DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Frankreich: Die schwierige Entdeckung des Berufswissens

Jean-Louis Kirsch/Annie Bouder

Anlässlich des Anfang 2002 verabschiedeten Gesetzes über die Validierung des Erfahrungswissens reflektieren die beiden Autoren vom »Centre d’Études et de Recherches sur les Qualifications« (Céreq) die lange Geschichte der Anerkennung individueller Fähigkeiten und insbesondere der an der Arbeitsstelle erlangten Kenntnisse.

Das Anfang des Jahres 2002 verabschiedete Gesetz über die Validierung des Erfahrungswissens zeugt von einer wichtigen Entwicklung im Bereich der Anerkennung individueller Fähigkeiten und insbesondere der an der Arbeitsstelle erlangten Kenntnisse. Um die Bedeutung und Tragweite des Gesetzes zu verstehen, muss es vor dem Hintergrund der französischen Auffassung gesehen werden, dass es schwierig ist, die Berufsausbildung losgelöst von der allgemeinen Bildung zu sehen, so wie auch die Ausbildung Erwachsener nur schwer erörtert werden könne, ohne sich auf die der Jugend zu beziehen. Der folgende Text bietet eine geschichtliche Betrachtung unter Einbeziehung dieser Zusammenhänge und zeigt die Schwierigkeiten auf, die ein kartesianisch geprägtes Denken damit hat, das Bestehen eines spezifischen Berufswissens anzuerkennen.

Die 70er Jahre – Das Berufswissen: ein angewandtes theoretisches Wissen ?

Die 70er Jahre fallen mit der Schaffung eines zusammenhängenden und nach Niveaustufen und Zweigen geordneten Bildungssystems zusammen: die technische und berufliche Ausbildung ist als besonderer Wissenszugang auf der Basis einer Induktionspädagogik vertreten. Die allgemeine Bildung folgt dagegen einer Deduktionspädagogik und wird insofern als Modell des akademischen Erfolgs bei der Beherrschung des erworbenen Wissens angesehen, als die Theorie die Praxis rechtfertigt. In beiden Fällen wird dabei die Theorie bevorzugt. Während aber einige Schüler direkten Zugang zu ihr haben, müssen andere einen Umweg über die Praxis machen. Dieses System ist gewiss insoweit unausgeglichen, als die schulisch am meisten Benachteiligten auf den Berufsweg geschickt werden. Nichtsdestotrotz bietet es einer ganzen Bevölkerungsgruppe eine Fortsetzung der Ausbildung an, die vorher davon ausgeschlossen war und stellt eine Durchlässigkeit her, die jederzeit auf eine Wiedereingliederung in den allgemeinen Bildungszweig hoffen lässt. Dabei funktioniert es wie eine geteilte Destillationssäule, um das von Antoine Prost entworfene Bild zu gebrauchen. Der Erziehungshistoriker beschreibt darüber hinaus den „Einzug der Lehrberufe in die Schulen" als einen besonderen Wesenszug des französischen Systems der Berufsausbildung.

Die zu Beginn der 70er Jahre gesetzlich geregelte berufsbegleitende Ausbildung folgt einem durch und durch schulischen Schema. Einerseits wird sie als zweite Chance betrachtet, die es denjenigen erlaubt, die nur eine geringe Grundbildung erworben haben, ihr Handicap zu beseitigen und dieselben Abschlüsse zu erwerben wie alle anderen auch. Andererseits veranlassen die von den Unternehmen verlangten administrativen und finanziellen Nachweise diese dazu, die Umsetzung ihres Ausbildungsplans Anbietern zu überlassen, die sich kaum am klassischen Modell der Pädagogik orientieren und sehr oft dem Lehrerstand angehören. Ein frappierendes Beispiel für diese Mimikry liefert die Association nationale pour la Formation professionnelle des Adultes (Vereinigung für die Berufsausbildung Erwachsener), die dem Arbeitsministerium angeschlossen ist. Sie neigt mehr und mehr dazu, die im Rahmen ihrer Ausbildungsangebote erteilte Lehre zu theoretisieren.

Alles stellt sich mithin so dar, als wäre das Berufswissen ein praktisches Wissen, das seinerseits einem angewandten theoretischen Wissen entspricht. Diese Ansicht lässt sich sowohl mit der Auffassung in Zusammenhang bringen, die man seinerzeit vom technischen Fortschritt hatte, als auch mit der französischen Tradition, die manuelle Arbeit gering zu schätzen und die intellektuelle Arbeit zu idealisieren. Der Aufbau des Berufsbildungssystems in Frankreich ist damit paradoxerweise durch ein Auseinanderdriften der Ausbildungs- und der Produktionsebene gekennzeichnet, mit Ausnahme der handwerklichen Ausbildung, die als ein Überbleibsel aus einer dem Untergang geweihten Vergangenheit angesehen wird.

Die 80er Jahre – Die Bedeutung der Arbeitsstelle

Die Einführung des baccalauréat professionel im Jahre 1985 bedeutete einen konzeptionellen Wandel in der primären Berufsausbildung.

