, Motive, Ziele und kollektiver Entscheidungen nicht widerstandsfrei ablaufen kann.

So vielfältig die Erscheinungsformen von Lernwiderständigkeit in organisierten Lernprozessen sich zeigen, so vielfältig sind auch die dahinter liegenden Ursachen und individuellen Bedeutungen. Um sich Widerständen gegen Lernen und deren Ursachen zu nähern und daraus Konsequenzen für die Gestaltung von Lern-/Lehrprozessen zu ziehen, reicht es nicht, sich auf die Lernenden zu konzentrieren. Es geht auch um die Lehrenden und die für Planung Verantwortlichen. Lernwiderstände sind nicht ausschließlich persönlich begründet, sondern ursächlich mit dem gesamten Lernsystem verknüpft.

Allerdings werden Lernwiderstände in der Perspektive der Lehrenden oft nicht sichtbar, zum einen, weil die dominanten Ausdrucksformen des Widerstandes passiver Natur sind und sich vorrangig durch "nicht störende" Verhaltensweisen wie inneren Rückzug, Nichtbeteiligung etc. äußern. Diese Lernwiderstände werden erst dann auffällig, wenn das Erreichen der Lernziele überprüft wird bzw. der Drop-out nicht mehr zu übersehen ist. Zum anderen deshalb, weil die berufliche Weiterbildung noch immer wenig subjektorientiert ausgerichtet ist und Lernerinteressen kaum systematische und institutionelle Berücksichtigung erfahren. Der Lehrende erfährt Lernwiderstände hauptsächlich in der Form des Sich-Verweigerns, des In-Frage-Stellens der Sinnhaftigkeit des zu Lernenden, der Ablehnung der Inhalte oder auch der Lehrperson, kurz: immer dann, wenn Lernende passiv oder offensiv das "geratene oder angeordnete Gute" unterlassen bzw. verweigern.

Mit Widerständen umgehen

Es kann nicht darum gehen, über Wege der Abschaffung dieser Widerstände nachzudenken, vielmehr müssen Wege des Umgangs mit ihnen gefunden werden. Dazu gehören reflexive Beratungsangebote, die Ursachen von Widerstand bewusst und damit bedingt der Bearbeitung zugänglich machen – oder aber auch akzeptiert werden können. Umsetzungselementen wie z.B. der "Entwicklung des individuellen Qualifikationsprofils"‚ der "Erstellung der Berufslebenskurve", dem "Lerntagebuch" sind zwei Annahmen immanent:

– Lernwiderstand ist häufig ein Indikator für schlummernde Potentiale. Wir wissen, dass Lernwiderstand entsteht, wenn nicht an den Erfahrungen, Motiven, Interessen und Zielen der/des Lernenden angeschlossen wird, wenn der Stellenwert und die Sinnhaftigkeit für den individuellen Lebenszusammenhang nicht erkennbar, wenn aktive Mitgestaltung des Lernprozesses nicht ermöglicht wird, wenn Lernende meinen, ihre emotionalen und motivationalen Befindlichkeiten täten in Lernkontexten nichts zur Sache, wenn sie davon ausgehen, "machtlos" zu sein bzw. sich einer Instanz beugen zu müssen, die Macht hat (vgl. Nolda 1999, S. 209). Hinter diesen Ursachenfeldern steht ein ungelebtes Potential, eigeninitiativ sein/lernen zu können und zu wollen – wenn es denn ermöglicht und gefördert wird. Dies verweist auf ein Verständnis von Lernen, das sich vom Individuum her begründet, nicht durch äußere Anstöße verursacht und damit erklärbar wird, sondern erst durch die vom Individuum selbst hergestellten Bedeutungszusammenhänge erfolgt (vgl. Holzkamp 1996, S. 21).

– Lernwiderstand in sozialen Lernkontexten kann Lernanlass sein. Im Rahmen von Lern- und Planungskonferenzen, wo Prozesse des Aushandelns zwischen individuellen Interessen, Zielen und Perspektiven mit kollektiven Entscheidungen ablaufen, werden soziale und personale Kompetenzen gefordert und können gefördert werden (Kemper/Klein 1998, S. 97ff). In diesem Sinne gibt es ein Lernen am Widerstand.

