DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Der Lernhabitus – ein Schlüssel zum lebenslangen Lernen

Gertrud Wolf

Dem einen fällt das Lernen schwer, dem andern leicht, der eine bemüht sich, leidet und kommt doch nicht von der Stelle, dem anderen fliegt alles einfach zu, der eine sammelt seine Erfolge ohne Mühe, während der andere verzweifelt und schließlich aufgibt. Manch einer lernt nur unter Zwang, ein anderer gerade dann überhaupt nicht, und dem Wissbegierigen steht jener gegenüber, den die nackte Angst überkommt, wenn er nur das Wort Lernen hört. Wie auch immer, die Rede vom lebenslangen Lernen geht davon aus, dass der Mensch lebenslang lernfähig ist. Aber wie lässt sich diese Lernfähigkeit fassen, bestimmen und beschreiben? Ein wichtiger Begriff, der in letzter Zeit am Horizont des erziehungswissenschaftlichen Diskurses aufgetaucht ist und hier zur Klärung beitragen könnte, ist der Begriff Lernhabitus.

»Lernhabitus« hat seine Wurzeln im Habituskonzept des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Der »Habitus« zeigt sich nach Bourdieu in der Gesamtheit aller Lebensäußerungen in Alltag, Beruf, Kleidung, Verhalten, Geschmack, Werturteilen und so weiter, in die der Mensch einsozialisiert ist und die ihm zur zweiten Natur geworden sind. Im Habitus schlägt sich die Gesellschaft im Individuum auf der Leibebene nieder, er ist das Leib gewordene Soziale.

Bourdieu verwendet hierfür den Begriff Inkorporierung: Der Habitus ist durch primäre Sozialisation in der Familie und sekundäre gesellschaftliche Sozialisation z.B. in Bildungs­in­stitutionen inkorporierte Gesellschaft. »Was der Leib gelernt hat«, schreibt Bourdieu, »das besitzt man nicht wie ein wieder betrachtbares Wissen, sondern das ist man« – und weiter: »Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körper gemachten Werte« (Bourdieu 1976, S. 200).

»Unaussprechlich einverleibt, zur zweiten Natur geworden«

Wichtig am Habitus ist, dass er nicht als angeborene, sondern als erfahrungsabhängige Konstruktion entworfen wird; in ihr repräsentiert sich die Vergangenheit des Individuums, das Gesamt seiner Geschichte. Über den Habitus wirkt die zur Natur gewordene und so vergessene Vergangenheit wie eine Grammatik in die Gegenwart hinein, eine Grammatik, deren Regeln gekonnt, aber nicht gewusst werden.

Dabei stehen nicht die einzelnen Eigenschaften eines Menschen oder ihre Addition im Vordergrund, sondern ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, die den Habitus repräsentieren: »Im Unterschied zur Sozialpsychologie, die den Menschen untersucht, als bestünde er aus einer Summe von Fähigkeiten – Wahrnehmung, Gedächtnis, ästhetische Einstellungen usw. –, habe ich nachzuweisen versucht, dass der Habitus ein generatives, einheitsstiftendes Prinzip bildet, das bewirkt, dass der charakteristische Stil einer Person eine Totalität mit je eigener Physiognomie darstellt« (Bourdieu 1985, S. 386). Mit dem Habitus-Konzept wird demnach zugleich die Einheit der Person, die Kohärenz ihres Handelns, schließlich ihre Identität als sozialer Akteur thematisiert.

Der Habitus ist also vor allem ein soziologisches Konstrukt, das danach fragt, wie sich die Gesellschaft im Individuum niederschlägt und reproduziert. Um die Brisanz des Habituskonzeptes zu begreifen, eignet sich vielleicht ein Blick auf die Geschlechterfrage: Wie viel von dem, was uns als Männer oder Frauen kennzeichnet, ist angeboren, wie viel ist erworben und ist uns doch so zur Natur geworden, dass wir nicht einfach aus unserer männlichen oder weiblichen Haut fahren können? Hier zeigt sich nicht bloß die Tragweite inkorporierter gesellschaftlicher Erfahrung, sondern auch deren Subtilität, die sich einfachen Veränderungen, seien sie auch noch so rational begründet, weitgehend entzieht.

Es liegt auf der Hand, dass nicht nur die Fragen, ob jemand zum Pfeifenraucher oder zum Träger von Röcken und Feinstrumpfhosen wird und ob er Bachs Kunst der Fuge bevorzugt oder die Kastelruther Spatzen lieber mag, Fragen der jeweiligen Habitualisierung sind, sondern dass der Habitus weit in die individuelle Persönlichkeitsstruktur hineinwirkt. Wenn unsere Verhaltensweisen als Äußerungsformen des je besonderen Habitus begriffen werden können, so ist auch der Modus des Lernens nicht vom Habitus zu trennen.

Mit anderen Worten: Die jeweiligen Dispositionen zum Lernen sind ebenfalls habitualisiert. Im Hinblick auf die Befähigung zum lebenslangen Lernen gewährt der Lernhabitus damit vielleicht ein tieferes Verständnis als die ebenfalls aus der Soziologie bekannten Begriffe Einstellungen und Verhalten, die bereits als Lerneinstellung und Lernverhalten in der erziehungswissenschaftlichen Forschung verwendet werden. Schon in den Diskussionen um die Kluft zwischen Einstellung und Verhalten und in der Beobachtung, dass sich das Verhalten teilweise eklatant und geradezu diametral von den Einstellungen abheben kann, zeigen sich die Probleme dieser Begriffe: So kann man eine überaus positive Einstellung zum Lernen haben und trotzdem immer wieder und unbegreiflicherweise dabei scheitern, so wie derjenige, der scheinbar leicht lernt, vielleicht gar keine positive Einstellung dazu benötigt. Im Lernhabitus wird diese Kluft aber nicht einfach aufgehoben, sie ist bloß kein unbedingt zu lösender Widerspruch mehr, der die Kohärenz einer Identität in Frage stellt. Im Gegenteil: Gerade diese Ambivalenzen können Teil des Lernhabitus sein.

»Der Lernhabitus braucht keine Kohärenz.«

Insbesondere für das Verständnis von Lernstörungen und Lernproblemen eröffnet der Begriff Lernhabitus damit einen neuen Zugang. Zunächst einmal wird verständlich, warum Lern­barrieren eben nicht einfach eine Frage guten Willens sind und warum die Einsicht in die Notwendigkeit des Lernens nicht eine rasche und tiefgründige Verhaltensänderung nach sich ziehen muss. So wie Einstellung und Verhalten keine Stellschrauben sind, mit denen Lerndefizite mal eben justiert werden können, so ist der Lernhabitus ein komplexes Gebilde, welches sich einer einfachen Korrektur weitgehend entzieht. Wer also lernferne Schichten für das lebenslange Lernen mobilisieren will, tut gut daran, die Schwierigkeit dieser Aufgabe realistisch einzuschätzen. Einfache Marketingstrategien mögen politische Wirkungen haben, führen aber nicht unbedingt zu den notwendigen nachhaltigen Effekten auf den Lernhabitus.

Bourdieus Habituskonzept ist vor allem im Bereich der Genderdiskussion in der Pädagogik thematisiert worden. Aber Bourdieu selber hat sich bereits intensiv mit der Frage nach den Wechselwirkungen von Bildungsinstitutionen und Habitus auseinandergesetzt. In seinen Untersuchungen zeigt er auch auf, wie Bildungsinstitutionen gerade über den Habitus gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheiten reproduzieren und stabilisieren, indem sie einerseits elitäre Habitusformen belohnen und durch ein falsches Gleichheitspostulat diejenigen nicht genügend fordern, die mit ungünstigeren Habitusvoraussetzungen ihren Bildungsweg antreten.

Da der Habitus selbst bereits das Ergebnis eines Lernprozesses ist, wären aus pädagogischer Sicht auch die Wechselwirkungen zwischen Lernen und Habitus interessant, die dann zur allmählichen Ausdifferenzierung auch des Lernhabitus führen. Zumal der Lernhabitus in besonderer Weise zu Stabilisierung und Reproduktion vorhandener Strukturen beiträgt, da sich in ihm die Veränderungspotenziale des Habitus manifestieren. Der Lernhabitus mag vielleicht gerade eine Schlüsselstellung im Habitus einnehmen, weil er die elitären Schichten mit einer Befähigung zum Lernen ausstattet, durch die sie optimal an die sich wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen angepasst sind, während bildungsferne Schichten nicht nur durch die Defizite nicht erworbener Bildung, sondern insbesondere durch das schwerer wiegende Manko eines generellen Lernunvermögens benachteiligt sind.

Der Lernhabitus umfasst demnach weit mehr als der Lernstil, der nur eine Dimension des Habitus ist, neben z.B. Haltung, Gewohnheit oder Erscheinungsbild, die erst in ihrem Zusammenspiel die individuelle Ausprägung des Habitus repräsentieren. Bourdieu betont dabei besonders den generativen Aspekt des Habitus, der in Auseinandersetzungen um Lernstile oder Lerntypen eine untergeordnete Rolle spielt. Gleichwohl könnten Lernstil- oder Lerntypfragen durchaus zur näheren Untersuchung des Lernhabitus herangezogen werden.

»Der biographische Lernhabitus«

Vielfach bedauert wurde, dass Bourdieu kaum Hinweise auf die psychologischen Implikationen seines (soziologischen) Konzeptes liefert (vgl. Liebau 1987). Herzberg (2004) erweitert die gesellschaftliche Perspektive Bourdieus deshalb noch um eine biographietheoretische. Demnach ist der biographische Lernhabitus nicht nur das Produkt inkorporierter sozialer Strukturen, sondern zugleich das Erzeugungsprinzip biographischer Lern- und Bildungsprozesse. Auch hierbei werden die psychologischen Aspekte des Lernhabitus nur an der Oberfläche berührt. Eine sozialpsychologische Auseinandersetzung mit dem Habituskonzept könnte aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive gewiss sinnvoll sein, da hierbei Fragen nach dem Erwerb des Lernhabitus sowie seinen Veränderungs- bzw. Entwicklungspotenzialen zur Sprache kämen, die unmittelbar pädagogisch verwertbar wären. Gewiss ist davon auszugehen, dass der jeweilige Habitus keinesfalls nur oberflächliche Verhaltensformen repräsentiert, sondern mit tiefenpsychologisch zu beschreibenden Persönlichkeitsaspekten in Verbindung steht, und dass auch diese über den Habitus wirken bzw. von ihm beeinflusst werden.

»Zentrale Rolle des Lernhabitus für die Gestaltung lebenslangen Lernens«

Abschließend kann der Lernhabitus folgendermaßen zusammengefasst werden: Im Lernhabitus präsentiert sich die Gesamtheit der Lerndispositionen eines Individuums, die es im Verlauf seiner Geschichte in primären und sekundären sozialen Kontexten erworben hat. Für die Erwachsenenbildung ist dabei von Bedeutung, dass der Lernhabitus so kreativ wie der Habitus selber ist, der nicht als ein abgeschlossenes Handlungsprogramm im Sinne verinnerlichter, fixierter Regeln und Werte gedacht werden kann, der also nicht nach einer mechanistischen, sondern nach einer systemischen Logik funktioniert (vgl. Krais/Gebauer 2002). Eine gewisse Beharrlichkeit des Habitus ist durchaus sinnvoll, schützt sie den Einzelnen doch vor beliebiger Manipulation. Der Lernhabitus ist zwar durchaus veränderbar, es gilt dabei aber zu berücksichtigen, dass er als Teil des Habitus auch Teil der sozialen Identität des Lernenden ist, der vom Lernenden nicht mal eben über Bord geworfen und verändert werden kann. Demnach lassen sich Bildungsferne nicht einfach bekehren und durch ein geschicktes Marketing in die Bildungsanstalten locken. Denn mit dem – wenn auch nur unbewussten – Eingeständnis eines defizitären Lernhabitus werden womöglich auch tiefere Schichten der Persönlichkeit, vielleicht sogar der individuelle Habitus als solcher, in Frage gestellt. Dass gerade jene Personen, die von ihrer gesellschaftlichen Stellung her ohnehin verunsichert sind, jede zusätzliche Infragestellung ihrer Identität als weitere Verunsicherung empfinden müssen, macht verständlich, warum Bildungsferne Lernen nicht einfach als Lebenshilfe begreifen, sondern manchmal als ein unerträgliches Risiko erleben (vgl. Katzenbach 2004). Der Lernhabitus verweist also auf die Komplexität der Probleme, die sich uns mit der Forderung nach lebenslangem Lernen stellen. Für die Entwicklung und Gestaltung eines gesellschaftlichen Raumes zum lebenslangen Lernen, in dem wirklich alle ihren Platz finden können, sollten Fragen nach dem Lernhabitus deshalb eine zentrale Rolle einnehmen.

Literatur

Bourdieu, P. (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.

Bourdieu, P. (1985): »Vernunft ist eine historische Errungenschaft, wie die Sozialversicherung.« Bernd Schwibs im Gespräch mit Pierre Bourdieu. In: Neue Sammlung, H. 25, S. 376–394

Herzberg, H. (2004): Biographie und Lernhabitus. Eine Studie im Rostocker Werftarbeitermilieu. Frankfurt a.M.

Katzenbach, D. (2004): Wenn das Lernen zu riskant wird. Anmerkungen zu den emotionalen Grundlagen des Lernens. In: Dammasch, F./Katzenbach, D. (Hrsg.): Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Frankfurt a.M., S. 83–104

Krais, B./Gebauer, G. (2002): Habitus. Bielefeld

Liebau, E. (1987): Gesellschaftliches Subjekt und Erziehung. Zur pädagogischen Bedeutung der Sozialisationstheorien von Pierre Bourdieu und Ulrich Oevermann. Weinheim/München

Dr. Gertrud Wolf arbeitet an einer Habilitation zum Thema Beziehung und Wissenserwerb (Universität Duisburg-Essen)