DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Wissenschaftler als "öffentliche Experten"

Akteure im Wissenstransfer

Hans Peter Peters

Dr. Hans Peter Peters ist Sozialwissenschaftler in der Programmgruppe „Mensch, Umwelt, Technik" des Forschungszentrums Jülich und befasst sich dort seit langem mit der öffentlichen Kommunikation über Wissenschaft, Technik, Umwelt und Risiken.

Inwieweit werden Expertisen für die politische Öffentlichkeit zugänglich? Worin unterscheiden sich Wissenschaft und Expertise? Inwieweit sind Expertisen wertfrei? - Anhand einschlägiger Studien diskutiert Hans Peter Peters diese Fragen und stellt schließlich Eigenschaften eines „idealen" wissenschaftlichen Experten vor.

Abstract:
The author discusses the way in which scientific knowledge and results of research are made public. He questions Gordon Shepherd's assertion that scientists themselves are best qualified for a transmission of their results to the interested public, and rather makes a case for the expert as a mediator. In order to do so, he identifies the characteristics of science versus expertise, and defines the expert as one who, in addition to the knowledge required, also possesses communicative skill, discernment and loyalty towards her or his „clients". In order to facilitate the communication between science and the public, he argues in favour of scientists taking over the role of experts.

Vor mehr als zwei Jahrzehnten formulierte der amerikanische Soziologe Gordon R. Shepherd eine Frage, die immer noch aktuell ist und in der Wissensgesellschaft sogar an Bedeutung gewonnen hat: Haben die Bürger Zugang zur besten verfügbaren wissenschaftlichen Expertise, um informierte Entscheidungen zu treffen? Bei vielen Problemen, über die wir uns als politische Bürger eine Meinung bilden müssen - zum Beispiel über den globalen Klimawandel, BSE oder die Stammzellen-Forschung -, werden die verschiedenen Positionen mit wissenschaftlichen Argumenten untermauert. Von manchen Problemen wissen wir nur durch die Wissenschaft. Entsprechend lassen sich politische Entscheidungsträger durch wissenschaftliche Gutachten und Expertengremien beraten. Wie steht es aber um die Zugänglichkeit von Expertise für die politische Öffentlichkeit?

Shepherd (1981) konzipierte eine Studie, um empirisch zu untersuchen, welche Personen die amerikanischen Medien in der Berichterstattung als Experten präsentieren. Als Fallbeispiel diente ihm die öffentliche Kontroverse über Marihuana, die in den 1970er Jahren in den USA geführt wurde. Bei dieser Kontroverse ging es darum: Wie sehen die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Droge aus? Soll man ihren Gebrauch gesetzlich verbieten oder legalisieren?

Um als „gut informierter Bürger" an einer solchen Entscheidung mitzuwirken, braucht man medizinisches, psychologisches und soziologisches Wissen. Gordon Shepherd fragte sich: Woher erhalten die Bürger das für solche schwierigen Fragen wichtige Spezialwissen? Von zwei Grundannahmen ging der Soziologe bei seiner Studie aus:

1. Die besten Experten für diese Fragen sind Wissenschaftler, die sich als Forscher mit den Drogenproblemen befassen.

2. Die politische Öffentlichkeit erhält hauptsächlich über die Medien Zugang zu wissenschaftlichen Experten.

Shepherd meinte deshalb, die Medien sollten in der Berichterstattung vor allem Wissenschaftler/innen zu Wort kommen lassen, die selbst über die medizinischen, psychischen und gesellschaftlichen Effekte von Drogen geforscht hatten. Mit Hilfe des „Science Citation Index" ermittelte Shepherd ungefähr 200 Wissenschaftler/innen, die über das Marihuana-Problem in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatten. Er maß ihre wissenschaftliche Reputation an der Häufigkeit, mit der ihre Arbeiten von Fachkollegen zitiert worden waren. Ferner untersuchte er in einer Stichprobe von Zeitungen, Magazinen und Nachrichtenagentur-Meldungen, welche Personen die Medien als Experten für das Marihuana-Problem zitiert hatten. Schließlich verglich er die beiden Listen mit den Marihuana-Forschern und den Marihuana-Medienexperten.

Ergebnis: Über zwei Drittel der von den Medien zitierten Experten hatten nie selbst zu dem Thema geforscht. Zwischen der Häufigkeit des öffentlichen Auftretens in den Medien und der wissenschaftlichen Reputation als Marihuana-Forscher gab es kaum einen Zusammenhang. Journalisten zitierten in ihrer Berichterstattung also nur selten die produktivsten Forscher. Stattdessen präsentierten sie ihren Lesern vor allem Verantwortliche aus Gesundheitsbehörden sowie prominente Wissenschaftler, deren Arbeitsgebiet aber nicht direkt mit Marihuana zu tun hatte.

Wissenschaft versus Expertise

Sicherlich gibt es manches daran zu kritisieren, wie Journalist/innen ihre Informationsquellen aussuchen. Aber sind die besten Forscher im Allgemeinen tatsächlich auch die besten Experten, wie Shepherd unterstellt?

Die moderne Wissenschaftssoziologie unterscheidet zwischen wissenschaftlichem Wissen und Expertise. Die beiden Soziologen Tom Horlick-Jones und Bruna De Marchi (1995) erklären den Unterschied wie folgt: (Natur-)Wissenschaftliches Wissen bezieht sich im Kern auf das Verstehen von Ursache-Wirkung-Beziehungen. Expertenwissen bezieht sich dagegen auf die Bereitstellung von konkreten Ratschlägen in spezifischen Situationen. Sicher erfordert erfolgreiches Handeln die Antizipation von Handlungsfolgen; insofern ist Kausalwissen notwendiger Bestandteil von Expertise. Aber Expertise ist eben mehr.

Wir können den Unterschied vielleicht am besten am Beispiel der medizinischen Forschung in einer Universitätsklinik verstehen, die ja zugleich der Forschung und der Behandlung dient. Als Forscher ist der Mediziner in der Universitätsklinik daran interessiert, herauszufinden, wie der Körper des Menschen arbeitet und wie Störungen auftreten. Und dabei steht für ihn die Wahrheitssuche im Vordergrund. Als Arzt will er dagegen nicht die Wahrheit ergründen, sondern den Patienten heilen. Er bedient sich dabei unter anderem seines Wissens, das er als Forscher produziert, aber (hoffentlich) auch seiner Erfahrung, seiner Menschenkenntnis, seiner Kenntnis des konkreten Patienten und dessen Lebenssituation sowie ethischer Überlegungen.

Die „Rolle" des Experten

In der psychologischen Expertenforschung sind „Experten" dadurch definiert, dass sie irgend etwas besonders gut können. Ein Autoexperte wäre also jemand, der sich besonders gut mit Autos auskennt. Der Gegensatz zum Experten ist der Anfänger oder Laie. Für Soziologen ist der Experte dagegen durch eine bestimmte soziale Rolle definiert, die vor allem durch folgende Merkmale charakterisiert ist:

Nach unserer Definition sind nur manche Wissenschaftler/innen Experten, und dies auch nur in bestimmten Kontexten (z. B. in Beratungskommissionen). Als „öffentliche Experten" kann man sie dann bezeichnen, wenn sie die Öffentlichkeit als Klienten betrachten und die Öffentlichkeit komplementär von ihnen Beratung erwartet.

Wertfreie und objektive Expertise?

Wissenschaftler/innen, die in der Öffentlichkeit auftreten, sehen sich selbst oft gern als unabhängige und kompetente Experten. Wie aber schätzt die Öffentlichkeit diese Wissenschaftler/innen ein?

In einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Stuttgarter Gentechnik-Verbundes wurden 1997 in Deutschland 1.500 Personen Aussagen über Gentechnik-„Experten" vorgelegt (vgl. Peters 1999). Die Befragten konnten zu jeder Aussage auf einer fünfstufigen Skala (von -2 bis +2) Zustimmung oder Ablehnung äußern. Zwei Aussagen betreffen die wahrgenommene Sicherheit des Expertenwissens. Zwei weitere Aussagen beziehen sich auf die Neutralität der Experten. Die Grafik stellt die Mittelwerte der Antworten dar.

Ein Ergebnis der Befragung ist: Die Befragten glauben mehrheitlich nicht, dass Gentechnik-Experten immer recht haben. Sie stimmen beispielsweise der Aussage zu, dass es ratsam ist, vorsichtig gegenüber dem Wissen der Experten zu sein. Die Bevölkerung weiß also um die Unsicherheiten, die auch im Wissen von Experten vorhanden sind.

Ein zweites Ergebnis lautet: Die Befragten unterstellen den Gentechnik-Experten eine Interessenorientierung. Die Mehrheit von ihnen glaubt nicht, dass Gentechnik-Experten unabhängig sind und das öffentliche Wohl im Blick haben. Im Mittel ergibt sich beispielsweise eine deutliche Zustimmung zu der Aussage, dass Experten die Interessen derjenigen vertreten, die sie bezahlen.

Wir können aus diesen und vielen anderen Ergebnissen schließen, dass Wissenschaftler als öffentliche Experten in vielen Fällen zwar hohes Ansehen genießen. In manchen Fällen, vor allem in den gesellschaftlichen Kontroversen um neue Technologien, wird ihnen jedoch Parteilichkeit unterstellt. Daraus ergibt sich eine ambivalente Haltung: Auf der einen Seite weiß die Bevölkerung, dass es ohne Experten und ohne Vertrauen in Experten nicht geht. Auf der anderen Seite findet sie durchaus nachvollziehbare Gründe, skeptisch gegenüber Experten zu sein.

Geforderte Qualifikationen öffentlicher Experten

Denken wir noch einmal zurück an Gordon Shepherd und sein Ergebnis, dass von den Medien nicht die besten Forscher als öffentliche Experten präsentiert wurden. Offenbar gibt es einen Unterschied zwischen der Kompetenz von Wissenschaftlern als Forscher und ihrer Qualifikation als Experten. Welche Eigenschaften erwarten wir von einem „idealen" wissenschaftlichen Experten?