Von der Stoff- zur Subjektorientierung

Beratung im Verständnis eines (Lern-)Beratungsgesprächs greift jedoch im Umgang mit Lernwiderstand zu kurz. Die professionelle Ausgangsfrage lautet: Welche Vorstellungen können wir hinsichtlich der Gestaltung von Erwachsenenbildungsangeboten entwickeln, damit sie den Teilnehmenden (berufs-)biographisch anschlussfähig erscheinen? Und: Wie können die Erfahrungen, Interessen, Motive, Ziele, Perspektiven der Lernenden systematisch institutionell berücksichtigt werden? Wie können Stellenwert und Sinnhaftigkeit von Lernen für Lebenszusammenhänge erkennbar werden? Und nicht zuletzt: Wie kann die Bedeutsamkeit von emotionalen und motivationalen Befindlichkeiten für das Lernen systematisch erfahrbar gemacht werden? Dies alles setzt Partizipations-, Entscheidungs- und Gestaltungsräume für die Lernenden voraus und erfordert ein erweitertes Verständnis einer Lernberatung, die sich nicht am "objektiv Richtigen und Wichtigen" und für die Lernenden Passenden orientiert, sondern primär auf Anschlussfähigkeit ausgerichtet ist und individuelle Bedeutungszusammenhänge als Ausgangspunkt für Lernen akzeptiert. Dazu gilt es, Subjektorientierung mit didaktischen Prinzipien wie Biographiebezug, Reflexions-Kompetenz- und Interessenorientierung (vgl. ebd., S. 40ff) zu untermauern und Gestaltungselemente in Bildungsangebote zu integrieren, die die Selbstorganisationspotentiale der Lernenden fordern und fördern. Dies ist allerdings leichter gesagt als getan.

Lernentscheidungen ernst nehmen, aber: Widerstand erzeugt Widerstand

Nach dem Unterricht kommt die Teilnehmerin, Frau S., auf den Dozenten zu und erklärt ihm freundlich, dass sie seinen Unterricht zwar o.k. findet, die derzeitige Unterrichtseinheit für sie aber nichts bringe. Sie habe das alles schon mal gelernt und wolle ihre Zeit in der einjährigen Qualifizierungsmaßnahme lieber sinnvoller nutzen. Was sie stattdessen in dieser Zeit tun könne, habe sie sich auch schon überlegt. Da das Gespräch nicht zwischen Tür und Angel stattfinden soll, vereinbaren Frau S. und der Dozent einen Termin für ein Lernberatungsgespräch.

Hintergrund dieses realen, aber eher atypischen Beispiels ist eine (teil-)offene Weiterbildungskonzeption, die auf einem hohen Maß an Interessenorientierung und Mitbestimmung durch die Lernenden basiert. In einem definierten und transparenten Rahmen haben die Lernenden die Möglichkeit, ihren Lernprozess mit zu steuern und auch mit zu organisieren. Frau S. nutzt dieses Angebot. Spannend ist nun der weitere Verlauf. Der Dozent knüpft wohlmeinend Bedingungen an den Ausstieg von Frau S. aus dem Unterricht: Sie soll über die Bearbeitung von Aufgabenblättern den Nachweis erbringen, tatsächlich über den Lernstoff zu verfügen. Im Lernberatungsgespräch entwickelt sich eine Widerstandsspirale, die geprägt ist von einem Ringen um Macht bzw. Autoritätserhalt und nach Sieg-oder-Niederlage-Kategorien geführt wird. Der Dozent leistet Widerstand, weil Frau S. nicht nur die Spielregel verletzt, dass Lernkontrolle Aufgabe und Privileg des Lehrenden sei, sondern ihm auch eine Kränkung zufügt, indem sie behauptet, ihre Zeit sinnvoller nutzen zu können, als ihr dies in seinem Unterricht möglich ist. Frau S. leistet Widerstand, weil der Dozent ihre Einschätzung des eigenen Wissensstandes kontrollieren und überprüfen will und ihr damit Misstrauen in die eigene Urteilsfähigkeit signalisiert. Erst ein direktes Ansprechen der abgelaufenen Kommunikation ermöglicht eine Klärung der Situation und eine Akzeptanz der Pläne von Frau S. durch den Dozenten. Metakommunikation über die Lernwiderstände wurde für beide zum Lernanlass.

Lebenslanges Lernen wohin? – Widerstand gegen Unzumutbares

Frau N., 45-jährige arbeitslose Ökonomin aus der Uckermark, hat seit der deutsch-deutschen Vereinigung zwei Umschulungen absolviert und befindet sich derzeit in einer Feststellungsmaßnahme. In einem Lernberatungsgespräch, in dem ihre Berufsbiographie zur Sprache kommt, hinterfragt sie für sich den Sinn der Maßnahme.

Wenn berufliche Weiterbildung per se für alle als sinnvolle und notwendige Anstrengung deklariert wird, wenn lebenslanges Lernen als Anspruch an alle öffentlich postuliert wird und gleichzeitig der Lernertrag in Form gesicherter Erwerbsarbeit oder gelingende Reintegration in Erwerbsarbeit für immer mehr Lernende nicht gegeben sind, muss sich zumindest bei den "erfolglos" Lernenden Widerstand gegen Lernzumutungen einstellen. Die 45-jährige Ökonomin wird entweder an der Fiktion festhalten, eine Anhäufung von Qualifikationen auf Vorrat führe irgendwann doch noch zum versprochenen Ergebnis, oder sie wird sich damit abfinden, dass sie zu der Gruppe gehört, die aufgrund ihrer unveränderbaren Merkmale Alter und Geschlecht nicht mehr gefragt ist, und sich neuen Lernangeboten verweigern. Im ersten Fall gleicht sie dem Hamster im Rad, dessen Dynamik in Wirklichkeit Stillstand ist, im zweiten Fall ist ihr Widerstand eine einsichtige und zweckrationale Verhaltensweise und eine adäquate Reaktion auf sinnlose Zumutungen. An diesem Beispiel, das nicht nur in Ostdeutschland vielfache Realität ist, werden auch die Grenzen des Lernberatungsansatzes deutlich: Beratung soll auf Angebote hin orientieren, die für die Individuen anschlussfähig sind. Diese Bedingung ist notwendig, aber nicht hinreichend. Die zweite Bedingung ist die Verbindung der Anschlussfähigkeit mit einer individuellen Perspektive. In der beruflichen Weiterbildung ist individuelle Perspektive bisher untrennbar mir Erwerbsarbeitsperspektive verbunden. Eine Beratung, die z.B. auf die Sinnhaftigkeit ehrenamtlicher oder gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit hinweist, setzt sich auch in Zeiten anhaltender Massenarbeitslosigkeit dem Vorwurf aus, mit derartigen Überlegungen nur ihre eigene Hilflosigkeit zu tarnen und die Interessen der Ratsuchenden, deren Perspektive Erwerbsarbeit bleibt, zynisch zu unterlaufen. Wenn die Zahl derjenigen zunimmt, die aufgrund ihres Alters und/oder Geschlechts nur noch geringe Reintegrationschancen haben, wird sich die Beratung in der beruflichen Weiterbildung mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob damit ihre Zuständigkeit endet (weil sie zwingend auf Berufstätigkeit orientiert ist) oder ob ein Ernstnehmen der Subjektorientierung nicht auch bedeutet, mit den Subjekten über Perspektiven und Tätigkeiten außerhalb der Erwerbssphäre nachzudenken.

Die Fixierung von Lernberatung in der beruflichen Weiterbildung auf Beruf und Erwerbsarbeit stellt eine andere Form des Lernwiderstandes dar. Die Zumutung, sich außerhalb der Grenzen der berufsfachlichen Beratungskompetenz bewegen zu müssen, wo gleichsam sich die Unsicherheit des Ratsuchenden mit der eigenen Unsicherheit vereint, führt zu Widerstandshaltungen, die mit dem Hinweis auf professionelle Kompetenzen legitimiert werden nach dem Motto "Schuster, bleib bei deinem Leisten". Beratungskompetenz in der beruflichen Weiterbildung, die sich derart professionell selbst beschränkt, wird allerdings nicht nur im Hinblick auf die dauerhaft Ausgegrenzten, sondern auch im Blick auf die Beratungsbedarfe des Typus "Lebensarbeitsunternehmer" den veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr gerecht. Grenzüberschreitungen werden zur Voraussetzung subjektbezogener (Lern-)Beratung.

Fazit

Lernwiderstände werden in der alltäglichen Bildungspraxis vorrangig mit der Perspektive auf die Lernenden wahrgenommen und damit eher als abzustellende Störung gesehen. Wesentlich für eine Veränderung und Verbesserung der Praxis erscheint uns eine Analyse der Faktoren, die begründete Widerstände provozieren. Damit wird nicht nur der Blick auf die Lehrendenverändert, es wird auch deutlich, welche Anforderungen an die Organisation und das Setting von Bildungsangeboten gestellt werden müssen, um anschlussfähige und perspektivenbildende Angebote zu etablieren, die Raum lassen für eine stärker subjektbezogene Bildung. Die Widerständigkeit der Subjekte darf und kann nicht gebrochen, sie kann aber produktiv genutzt werden. Die berufliche Weiterbildung hat hier erheblichen Nachholbedarf. Ihn zu befriedigen erfordert ein Umdenken bei allen Beteiligten.

Literatur

Axmacher, D.: Widerstand gegen Bildung, Weinheim 1990

Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBF) (Hrsg.): Berichtssystem Weiterbildung, 7. Ergebnisse der Repräsentativbefragung zur Weiterbildungssituation in den alten und neuen Bundesländern. Bonn 1999

Holzkamp, K.: Wider den Lehr-Lern-Kurzschluss. In: Arnold, R. (Hrsg.): Lebendiges Lernen, Baltmannsweiler 1996, S. 21-30

Kemper, M./Klein, R.: Lernberatung, Baltmannsweiler 1998

Nolda, S.: Kursinteraktion und bedingter Widerstand. In: Hessische Blätter für Volksbildung, 3/1999, S. 209-214


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2000

Rosemarie Klein, Marita Kemper, Nicht-Teilnahme als Verweigerung. Online im Internet:
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