DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Junger Wilder trifft alten Hasen

»Bericht politische Bildung 2002« in der Diskussion mit Theo W. Länge und Karsten Rudolf Theo W. Länge und Karsten Rudolf

DIE: Herr Rudolf, im Zusammenhang mit Ihrem »Bericht politische Bildung 2002« monieren Sie, die politische Bildung sei zu wenig an den Bedürfnissen der Bürger orientiert. Diese wünschten sich kompakte informative Angebote und vor allem auch mehr Aktualität.

Rudolf: Ja, nehmen wir zum Beispiel das Thema Wahlkampf: In der Befragung haben über 43 Prozent der Bevölkerung gesagt, sie wünschten sich in Wahlkampfzeiten eine Unterstützung durch eine überparteiliche und unabhängige Beratungsstelle. Im Zusammenhang der Kommunalwahl 2001 in Hessen ging es zudem um die Einführung des Kumulierens/Panaschierens. Hier stand eine originäre (Vermittlungs-)Aufgabe politischer Bildung an. Bei der Träger- und Angebotsanalyse stellte sich heraus, dass dort ein ungedeckter Bedarf war: 66 Prozent der Träger in Hessen haben hierzu kein Bildungsangebot gemacht. Dabei hätten sie dies lange im Voraus planen können. Wenn man in diesen Zeiten keine Träger politischer Bildung auf der Straße findet, die den Menschen etwas erklären, dann ist da ein Problem.

Länge: Das wird der Profession nicht gerecht, wenn Sie pauschal sagen, dass die Trägereinrichtungen warten, bis die Leute in ihre Häuser kommen. Vielleicht können wir konzidieren, dass es zu selten vorkommt, das schnell auf aktuelle Entwicklungen reagiert wird. Hier stellt sich auch die Frage der Kapazitäten – wer schnell reagieren will, muss die Möglichkeiten haben, flexible Angebote zu erarbeiten und durchzuführen. Trotzdem hat zum Beispiel eine Fülle von Trägereinrichtungen nach dem 11. September Veranstaltungen zum Themenkreis angeboten. Es gibt viele Einrichtungen, die wirklich raus gehen, die auch zu den Zielgruppen gehen, die auch in Kooperation treten.

Rudolf: Zu den Angeboten zum 11. September ist festzustellen, dass in den zwei Monaten nach den Anschlägen das Interesse am größten und die Angebotslage im Gesamten – und darum geht es, nicht um Einzelfälle – ungenügend war. Im Bericht wird auf eine entsprechende Trägerbefragung eingegangen. Hier möchte ich zum Nachdenken, zur Umorientierung und Kreativität anregen. Es nützt den Bürgern nichts, wenn wir auf die Förderkriterien und die beschränkten Ressourcen verweisen. Dann muss man eben anfangen, darüber zu diskutieren. Aber zu Ihrem letzten Punkt: Was heißt »Rausgehen« konkret? Ich verstehe darunter wahrscheinlich etwas anderes als Sie.

Länge: Ich meine mit »Rausgehen« beispielweise, dass wir stark arbeitswelt- und arbeitsplatzorientiert arbeiten. Dass wir, weil das Interesse der Menschen sich nicht einfach segmentieren lässt, mit der kulturellen Bildung oder der Sozialarbeit kooperieren. Um die Menschen zu erreichen, muss politische Bildung durchaus auch ihre Grenzen überformen, wenngleich es wichtig ist, dass sie tatsächlich die bedient, die wir die Aktiven nennen, weil von ihnen die gesellschaftspolitische Entwicklung, die Demokratisierung abhängt, aber zugleich die nicht vergisst, die zentrifugal aus dieser Gesellschaft herausfallen. Politische Bildung hat einen Spagat zu machen über dem Riss, den es in der Gesellschaft gibt.

DIE: Nun votiert Herr Rudolf in der Auslegung seiner Befragungsergebnisse genau dafür, neben den Eliten und den Ausgegrenzten gewissermaßen verstärkt den Normalbürger zu erreichen.