Zunächst natürlich braucht ein idealer Experte Fachkompetenz, und zwar solche Fachkompetenz, die zur Lösung des Problems beitragen kann. Zweitens braucht der ideale Experte einen Blick für Zusammenhänge. Drittens braucht er eine Reihe von Fähigkeiten, um sein Wissen nutzbringend für den Klienten anwenden zu können. Dazu gehören:

Ein idealer Experte besitzt alle diese Eigenschaften in einem ausgewogenen Verhältnis. Wir können nur darüber spekulieren, ob ausgerechnet die besten Forscher auch alle erforderlichen Eigenschaften eines guten Experten besitzen. Für mich ist es plausibel, dass das nicht unbedingt der Fall ist. Vielleicht erklärt dies zumindest teilweise Shepherds Befund, dass Journalisten ihre Expertenquellen nicht in erster Linie aus den aktiven Forschern auswählen. Es sind womöglich oft tatsächlich wissenschaftlich ausgebildete und die Fachdiskussion verfolgende „Praktiker" (z. B. aus Verbänden oder Behörden), die am besten die Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen können. Ähnliche Fähigkeiten haben vielleicht auch manche erfahrenen Wissenschaftler, die ihre aktive Forscherkarriere bereits abgeschlossen haben, aber die wissenschaftliche Entwicklung in einem größeren Bereich kompetent verfolgen und bewerten können.

Konsequenzen für die Wissenschaft

Wissenschaftler kolportieren regelmäßig schlechte Erfahrungen mit den Medien. Befragungen zeigen aber, dass die bei weitem meisten Kontakte mit Journalisten zur Zufriedenheit beider Seiten ablaufen (vgl. Projektgruppe Risikokommunikation 1994). In mancher Beziehung ist die Expertenrolle eine besonders dankbare: Wenn Journalisten ihrem Publikum Wissenschaftler als „Experten" präsentieren, werden sie ihnen in den allermeisten Fällen neutral bis freundlich begegnen und versuchen, sie gut „aussehen" zu lassen. Es ist nämlich in ihrem Sinne, dass die Experten in ihren Beiträgen eine gute Figur abgeben. Anderenfalls würden sich die Journalisten wegen der Auswahl ungeeigneter Experten selbst ein Armutszeugnis ausstellen. Andere denkbare Rollen für Wissenschaftler - vor allem als „Advokat" für die eine oder andere Seite in einer Kontroverse um Technik-, Umwelt- oder Nahrungsmittelrisiken, als Interessenvertreter in eigener Sache und sogar als Forscher - beinhalten viel mehr Konfliktpotenzial.

Wenn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den Medien als öffentliche Experten auftreten, müssen sie eine schwierige Gratwanderung vollziehen. Sie müssen beispielsweise Kompromisse zwischen klassischen wissenschaftlichen Tugenden (Genauigkeit, Distanz zu Wertfragen und politischen Entscheidungen, Sachlichkeit) und den Erwartungen des Journalismus eingehen. Außerdem müssen sie über ihre Fachkompetenz hinaus Kommunikationsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, entscheidungsanalytische Fähigkeiten und Empathie mit dem Medienpublikum besitzen. Natürlich hat nicht jeder einzelne Wissenschaftler alle diese Eigenschaften; das ist auch gar nicht nötig. Die Wissenschaft und die entsprechenden scientific communities müssen jedoch im Rahmen einer Arbeitsteilung dafür sorgen, dass es genügend Wissenschaftler/innen unter ihnen gibt, die als „öffentliche Experten" das wissenschaftliche Wissen für die öffentliche Meinungsbildung nutzbar machen. Und es ist Aufgabe des Journalismus, dies von der Wissenschaft einzufordern.

Literatur

Horlick-Jones, Tom/De Marchi, Bruna (1995): The crisis of scientific expertise in fin de siècle Europe. In: Science and Public Policy, Vol. 22, No. 3, S. 139-145

Peters, Hans Peter (1999): Das Bedürfnis nach Kontrolle der Gentechnik und das Vertrauen in wissenschaftliche Experten. In: Hampel, Jürgen/ Renn, Ortwin (Hrsg.): Gentechnik in der Öffentlichkeit. Frankfurt/M., S. 225-245

Projektgruppe Risikokommunikation (1994): Kontakte zwischen Experten und Journalisten bei der Risikoberichterstattung. Ergebnisse einer empirischen Studie. Institut für Publizistik der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. URL: http://www.fz-juelich.de/mut/medien/pdfdatei/proj-grup.pdf

Shepherd, Gordon R. (1981): Selectivity of sources: Reporting the marijuana controversy. In: Journal of Communication, Vol. 31, No. 2, S. 129-137


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2002

Hans Peter Peters, Wissenschaftler als "öffentliche Experten". Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/22002/positionen2.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp