DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Gespräch:
Bildungspflicht für Erwachsene?

Neue normative Anforderungen in Zeiten des lebenslangen Lernens

Die Idee der Schulpflicht ist älter als das Paradigma des lebenslangen Lernens. Wäre es nicht konsequent, heute an eine lebenslange Bildungspflicht zu denken? Der Direktor des DIE, Prof. Ekkehard Nuissl von Rein (N.), hat den Bildungsrechtler Prof. Hermann Avenarius (A.) vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) nach Chancen, Risiken und Nebenwirkungen gefragt.

N.: Herr Avenarius, als ich sie zum Thema »Bildungspflicht für Erwachsene« um ein Gespräch anfragte, haben sie sehr gezögert. Warum?

A.: Weil mir die Vorstellung, dass es eine Bildungspflicht Erwachsener geben soll, völlig fremd ist.

N.: Aber es gibt eine Bildungspflicht, besser: Schulpflicht, für Kinder und Jugendliche!

A.: Richtig, sie beruht auf dem verfassungsrechtlich anerkannten staatlichen Erziehungsauftrag gemäß Art. 7 Absatz 1 des Grundgesetzes; übrigens ist sie in den meisten Landesverfassungen ausdrücklich angeordnet. Die Schulpflicht gilt aber nur für Minderjährige. Einer Bildungspflicht für Erwachsene fehlen die rechtlichen, vor allem die verfassungsrechtlichen Grundlagen.

N.: Was spricht denn aus verfassungsrechtlicher Sicht gegen eine Bildungspflicht für Erwachsene?

A.: Sie widerspräche dem Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Absatz 1 des Grundgesetzes). Die Einführung einer gesetzlichen Bildungspflicht wäre nur zulässig, wenn sie zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich wäre und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrte ; sie müsste also geeignet und erforderlich sein, das angestrebte Ziel tatsächlich zu erreichen. Bei der Schulpflicht für Minderjährige ist dies der Fall. Sie sind noch keine »fertigen « Personen, bei ihnen haben Eltern und Staat das Recht und die Pflicht, sie zu erziehen und zu bilden. Das Menschenbild der Verfassung geht aber bei Erwachsenen von freien und selbstverantwortlichen Individuen aus, deren Freiheit nur unter den eben genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden darf. Eine staatlich verordnete Pflicht, sich zu bilden, lässt sich bei erwachsenen Menschen mit dem Grundrecht freier Persönlichkeitsentfaltung nicht vereinbaren.

N.: Nun haben wir aber immer mehr eine »Erwartungsnorm«, dass sich der erwachsene Mensch in seinem und im gesellschaftlichen Interesse ständig weiterbilden möge – diese Zeitschrift sprach hierzu bereits 1996 in einem Hauptthema vom »Ende der Freiwilligkeit« in der Bildung Erwachsener. Arbeitgeber etwa fordern die Weiterbildung der Beschäftigten, immer mehr Berechtigungen (etwa fortlaufende Lizenzen) sind mit Fortbildung verknüpft, und im neuen Zuwanderungsgesetz werden den Erwachsenen klare Auflagen in Sachen Bildung gemacht!

A.: Die Anforderungen der Arbeitgeber sind keine staatlichen Bildungspflichten, und die Beschäftigten können sich ihnen – etwa durch Wechsel des Arbeitsplatzes – entziehen. Dies gilt auch für Lizenzen oder bestimmte berufliche Auflagen, etwa bei Ärzten. In dem im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes erlassenen Aufenthaltsgesetz, das ist richtig, sind Bildungspflichten für Erwachsene definiert; sie dienen der Integration von Menschen in die Gesellschaft, wie ja auch die Schule als Institution die Minderjährigen in die Gesellschaft sozialisiert.

N.: Aber wo liegt die Grenze? Integration und Sozialisation als Aufgabe von Bildung enden doch nicht zu einem bestimmten Lebensalter. Im Konzept des lebenslangen Lernens wird diese Aufgabe ja auch den Menschen zugewiesen, gewissermaßen als moralische Verpflichtung, die systemischen Erfordernisse individuell umzusetzen.

A.: Natürlich besteht heute, das besagt ja lebenslanges Lernen, die Notwendigkeit, in jeder Lebensphase auf dem Laufenden zu bleiben. Aber man muss Erwachsene nicht mehr dazu verpflichten, sie sind als freie Menschen selbst dafür verantwortlich, zu lernen und sich fortzubilden. Erwachsene haben, wenn sie so wollen, auch das Recht auf Dummheit.

N.: Jugendliche sind verpflichtet, die Schule zu besuchen. Ursprünglicher Sinn davon ist doch, dass alle Menschen in einer Gesellschaft über Kulturtechniken verfügen müssen, die ihnen ein gleichberechtigtes und chancenreiches Leben ermöglichen. Lesen, Schreiben und Rechnen sind die Kulturtechniken, die seit fast zwei Jahrhunderten die Voraussetzung sind für die Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft. Erwachsene, die nicht über diese Kulturtechniken verfügen, können nur eingeschränkt teilhaben …

A.: ….richtig, aber sie können sich frei entscheiden! Jugendliche haben die Einsicht noch nicht, dass diese Kulturtechniken ihre Lebenschancen betreffen. Sie müssen sie aber lernen. Man kann ihnen nicht freistellen, diese Kulturtechniken zu erwerben. Gewiss sind Kinder lernfreudig, neugierig und aufgeweckt. Aber gehen sie auch gerne in die Schule? Eltern und Staat haben die Pflicht, durch geeignete Maßnahmen und in geeigneten Institutionen die Kinder und Jugendlichen zu befähigen, in unserer Gesellschaft zu leben.

N.: Mir scheint, dass in den verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht nur ein bestimmtes Menschenbild vorherrscht – der Erwachsene ist frei und selbstverantwortlich – sondern auch ein bestimmtes »Bildungsbild«: das Erlernen des Notwendigen, der erforderlichen Kulturtechniken, ist unangenehm, man muss dazu verpflichten. gilt das Menschenbild der Verfassung nicht für Jüngere, noch minderjährige Menschen, ist das »Bildungsbild« nicht überholt und stammt noch aus der Zeit, als Schulpflicht von preußischen Ex- Offizieren in »Zuchtanstalten« realisiert wurde?

A.: Staat und Eltern teilen sich ja in die Erziehung der Minderjährigen. Die Befugnisse des Staates in der Schule reichen umso weiter, je mehr die Bildung und Erziehung der nachwachsenden Generation in der demokratischen Gesellschaft zur Aufgabe gestellt ist, wo es also um die staatsbürgerliche Erziehung und die Vorbereitung auf das Berufsleben geht. Hier hat der Staat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die jungen Menschen sozial integriert und auf die Arbeitswelt vorbereitet werden, damit sie die Grundlage für ein selbstverantwortetes Leben als Erwachsene gewinnen. Eine solche »Fürsorgepflicht« ist bei Erwachsenen fehl am Platz. Zwar mögen auch Erwachsene schwach, bequem und faul sein; das aber geht den Staat nichts an. Anders ist die Situation bei Minderjährigen: Die Eltern nehmen gewissermaßen treuhänderisch die Erziehung der jungen Menschen wahr; in der Schule ist der Staat unter Beachtung des verfassungsrechtlich gewährleisteten elterlichen Erziehungsrechts für die Gesamtheit der ihm anvertrauten Kinder verantwortlich. Dabei hat er dafür Sorge zu tragen, dass die Kinder aus bildungsfernen Familien nicht benachteiligt werden.

N.: Stimmt. Aber vielleicht dehnt sich die Fürsorgepflicht des Staates, gleiche Chancen sicherzustellen, den Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, im Zuge des lebenslangen Lernens aus! Wenn das zu Erlernende, die notwendigen Kulturtechniken, nicht mehr in der Jugend für das ganze Leben erworben werden kann, dann ist doch auch sicher zu stellen, dass Erwachsene nicht unter Ungerechtigkeiten leiden. Natürlich hat dies zwei Seiten: der Besitz von allgemeinen Kulturtechniken ist staatlich nicht nur zu fordern, sondern es sind auch entsprechende Möglichkeiten vorzuhalten! Wie etwa bei der »Modularisierung«: Ist es nicht sinnvoll, das, was an notwendigen Kompetenzen zu erwerben ist, als Pflichtprogramm über das gesamte Lebensalter zu verteilen, wo es jeweils auch dem Stand der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung entspricht? Sie haben doch sicher ebenso wenig wie ich in der Schule den Umgang mit Computern gelernt, der heute in Arbeit und Alltag praktisch unverzichtbar ist!

A.: Zugegeben: Das ist eine interessante Frage! Natürlich kann der Staat bestimmte Zielgruppen verpflichten, sich definierte Bildungsinhalte auch im Erwachsenenalter anzueignen. Dies aber nur, wenn es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist, wenn es zum Beispiel darum geht, Gefahren für die Allgemeinheit vorzubeugen. Wer mit dem Auto am Straßenverkehr teilnimmt, braucht einen Führerschein; um den zu erwerben, muss er sich mit der Straßenverkehrsordnung vertraut machen und über Praxiserfahrung verfügen. Es muss also lernen. Letztlich ist dies bei den Zuwanderern ähnlich: Es liegt im öffentlichen Interesse, dass durch die Zuwanderung keine Parallelgesellschaften entstehen. Daher müssen Ausländer, die »in besonderer Weise integrationsbedürftig sind, nach § 44a des Aufenthaltsgesetzes unter bestimmten Voraussetzungen an Integrationskursen teilnehmen; diese Kurse sollen sie an die Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte in Deutschland heranführen. Aber wenn sich dies als weitergehende und auch für andere Erwachsenengruppen zu definierende Aufgabe stellt, ergeben sich schwerwiegende Probleme: Wer definiert die Anforderungen? Was kann der Staat als Lernpflicht oder Bildungspflicht für Erwachsene gesetzlich statuieren? Wer kontrolliert die Inhalte, legt den Kanon fest? Es ist schwer, sich vorzustellen, wie hier die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden kann.

N.: Diese Probleme kennen wir aus der Schule, teilweise auch der Hochschule; die Frage, was als Curriculum gilt, in einzelnen Fächern und für die Schule insgesamt, wie dieses Curriculum ausgefüllt wird und mit welcher Legitimation es zur Integration und Sozialisation Minderjähriger definiert wird – die gesamten Schulreformdiskussionen basieren auf Legitimationsverfahren und Bedarfsabschätzungen in Richtung Bildungskanon, die wesentlich unsicherer sind als das, was bei einer modularisierten und auf das Leben verteilten, jeweils aktualisierbaren curricularen Struktur festgelegt werden könnte.

A.: Für den Schulbereich sind hier doch wesentliche Fortschritte zu verzeichnen! In der Frühphase der Schulpflicht brauchte der Fürst nützliche Untertanen; sie sollten nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig lernen. Die heutige Demokratie will mündige Bürger, die selbstverantwortlich ihr Leben und das in der Gemeinschaft gestalten. Der Staat muss daran interessiert sein, dass Menschen nicht daran scheitern, dass sie versäumt haben, die notwendigen Voraussetzungen dafür einzuüben. Aber darf er nachbessern? Er darf es nicht. Mit der Volljährigkeit des jungen Menschen endet grundsätzlich der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag.

N.: Das Zuwanderungsgesetz, genauer: das Aufenthaltsgesetz scheint mir aber hier nicht nur ein Präzedenz-, sondern ein richtiger Sündenfall!

A.: Im Aufenthaltsgesetz geht es doch nicht darum, Erwachsene einer allgemeinen Bildungspflicht zu unterwerfen. Die zu erwerbenden Kompetenzen sind genau bestimmt. Es handelt sich um begrenzte Pflichten, mit denen der Staat das Ziel verfolgt, die Zuwanderer in unsere Gesellschaft zu integrieren.

N.: Ich sehe keinen Unterschied darin, dies für Zugewanderte oder etwa für Analphabeten oder gering Qualifizierte festzulegen, mehr noch: das, was in schulischen Curricula als Kanon definiert war, zu differenzieren und auf verschiedene Phasen des Lebens zu verteilen.

A.: Anders als bei den von Ihnen angesprochenen Analphabeten und gering Qualifizierten handelt es sich bei den zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichteten Zuwanderern um eine eng umgrenzte Problemgruppe. Die Ihnen auferlegte Pflicht ist präzise bestimmt und zeitlich befristet. Und sie ist sanktionsbewehrt: Weigern sie sich, an einem Integrationskurs teilzunehmen, so ist dies nach § 8 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes bei der Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen. Wollen wir ernstlich erwägen, darüber hinaus eine Bildungspflicht ganz allgemein für Analphabeten und gering Qualifizierte und wer weiß wen sonst einzuführen und ihre Nichterfüllung mit Sanktionen ahnden? Das wäre der Schritt in einen Obrigkeitsstaat neuer Art. Der Gesetzgeber darf diese Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen, jedenfalls dann nicht, wenn sie der Allgemeinheit nicht zur Last fallen. Solange sie also keine finanziellen Ansprüche wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe geltend machen, wäre es dem Staat untersagt, sie zur Teilnahme an (Weiter-)Bildungsmaßnahmen zu verpflichten. Um es überspitzt zu sagen: Auch der Clochard hat ein Recht darauf, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden und lebenslang nicht zu lernen.

N.: Wenn wir das Konzept des lebenslangen Lernens und der Definition von Rechten und Pflichten im Bildungsbereich ernst nehmen, dann stellt sich schon die Frage, ob die moralische Erwartungsnorm ausreicht. Die SPDBundestagsabgeordnete Niehuis, eine Erwachsenenbildnerin und spätere Staatssekretärin, hat vor fast zwanzig Jahren schon einmal die Verankerung einer Bildungspflicht vorgeschlagen; das ist damals kläglich gescheitert, aber da gab es auch das Konzept des lebenslangen Lernens und seine gesellschaftliche Ursachen in dieser Form noch nicht…

A.: Es gibt doch viele differenzierte Schritte zwischen der absoluten Freiheit und der (gesetzlichen) Einführung einer Pflicht! Die aktuelle Situation – vom Zuwanderungsgesetz abgesehen – verzeichnet doch solche Zwischenräume: es werden Bildungsstandards eingeführt und deren Einhaltung überprüft, Kompetenzen definiert, die an der Stelle von Inhalten wichtig werden. Der Staat tendiert zu einem Wechsel von der Input-Steuerung zur Output-Steuerung, mehr danach zu schauen, welche Ergebnisse die Bildungsprozesse haben, weniger danach, was an curricularen Gehalten eingegeben wird. N.: Richtig, man muss da differenziert herangehen. Es gibt ja ohnehin eine bemerkenswerte Ambivalenz zwischen dem gewachsenen Druck auf das Individuum, lebenslang zu lernen, also implizit eine Einschränkung seiner Freiheit, und der gleichzeitigen Botschaft, sich selbst zu steuern und individuelle Lernwege zu beschreiten. Ich glaube aber nicht, dass sich das allein durch den Verweis der Mündigkeit Erwachsener auflösen lässt. Fürsorge und Vorhalte des Staates sind da erforderlich. Motivierende und unterstützende Maßnahmen sind notwendig, gesetzliche sind sicher kein Allheilmittel. Sehen wir doch auf die Zahlen, die Exklusions-Gefahr großer Minderheiten gerade mit Blick auf Lernen. Wenn wir aber bei Fürsorge und Vorhalte des Staates sind, ist der Weg zu einer gesetzlichen Bildungspflicht (wie bei den Zuwanderern) nicht mehr weit…

A.: Das sehe ich anders. Die Rede von der gesetzlichen Bildungspflicht für Erwachsene tönt harmlos, klingt wohlmeinend. Mir aber graut vor einem Staat, der wohlmeinend und fürsorglich sich volljähriger Menschen annimmt, indem er ihnen vorschreibt, was sie lernen müssen und was nicht. Ein solcher Betreuungsstaat ist nicht der Staat des Grundgesetzes.

N.: Ihr Wort in den Ohren derjenigen, die auf dem besten Weg sind, den ohnehin vorhandenen moralischen Druck zum lebenslangen Lernen in Richtung Bevormundung weiter zu entwickeln!