Zunächst bot der Abschluss die Möglichkeit des Zugangs zur Hochschulausbildung nach Absolvierung eines rein berufspraktischen Ausbildungsgangs, was diesen auf gleiche Ebene mit den Abschlusszeugnissen der allgemeinbildenden Schulen stellt, die zuvor für den Hochschulzugang erforderlich waren. Diese Möglichkeiten sind gewiss begrenzt, da weniger als 30 % der Inhaber eines baccalauréat professionel ihre Studien fortsetzen und viele dabei scheitern: Den Lehrern zufolge fehlt ihnen theoretisches Wissen und Abstraktionsvermögen. Insofern nähert man sich wieder den traditionellen Werten der Ausbildung in Frankreich an.

Andererseits geht die Schaffung einer Musterliste der beruflichen Tätigkeiten der Bestimmung der Ausbildungsinhalte voran. Was aber auf der Hand zu liegen scheint, stellt tatsächlich eine bedeutende Umwälzung dar. Freilich wurde die Beschreibung der Tätigkeiten, deren Beherrschung die Berufsausbildung gewährleisten sollte, vormals sehr schnell abgehandelt, um nicht zu sagen offensichtlich umgangen. Der Kern der Debatte betraf die Art und das Gewicht der Schulfächer, die in das Programm aufgenommen werden sollen. Die Pflicht, eine vorausgehende und genaue Beschreibung zu liefern und sich anschließend darauf zu beziehen um die Inhalte der Ausbildung und die Wege der Zertifizierung zu rechtfertigen, ändert das Wesen der Übung gänzlich. Die Veränderung hat sich gewiss nicht von einem Tag auf den anderen ergeben, aber die Schaffung des neuen Abschlusses baccalauréat professionnel und das Auftauchen neuer Ausbildungsrichtungen, um mit der Entwicklung des tertiären Sektors Schritt zu halten, haben eine relativ schnelle Verbreitung erlaubt.

Die wohl bemerkenswerteste Neuerung war, dass das Kurrikulum des baccalauréat professionnel für die Ausbildung im Unternehmen eine Mindestdauer von je nach Spezialisierung sechs bis zwölf Wochen im Jahr vorsah. Hierfür wurden Noten vergeben, die bei der Verleihung des Abschlusses berücksichtigt wurden. Vereinfacht gesagt, bedeutet dies den Einbruch des Chaos in eine organisierte und programmierte Welt: Wie sollten die während der Zeit im Unternehmen gemachten Erfahrungen in ein pädagogisches Konzept gepasst werden, wo doch der Unternehmensbetrieb es nur selten erlaubt, einer formalen Logik des Wissenserwerbs zu folgen? Schlimmer noch: Wie benotet man den Ausbildungsabschnitt, der sich dem Gleichheitskanon entzieht, nach dem alle Schüler auf der Grundlage identischer und unter vergleichbaren Bedingungen abgelegter Prüfungen beurteilt werden sollen? Dieser neue Aspekt zog grundlegende Überlegungen bezüglich neuer Formen der Begleitung und Evaluierung nach sich, die Schaffung der Stelle eines Tutors im Unternehmen, sowie die Notwendigkeit, das Arbeitsumfeld in seiner Realität und Komplexität zu begreifen.

Dieser Ansatz wurde mit dem Ergebnis verfolgt, dass zu Beginn der 90er Jahre sogenannte Verfahren zur Validierung der Kenntnisse eingeführt wurden. Sie wurden Anfang 2002 durch die Bestimmungen des Gesetzes über die soziale Modernisierung ausgeweitet.

90er Jahre – Die Validierung des Berufs- und Erfahrungswissens

Unter Berufs- und Erfahrungswissen versteht man die ausschließlich durch die Ausübung einer Tätigkeit erworbenen Kenntnisse, Know-how und Verhaltensweisen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese Tätigkeit beruflich oder außerberuflich ist, solange der Aneignung der Kenntnisse keine Ausbildungsleistung im engeren Sinne vorangegangen ist oder sie beeinflusst hat.

Für die oben beschriebene französische Tradition bedeutet dies einen geradezu revolutionären Schritt: es ist nicht notwendig, unterrichtet worden zu sein, um etwas gelernt zu haben. Kenntnisse ergeben sich bei der Arbeit unabhängig von Ausbildungsleistungen und diese Kenntnisse sind nicht bloß technischer Natur, da sie begriffliche Abstraktion mit sich bringen.

Seit 1992 ist die Validierung des Berufswissens für den Erwerb von Diplomen anerkannt. Dennoch konnte sie nicht gänzlich erlangt werden. Ein oder zwei Ausbildungsabschnitte und je nach Ausmaß der erworbenen Validierung mehr oder weniger wichtige Prüfungsleistungen blieben verpflichtend. Die Berufspraxis hatte sicherlich ihren Wert, konnte allein aber nicht ausreichend sein. Überdies berücksichtigen die Validierungsverfahren weiterhin nur die bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit erworbene Erfahrung.