Rudolf: Genau, der Bericht hat gezeigt, dass politische Bildung ein viel größeres Potential erreichen kann als die bisherigen 5 Prozent der Bevölkerung. Ich habe ein »konkretes« Potential von ca. 10 Prozent und ein »mögliches« Potential von weiteren 38,5 Prozent ermittelt, das von politischer Bildung erreicht werden könnte. Beim »möglichen« Potential ist es wichtig, auf eher kompakte Informations- und Bildungsangebote zu setzen. Diese Bürgerinnen und Bürger wollen eine Dienstleistung, die ihnen Informationen, eine »Bildung in Häppchenform« oder »Bildung im Vorbeigehen« ermöglicht. Das mag dem einen oder anderen politischen Bildner nicht gefallen. Für mich ist diese Erwartungshaltung der Bevölkerung nur logisch, wenn man sich die Lebenssituation der Menschen ansieht. Die Zeitbudgets sind begrenzt. Politik wird – auch in Zukunft – nur einen sehr geringen Teil im Leben der Menschen ausmachen, auch wenn das zu bedauern ist.

Länge: Ich bezweifle zutiefst, dass es nur fünf Prozent sein sollen, die von politischer Bildung profitieren. Aber diese Frage hängt letztlich am Begriff von politischer Bildung, den man zugrundelegt. Im übrigen haben wir kein originäres Zahlenmaterial und der »Bericht« geht nur unzureichend darauf ein, was von wem tatsächlich genutzt wird. Das ist der Grund, warum wir jetzt als vier große Trägereinrichtungen zusammen mit dem DIE die Weiterbildungsstatistik für den Bereich der politische Bildung stark ausbauen und entsprechende neue Erhebungsmerkmale erarbeitet haben. – Aber jetzt zur politischen Bildung »im Vorübergehen«: Wir haben da überhaupt nichts gegen. Alles, was hilft, die Bürger und potentiellen Teilnehmer zur politische Bildung hin zu führen und zu interessieren, ist wichtig und gut. Aber wir müssen doch sehen, dass das Bedürfnis nach Informationen letztlich einer großen Orientierungslosigkeit geschuldet ist. Nehmen wir das Beispiel Irak. Hier hat die politische Bildung natürlich die Aufgabe zu informieren. Aber nicht nur. Denn es geht darum, diese Informationen in den Kontext einzubeziehen. Warum gibt es eigentlich diesen Krieg? Was sind die Interessen dahinter? Wie stehen die Iraker überhaupt zu ihrem Regime? Welche Rolle spielt der interkulturelle Dialog? Funktioniert er? Welche Bedeutung haben die interreligiösen und ökonomischen Differenzen? Es nützt uns kein Bürger, der diese Information nur aufnimmt, sie aber nicht verarbeitet, auch mit anderen nicht kommuniziert, sich keine Meinung bildet und sich dann auch nicht engagiert der Wirklichkeit zuwendet. Informationen müssen verarbeitet werden, und das leisten Menschen, die sich nicht nur informieren, sondern diese Informationen bewerten und dann zu einer Position und zum Handeln finden. Im Grunde genommen geht es in der politischen Bildung um Orientierung im demokratischen Meinungsstreit. Es ist nämlich für den Bürger überhaupt nicht klar, was richtig und was gut ist, weil alles strittig ist.

Rudolf: Politische Bildung fängt dort an, wo eine überparteiliche Orientierungshilfe gegeben wird. Sie bietet Hilfen im politischen Alltag und kommt zu den Bürgern. Wir müssen uns ein bisschen verabschieden von der – überspitzt formuliert – pädagogischen Mission, die besser meint zu wissen, was politische Bildung ist und was das geeignete Format ist, um entsprechende Inhalte zu thematisieren. Wir müssen hin zu mehr Bürgerorientierung, bewusst nicht »Teilnehmerorientierung« oder »Kundenorientierung«, sondern »Bürgerorientierung«.

Länge: Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, dass Sie sagen, die politische Bildung missioniere. Solche Etikette verteilen auch manche Politiker. Dieses Bild von politischer Bildung stammt aus der Zeit um 1968 und später, als häufig versucht wurde, bestimmte politische Ideen den Menschen in die Köpfe zu pflanzen. Auch in der außerschulischen politischen Bildung gilt der Beutelsbacher Konsens. Es gibt also ein Überwältigungsverbot, das heißt die politische Bildung ist aufgerufen, unterschiedliche Positionen gleichrangig zu verdeutlichen. Dabei muss sie nicht auf ihren Wertekonsens verzichten, der ihre politische Bildungsarbeit leitet. Mission, Indoktrination, Agitation, das sind Begriffe von vorgestern.

DIE: Sehen Sie denn den Beutelsbacher Konsens in Gefahr, Herr Rudolf?

Rudolf: Es gibt Träger, die sehr stark ihrem Trägerverständnis unterworfen sind, nämlich die interessengruppenorientierten Bildungsträger: Parteistiftungen, kirchliche und gewerkschaftliche Einrichtungen, die legitimerweise ein gewisses Trägerverständnis haben und gewisse Zielgruppen bearbeiten. Wenn sich kirchliche Erwachsenenbildung mit der Gentechnologie befasst, dann tut sie dies unter einem bestimmten Blickwinkel. An dieser Stelle ist der Beutelsbacher Konsens in Gefahr und dann handelt es sich nicht mehr um politische Bildung.

Länge: Wenn Akademien zu einer Tagung zur Gentechnikdebatte einladen, dann gilt dort der Beutelsbacher Konsens, das ist doch gar keine Frage. Denn es geht bei der Diskussion unterschiedlicher Informationen und Positionen gerade nicht darum, dass eine »übergeordnete Instanz« – selbst wenn sie sich als »überparteilich« bezeichnet – sagt, wo es lang gehen soll.

Rudolf: Damit ich nicht missverstanden werde. Ich habe nichts gegen eine interessengruppenorientierte und milieubezogene politische Bildung. Aber sie muss sich eingestehen, dass sie sich an ihre eigene Funktionselite wendet. Bis jetzt erreicht politische Bildung hauptsächlich diese Elite und muss sich jetzt mehr der Gesamtbevölkerung zuwenden. Das ist das Einzige, wofür ich plädiere. Hierzu wäre eine saubere Trennung von Breiten- und Elitenbildung erforderlich. Die Elitenbildung kann bleiben, wo sie momentan stattfindet, bei den interessengruppenorientierten Trägern. Die Breitenbildung sollte bei interessengruppen-ungebundenen Trägern angesiedelt sein, weil die Bevölkerung sich primär durch diese angesprochen fühlt. Dabei liegt der Schwerpunkt der Elitenbildung auf längeren, eine tiefere Analyse befördernden Angeboten, während für die breite Masse eher konkrete und kompakte Angebote gedacht bzw. von dieser gewünscht sind.

DIE: Halten Sie die Unterscheidung von Breiten- und Elitenbildung für gut, Herr Länge?

Länge: Ich würde eine andere befürworten. Ich würde nicht Breiten- und Elitenbildung unterscheiden, sondern Menschen, die ein Informationsbedürfnis haben, und Menschen, die ein Bildungsbedürfnis haben. Weil sowohl die Interessierten und Aktiven als auch diejenigen, die Sie als die breite Masse bezeichnen, ein Informations- und ein Bildungsbedürfnis haben. Und hier stellt sich auch eine Frage an Ihren Begriff von politischer Bildung, der in meinen Augen sehr umfassend ist, weil er von Seminaren über Beratungsbüros, internetgestützten Informationen alles bis hin zu Broschüren einschließt. Wenn man einen solch breiten Bildungsbegriff hat, dann muss man sich nicht wundern, wenn man ein Potential von 38 plus 10 Prozent identifiziert. Für uns Träger sind Informationen und Wissen die Grundbedingungen, um sich überhaupt politisch auseinandersetzen zu können. Und das Eigentliche, was der Information folgt, geschieht in einem grundständigen Dialog von Menschen, die das Interesse haben, sich zu positionieren, unterschiedliche Werthaltungen zu reflektieren, zu einer Position und damit auch zu einer politischen Verständigung und zum politischen Handeln zu kommen. Es geht um Bildung und nicht um Information, und deshalb kann ich die Unterscheidung zwischen Breiten- und Elitenbildung an dieser Stelle überhaupt nicht nachvollziehen.

DIE: Aber das könnte vielleicht die Abrechnungspraxis ehrlicher machen...

Rudolf: Die Trennung soll als kooperative Trennung verstanden werden: den interessengruppen-orientierten Anbietern soll insofern entgegengekommen werden, als diese nicht weiter den Zuwendungsgebern gegenüber eine künstliche Offenheit betreiben müssen. Sie könnten sich auf ihre Funktionseliten, auf ihre Milieus konzentrieren, und bekämen auch dafür ihre Mittel, weil eine Demokratie Funktionseliten braucht und sich diese auch leisten sollte. Und warum machen wir es an der Stelle nicht ehrlich und transparent und sagen: Dies ist uns wichtig, wir stellen Budgets bereit für nicht-öffentliche Angebote, die sich an das traditionelle Milieu richten?

DIE: Vielleicht, weil diese Budgets dann disponibel würden. Herr Länge, versuchen Sie das angesprochene Problem mit den Abrechnungsstrukturen anders in den Griff zu bekommen als Herr Rudolf?

Länge: Bei der Mehrheit der Veranstaltungen der politische Bildung gibt es gar keine Probleme. Im Moment sind wir zufrieden mit diesen Förderungsrichtlinien, weil wir die Förderkriterien erfüllen können. Dort, wo Angebote nicht allen offen stehen und nicht öffentlich beworben werden können, wird eben auch nicht finanziert. Und daneben bleibt es uns möglich, ganz bestimmte Zielgruppen anzusprechen, solange auch diese Angebote allen potentiellen Teilnehmern dieser Zielgruppe offen stehen. Das ist auch nicht das Problem. Herr Rudolfs Signal geht ja in eine andere Richtung: Er meint ja, man könnte umschichten in die Breitenbildung, wenn alle interessengebundenen Veranstaltungen nicht mehr gefördert würden.

Rudolf: Um Gottes Willen! Sie sollen nach wie vor gefördert werden, das ist nicht der Punkt. Nur das Problem ist doch: Da wir uns in die Tasche lügen und sagen, die Bildungsträger stehen für alle offen, was aber faktisch nicht so ist, tun wir so, als erreichten wir die breite Öffentlichkeit schon. Das ist aber wie gesagt nicht der Fall und wurde von Ihnen auch nicht empirisch widerlegt.

DIE: Wie beurteilen Sie denn die Chancen für Veränderungen, die sich mit dem »Bericht« ergeben?

Länge: Da ist eine Fülle von Daten enthalten, die uns sicherlich helfen, uns selber zu hinterfragen, die Bedingungen zu klären, unter denen wir arbeiten, und dies dann politisch wirksam werden zu lassen. Das ist das Verdienst von Herrn Rudolfs Untersuchung, man muss sie gar nicht negativ beurteilen. Das Bild wird aber noch erweitert durch zwei Evaluationen, deren Ergebnisse bald vorliegen werden. An der TU Dresden wird mit Mitteln des BMBF die politische Erwachsenenbildung evaluiert, an der FH Darmstadt die politische Jugendbildung. An beiden Evaluationen sind die Träger politischer Bildung beteiligt und sehr interessiert. Natürlich wird die politische Bildung die Ergebnisse dieser Untersuchungen in ihre weiteren Diskussionen einbeziehen. Allerdings muss man deutlich machen, dass empirische Untersuchung nicht die Praxis und die Wirkungen der politischen Bildung in ihrer Vielfalt erfassen können.

Rudolf: Wir sind auf einem guten Weg. Aber es ist wichtig zu sehen, dass die Veränderungsbereitschaft nicht aus dem Fach heraus kommt, sondern von außen aufgezwungen wird, auch das Interesse an Evaluationen. Etwas zugespitzt gesagt: Wenn es politische Bildung in Zukunft nicht mehr geben würde oder man sich darauf einigte, dass sie in anderen Bereichen aufginge, würde es außerhalb der Käseglocke politische Bildung kaum einer wahrnehmen. Und das ist glaube ich das große Problem. Die Nachfrage nach dem Bericht ist enorm, daran sieht man: Im Fach »lechzt« man inzwischen nach Daten. Und die Bereitschaft zu Veränderungen ist auf vielen Seiten da, auch bei Bildungsträgern. Nur das Weiterdiskutieren um Selbstverständnis und Arbeitsweise sowie das Weiterarbeiten an einer Database ist auch wirklich notwendig.

DIE: Danke Ihnen beiden für das Gespräch.

Mit beiden sprach Dr. Peter Brandt (DIE)

Theo W. Länge, Jg. 1945, ist Bundesgeschäftsführer des Bundesarbeitskreises Arbeit und Leben und stand für das Interview zur Verfügung in seiner Funktion als Vorsitzender des Bundesausschusses politische Bildung (bap), dem Zusammenschluss der bundesweit arbeitenden Träger der politischen Bildung.

Karsten Rudolf, Jg. 1974, ist Autor des »Berichts politische Bildung 2002«, einer Marktanalyse, die in der politischen Bildung derzeit intensiv diskutiert wird. Er engagiert sich für die Bürgergesellschaft, u.a. als Vorstandsvorsitzender des Vereins »Büdinger Kreis«. p


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Dezember 2002

Peter Brandt, Karsten Rudolf, Theo W. Länge, Junger Wilder trifft alten Hasen.
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/22003/laenge03_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp