DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Gespräch mit Dr. Paul Bélanger

„Neues Verständnis von Erwachsenenlernen auf globaler Ebene"

 Dr. Bélanger

Dr. Paul Bélanger ist Direktor des UNESCO-Instituts für Pädagogik in Hamburg. - Das DIE-Gespräch mit Paul Bélanger (P.B.) über Dimensionen, aktuelle Sichtweisen und Fragen zur internationalen Erwachsenenbildung führte Herbert Bohn (DIE).

DIE: Herr Dr. Bélanger, im Jahr 1997 fand die 5. UNESCO-Weltkonferenz zur Erwachsenenbildung CONFINTEA in Hamburg statt, an der Sie maßgeblich beteiligt waren. Welches sind Ihrer Ansicht nach heute die wichtigsten Aspekte von Internationalisierung in der Erwachsenenbildung?

P.B.: Nur zwei Jahre vor dieser Konferenz bestand unser Problem noch darin, Leute davon zu überzeugen, daß Erwachsenenbildung oder Weiterbildung - das ist für uns das Gleiche - wichtig genug sei, um ein Votum der Vereinten Nationen darüber herbeizuführen. Daß es gelungen ist, war die erste Überraschung. 1995 oder 1996 war das überhaupt noch nicht klar, weil wir zu dieser Zeit noch einen zu engen Begriff von Erwachsenenbildung hatten. Zum Beispiel haben die Leute im Welternährungsrat (FAO) der Vereinten Nationen mit Recht gesagt: Natürlich, wir haben viele landwirtschaftliche Beratungsprogramme, für 80 Mio. US-Dollar, aber keines zur Erwachsenenbildung. Eine Zeitlang mußten wir sagen: Wir haben viele Aktivitäten im Bereich der politischen Bildung, etwa für Fischer oder für Waldarbeiter, aber nichts für Erwachsenenbildung. Wenn ich mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesprochen habe, sagten die: Wir haben ein Programm zur Gesundheitsförderung, ein Programm zur Gesundheitserziehung, ein Programm zur Information und Kommunikation in Gesundheitsfragen, aber Erwachsenenbildung - nein. Wir machen das zeitweise im Rahmen von Alphabetisierungsprogrammen, aber nicht so oft. Das war eine große Herausforderung weltweit, in Burkina Faso wie in Deutschland, in China wie in den USA. Es gibt viele Erwachsenenbildungsaktivitäten im Gesundheits- oder Umweltbereich, aber keine Kommunikation zwischen diesen Bereichen. Die Leute sagen: Erwachsenenbildung, das ist doch der zweite Bildungsweg für Leute, die im Erwachsenenalter wieder zur Universität gehen wollen. Also das meine ich mit der Erweiterung unseres Begriffes von Erwachsenenbildung - weltweit. Nur ein Beispiel: In Asien haben wir nach dieser Konferenz ein Folgetreffen in Thailand gemacht für alle asiatischen Länder!

Die zweite Überraschung war, wie sich in Hamburg die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß wir von einem Verständnis der Erwachsenenbildung als Alphabetisierung für Erwachsene zu einem Konzept von Erwachsenenlernen kommen müssen, und zwar unter einer die einzelnen Bereiche und bestehenden Kooperationen überspannenden Perspektive. Das ist für meine Begriffe zur Zeit der wichtigste neue Trend auf globaler Ebene. Und das bringt viele Herausforderungen mit sich, weil es z.B. sehr wenige Länder gibt, die die entsprechenden Strukturen, die entsprechende Politik oder Anschauung haben, um darüber zu kommunizieren. Es gibt Interesse in China, wo lokal oder regional eine Politik des lebenslangen Lernens gemacht wird, es gibt Erfahrungen damit in Japan, aber darüber hinaus gibt es nur sehr wenig. Ein paar Initiativen in Katalonien, einige interessante neue Bewegungen in Großbritannien. Hier zeigt sich ein großes Problem. Das ist die zweite bedeutende Überraschung auf globaler Ebene.

DIE: Der Aspekt der Kommunikation - oder Nicht-Kommunikation - zwischen den einzelnen Ländern ist zweifellos ganz wichtig; Sie haben ihn in der Hamburger Erklärung zur Weiterbildung auch ausdrücklich genannt. Bedeutet Internationalisierung aber nicht mehr als Kommunikation? Was versteht man heute unter Internationalisierung in der Erwachsenenbildung?

P.B.: Diese Frage hat sehr viele Aspekte. Viele Entscheidungen, die die Erwachsenenbildung betreffen, werden heute auf übernationaler Ebene gefällt. Das ist ein neues Phänomen. Und dann spielt sich Globalisierung heute nicht mehr nur zwischen den Regierungen ab, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Ein Ziel unserer Konferenz war, all die übernationalen Partner zusammenzubringen: UN, Weltbank, OECD, EU, Asian Diplomat Bank, Europarat. Wir haben das nicht ganz geschafft, aber die Agence de Francophonie war da, das Commonwealth - außer den lateinamerikanischen Ländern - war vertreten, die Arabische Liga war da. Nicht vertreten war die African Agricultural Community, mit der wir allerdings später Verbindung hatten.

DIE: In welcher Hinsicht ist es wichtig, alle diese Institutionen zusammenzubringen?

P.B.: Heute gibt es Entscheidungen, die extrem wichtig sind auf lokalem Niveau, die aber auf globaler Ebene gefällt werden, z.B. was die Finanzierung angeht. Nur ein Beispiel: Die Weltbank hat durch diese Konferenz ein völlig anderes Bild von Erwachsenenbildung bekommen, und das führt in Zukunft vielleicht - so hoffen wir - zu einer Änderung ihrer Politik. Sie wissen sicher, daß die Weltbank in den letzten zwanzig Jahren überall in der Dritten Welt ihre Strukturanpassungsprogramme durchgeführt hat. Dabei wurde in die beiden Bereiche Gesundheit und Erziehung investiert und innerhalb des Bereichs Erziehung eben auch in Erwachsenenbildung - aber nicht formell und auch nicht mit Priorität. Jetzt sieht das anders aus, jetzt sind das drei Bereiche. Weil sie erkannt haben, daß wir nicht dreißig Jahre lang auf die nächste Generation warten können, durch Initialbildung, sondern daß wir jetzt Erwachsenenbildung betreiben müssen. Diese neue Politik hat auch mit der OECD zu tun. Sie hat aber auch mit Privatpersonen auf globaler Ebene zu tun. Wichtig sind auch neue Systeme für Offenes Lernen, neue Technologien als Lehr- und Lernmittel für die Erwachsenenbildung. Und dann natürlich die Globalisierung der Verlage. Und schließlich gibt es auf globalem Niveau neue Vereinbarungen über Umwelt, Gesundheit und Arbeit, die extrem wichtig für die Erwachsenenbildung sind. Das Problem ist also, daß wir heute neue Entscheidungsebenen für die Erwachsenenbildung haben, aber noch keine gesellschaftliche Beteiligung auf diesem globalen Niveau.

DIE: Sie meinen damit relevante gesellschaftliche Gruppen. Welche denn konkret?

P.B.: Die Gewerkschaften sind bis heute im Bereich Weiterbildung sehr schwach. Sie waren in Hamburg vertreten, doch auf Weltniveau sind sie noch sehr schwach. Es ist unglaublich: Sie haben für die ganze Welt nur einen einzigen Vertreter im International Bureau for Adult Education. Dann gibt es den International Council of Adult Education. Der war in einer Krise, er hat sich zwar erholt, aber von der Idee einer Bürgergesellschaft (civil society) und einer Wissensgesellschaft ist man dort noch weit entfernt. Das ist in den Vereinten Nationen genauso wie in Deutschland: Überall gibt es sehr wenig Verbindung zwischen Bildung, Umwelt, Gesundheit und Arbeit usw. Wir brauchen mehr Verbindungen zwischen den Bereichen, den Institutionen und Organisationen und den einzelnen Individuen. Das Potential dafür ist da. Es gibt mittlerweile gute und sinnvolle Initiativen, aber wir müssen diese Ansätze sehr viel stärker entwickeln, fördern und vernetzen.

DIE: Verbindungen schaffen zwischen den einzelnen Bereichen heißt aber auch, nicht nur lokal, regional oder national, sondern auf internationaler Ebene zu denken und zu handeln. Wo innerhalb Europas sehen Sie da Fortschritte, oder wo sind die größten Probleme?

P.B.: Unser Hauptproblem in der Erwachsenenbildung auf Weltniveau ist momentan, daß es einige phantastische neue Ansätze und Konzepte gibt - allerdings ausschließlich für die berufliche Erstausbildung junger Menschen. Beispiel European Training Foundation: Das ist ein Programm für Osteuropa, phantastisch. Aber obwohl man ihm eine extrem hohe Priorität einräumt, entwickelt es sich nur sehr langsam. Und man berücksichtigt dabei nur eine Seite von Erwachsenenbildung. Das gilt für die meisten Organisationen - mit Ausnahme der OECD. Eines der bedeutendsten Ergebnisse der Konferenz in Hamburg ist, daß sich diese neue Sichtweise immer mehr durchsetzt: die multidimensionale und multisektorale Sicht von Erwachsenenbildung. Dabei geht es global gesehen sowohl um die Ermöglichung aktiver Teilhabe als auch um die individuelle, subjektive Befähigung des oder der einzelnen, all die verschiedenen Perspektiven und Bereiche von Erwachsenenbildung kennenzulernen und selbst auszuprobieren. Das sind zwei Dimensionen von unterschiedlicher Dynamik.

DIE: Gibt es Vorschläge oder Ansätze, wie auf internationaler Ebene Verbindungen zwischen den einzelnen Feldern von Erwachsenenlernen hergestellt werden können?

P.B.: Das ist auf globaler Ebene noch problematisch. Die meisten Forschungsinstitutionen - wie auch das DIE - arbeiten noch auf nationalem Niveau. Wir müssen Verbindungen zwischen den
verschiedenen Forschungszentren herstellen. Und es ist sehr wichtig, nicht nur bei technischen Projekten zu kooperieren. Noch wichtiger ist es, langsam ein Verständnis für die übernationale Dynamik von Erwachsenenbildungs- und Weiterbildungspolitik zu entwickeln. Und das ist möglich. Es gibt jetzt Erwachsenenbildungszentren in Südafrika, Indien, Lateinamerika, Nordamerika und Osteuropa. In Westeuropa natürlich auch, etwa die Nordic Folk Academy, die Universität Florenz und viele andere. Sicher benötigen wir dringend ein Europäisches Zentrum für Weiterbildungspolitik. Das UNESCO-Institut in Hamburg kann das nicht leisten, seine Aufgabe ist es eher, Synergieeffekte herzustellen.

DIE: Welche weiteren Schritte in bezug auf die internationale Dimension von Erwachsenenbildung und Weiterbildung sind denkbar?

P.B.: Auf internationaler Ebene gibt es ein anderes sehr interessantes Phänomen: Wir haben gerade erst damit begonnen, das neue Politikumfeld und die Finanzökonomie der Weiterbildung im globalen Zusammenhang zu begreifen. Lassen Sie mich das erklären: Bei all dem Geld, das überall international in wenig entwickelte Länder oder Regionen fließt, ist es ausgesprochen selten der Fall, daß wir Strukturfonds für Zwecke der Erwachsenenbildung nutzen. In Westeuropa, innerhalb der Europäischen Union, haben wir das getan: Wir nutzen die Strukturfonds der EU, um in weniger entwickelten oder strukturschwachen Regionen, in Großbritannien zum Beispiel, die heute benötigten Kompetenzen von Menschen für die Arbeitswelt zu verbessern. Aber auf Weltniveau fließt das meiste Geld nur für technische Kooperation.

DIE: Heißt das auch: technische Kooperationsprojekte im internationalen Rahmen für die Erwachsenenbildung zu nutzen?

P.B.: Genau. Ein anderes Beispiel: Wir bauen in Afrika, in Asien, in Korea einen Hafen oder ein Industriegebäude. Wir bauen das, und dann sind wir wieder weg. Es gibt keinen Begriff von Nachhaltigkeit für diese Investitionen. Und deswegen sollten wir jedesmal, wenn wir künftig ein solches technisches Projekt planen und realisieren, auch eine Erwachsenenbildungsdimension einplanen, um die Leute kompetent zu machen, und zwar überall in der Region, in der das Projekt stattfinden wird. Das ist eine große Dimension. Ich bin der Meinung, daß wir in der Zukunft viel Geld für Erwachsenenbildung haben werden, nicht nur vom Bildungsministerium, nicht nur vom Arbeitsministerium, sondern auch aus den Bereichen Justiz, Umwelt und Gesundheit usw. Auch auf internationalem Niveau.

DIE: Sie plädieren also dafür, Projekte und Finanzierungen überall nachhaltiger zu planen und dabei auch längerfristig Erwachsenenbildung zu integrieren?

P.B.: Ja. Zum Beispiel Berlin: Wir waren oft in Berlin in letzter Zeit. Wir haben für Kultur, für Hochkultur einen Begriff, weshalb wir, wenn wir ein Gebäude bauen, 0,5% oder 1% dieser Investitionen für Kultur einplanen sollen. Das ist Bedingung. Gut. Schön. Aber warum nicht auch an Erwachsenenbildung denken? Wenn ich ein großes Gebäude in einem Dorf oder in einer Stadt baue, dann ist das eine neue Lernumgebung. Warum nicht in dieses Konzept genau diese Dimension einbringen, um die Leute dort zusammenzubringen in einem Lernprozeß, und zwar bevor das Gebäude gebaut wird, währenddessen und danach. Die Art und Weise zu verändern, wie und warum Menschen sich in einer Großstadt bewegen, hat starke Auswirkungen auf ihre Lernmotivation. Ich möchte mit diesem Beispiel nur veranschaulichen, daß Erwachsenenbildungspolitik nach CONFINTEA nicht mehr nur eine Bildungspolitik für den Moment, für heute sein kann. Es gibt dabei verschiedene Dimensionen und Bereiche. Zum Beispiel gibt es eine große Debatte in Afrika, wie auch in Deutschland, über Gesundheit, über Bevölkerungspolitik. Das heißt: Wir können nicht mehr nur über Kondome für Afrika sprechen, das hat keinen Sinn, obwohl Kondome wichtig sind. Wir müssen diesen Leute ermöglichen, miteinander zu diskutieren, gemeinsam zu lernen: Was bedeutet Sexualität heute, was bedeutet Reproduktion heute usw. Das ist auch eine wichtige Investition.

DIE: Internationalisierung ist auch ein wichtiges Stichwort auf der europäischen Ebene. Bedeutet Internationalisierung auf EU-Ebene etwas anderes als für die UNESCO und für die Weltorganisationen? Haben die denselben Begriff?

P.B.: Nein, nein, das ist ein ganz anderer. Die Europäische Union ist eine neue Inter-Regierungs-Organisation, mit einer neuen Aufteilung nationaler Souveränitäten. Es gibt eine neue Entscheidungsstruktur mit Mehrheit oder Nichtmehrheit und eine anhaltende Debatte darüber seit dem Vertrag von Amsterdam. Und die EU hat Programme, macht Politik, hat sozusagen Ministerien, Generaldirektionen der Kommissionen, und so weiter. Das ist eine ganz andere Organisationsstruktur als die der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen sind nicht „intergovernmental" in diesem Sinne, sie sind ein freiwilliger Zusammenschluß von Ländern, die gemeinsam entschieden haben, sich eine Konvention zu geben. Und das kann nur stattfinden, wenn alle Länder diese Konvention unterschreiben. Für die Erwachsenenbildung heißt das: Was die UNESCO erreichen kann, ist eine Empfehlung, eine Konvention, wie wir sie 1972 gemacht haben. Diese Empfehlung ist ein normativer Text, der von allen Ländern angenommen wurde, und jedes Land soll alle drei oder fünf Jahre einen Bericht abgeben, wie diese Empfehlung umgesetzt wird. Oder CONFINTEA: Wir haben bei der CONFINTEA eine Verpflichtung erreicht durch die Agenda für die Zukunft. Sie hat keinen Gesetzesrang, das ist nur ein normativer Text, es ist eine moralische Verpflichtung. Aber wenn die Generaldirektion GD XXII der Europäischen Kommission in Brüssel für SOKRATES ein Grundtvig-Programm entwickelt, dann ist das ein phantastischer Durchbruch. Sicher sind 2 Mio. Euro zu wenig für den Bedarf in der Weiterbildung, das sollten wir klar sagen. Es gibt 250 Mio. Einwohner in Europa, und 2 Mio. Euro für die Generaldirektion Erwachsenenbildung ist nur ein Almosen. Aber trotzdem ein phantastisches Almosen. Das ist ein richtiges Programm, und das ist eine bedeutsame Entwicklung.

DIE: Nach den bisherigen Erfahrungen hat sich die strikte Trennung in Aktivitäten zur allgemeinen und zur beruflichen Erwachsenenbildung, allerdings nicht gerade bewährt. Inwiefern bieten die neuen EU-Programme bessere Chancen für internationale Zusammenarbeit?

P.B.: Es gibt eine große Herausforderung in Brüssel. Wir können nicht mehr in Isolation machen, das wissen sie inzwischen auch innerhalb der GD XXII. Sie haben eine Mauer errichtet zwischen SOKRATES und LEONARDO, die hat überhaupt keinen Sinn, die steht im Widerspruch zur Realität. Denn in der Realität braucht eine Firma die Verbindung: nicht nur berufliche Bildung, sondern auch Ausbildung in einer zweiten Sprache und „Training und Kommunikation". Und nicht nur das: Wir benötigen auch eine ständige Kommunikation zwischen der GD XXII und der GD V und der GD VII und der GD I usw., weil wir heute erkennen, daß Weiterbildung eine ganz andere Dynamik besitzt als Initialbildung. Initialbildung ist frontal, universell für alle jungen Menschen in einem Staat. Alle jungen Leute sollen am Anfang ihres Lebens eine Initialbildungsphase haben, das ist das Recht eines jeden Einwohners. Dabei ist klar: Nicht jeder hat bereits ein solches Recht, auch in Europa nicht, aber trotzdem ist das ein universelles Programm, es ist sogar obligatorisch. Bei der Erwachsenenbildung ist das ganz anders. Hier sind die Voraussetzungen andere, und das erfordert eine ganz andere politische Regelung. Wir brauchen in Europa einen direktionsübergreifenden Generalrat für Erwachsenenbildung. Wir brauchen im Europaparlament eine Kommission für Erwachsenenbildung. Schließlich gibt es heute in Europa mehr Leute, die sich an Erwachsenenbildung beteiligen, als junge Menschen, die in Primar- und Sekundarschulen gehen. Das heißt: Heute ist in Europa die Lernumwelt der Erwachsenenbildung wichtiger geworden als die der Initialbildung.

DIE: Wenn Menschen in der Primar- und Sekundarausbildung bestimmte Fähigkeiten nicht entwickelt und bestimmte notwendige Fertigkeiten nicht gelernt haben, muß dann Erwachsenenbildung das nachholen?

P.B.: Das Problem des zweiten Bildungsweges bzw. der second chance education ist für uns eine widersprüchliche Frage. Es ist klar, daß die Bürger von morgen in Europa ein immer höheres Maß an Grundbildung benötigen, um sich als Staatsbürger oder im Berufsleben aktiv und kompetent beteiligen zu können. Schon aufgrund der ethnischen Vielfalt der jungen Generation in Europa ist ein hohes Maß an Grundbildung erforderlich. In Frankfurt z.B. gehören mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen einer anderen als der deutschen Nationalität an. Das Land, in dem sie leben, ist aber die konkrete Grundlage für Staatsbürgerschaft, nicht irgend ein biologischer Grund. Das schafft für die Initialbildung natürlich ganz große Aufgaben. Die Erwachsenenbildung muß hier die schulische Bildung ergänzen. Das ist absolut notwendige Bedingung, wir benötigen eine Art „Reparatursystem". Der zweite Bildungsweg ist daher nur ein kleiner Teil von Erwachsenenbildung. Grundbildung muß künftig mehrmals und auf verschiedenen Ebenen erfolgen: im Rahmen von schulischer Bildung, aber auch im Rahmen von Erwachsenen- und Weiterbildung. Sie wird zum Prozeß, der die Vorstellung von lebenslangem Lernen maßgeblich prägt. Und das gilt nicht nur für Europa, das gilt, in unterschiedlichen Formen, überall auf der Welt. Deshalb haben wir in Hamburg auch eine „Agenda für die Zukunft" aufgestellt, die das ganze komplexe Spektrum des Erwachsenenlernens, wie es sich heute darstellt, in zehn thematischen Ansätzen bündelt, um daraus eine internationale Strategie zu entwickeln.