Eine aktuelle Bilanz der Durchführung der Validierung der Kenntnisse aufgrund der Bestimmungen des Gesetzes von 1992 über die Validierung des Berufswissens (VAP) zeigt mindestens zwei Tendenzen bei der Anwendung der Bestimmungen auf: die Vereinfachung der Ausbildungsgänge durch Verkürzung einerseits und die Anerkennung eines gewissen Kenntnisstandes im Hinblick auf Mobilität, Verhinderung der Arbeitslosigkeit und Qualitätssicherung andererseits. In einer ganzen Reihe von Fällen sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber dabei Partner und manchmal sind die Arbeitgeber selbst Auslöser der Einleitung eines solchen Verfahrens. Aber die Auswirkungen der VAP sind eher qualitativer als quantitativer Natur. So wurden im Jahre 2000 nur 4600 Anträge eingereicht.

Das Gesetz von 2002 erweitert deutlich den Anwendungsbereich des Gesetzes von 1992. Es führt zunächst den Begriff des Erfahrungswissens im erweiterten Sinne ein (die bei der beruflichen oder freiwilligen Ausübung einer Tätigkeit erworbene Erfahrung, unter Ausschluss der häuslichen und familiären Tätigkeiten). Seine mögliche Nutzung wird auf die Erlangung jeglicher Zertifizierung ausgeweitet, selbst die nicht von einer öffentlichen Stelle erteilte. Und schließlich sieht das Gesetz vor, dass eine Zertifizierung gänzlich nach diesem Verfahren erfolgt.

Trotz aller Aspekte des neuen Gesetzes, die eine Zäsur mit der französischen Tradition bedeuten, verbleiben doch zwei Elemente, die die nationale Verankerung der geltenden Bestimmungen wahren. Zunächst wurde diese Bindung mit der Schaffung einer Musterliste der Tätigkeiten beibehalten und verstärkt. Es geht dabei nicht um die Validierung einer Unzahl von Fertigkeiten, Kenntnissen und Know-how ohne Verbindung untereinander, sondern darum, die Validierung unter dem Blickwinkel der professionalisierten Identifikation zu sehen. Und diese Identifikation findet ihre Gestalt in den beruflichen Zertifizierungen. Man ist natürlich noch weit von der deutschen Konzeption des Berufs entfernt, hat aber eine vergleichbare Auffassung der beruflichen Identität: die Validierung des Erfahrungswissens hat den Erwerb einer Berufszertifizierung zum Ziel.

Dabei handelt es sich um das zweite Element der starken Bindung an die französische Tradition: die Bedeutung des Diploms und der Zertifizierung im allgemeinen. Die Mechanismen des französischen Arbeitsmarktes, die Tarifverhandlungen und die Gestaltung des öffentlichen Dienstes, um nur diese zu nennen, werden durch die Existenz und Struktur der Zertifizierungen umfassend beeinflusst. Eine Validierung von Kenntnissen, die dies nicht berücksichtigt, hätte kaum Aussichten auf eine wirkliche Nutzung.

Aus diesen Gründen sieht das Gesetz von 2002 den Aufbau eines nationalen Registers der Zertifizierungen (RNC) vor, das die bestehenden Zertifizierungen in Übereinstimmung bringt. Es macht darüber hinaus ein Musterliste der beruflichen Tätigkeit für jede Zertifizierung verpflichtend, deren Schöpfer eine Eintragung im RNC beantragt.

Fast ein Jahr nach seiner Verkündung erlebt das neue Gesetz nun den Beginn seiner Umsetzung. Das hierfür vorgesehene Handwerkszeug wird gerade geschaffen bzw. vollendet. Und die Erwartungen der Öffentlichkeit, der es zu Gute kommen soll, werden als groß beschrieben: Während eines jüngst veranstalteten Kolloquiums scheuten sich einige Verantwortliche nicht, von 30.000 Kandidaten allein im Jahr 2003 zu sprechen. Mehrere Ungewissheiten bleiben aber bestehen: Könnte eine derart große Wirkung nicht die Akzeptanz der im Wege der Validierung des Erfahrungswissens erlangten Zertifizierung beeinträchtigen ? Wird die möglicherweise gänzliche Abwesenheit einer Ausbildung bei ihrem Erwerb ihr in den Augen der Akteure auf dem Arbeitsmarkt und in der Hochschulausbildung den gleichen Wert verleihen? Wird ein Diplom unterschiedlich behandelt, je nachdem, ob es im Rahmen einer Ausbildung oder im Wege der Validierung des Erfahrungswissens erlangt worden ist? Wäre dies der Fall, dann wäre die Beförderung des Berufswissens in den Rang des „echten" Wissens gescheitert.

Übersetzung: Dominik Düsterhaus

 


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2003

Jean-Louis Kirsch, Annie Bouder, Frankreich: Die schwierige Entdeckung des Berufswissens.
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/22003/kirsch03_01.htm
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