DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

„Den Code der Gesellschaft beherrschen lernen“

Gespräch mit Lale Akgün

Was bringt das Zuwanderungsgesetz? Was sollten die Ziele von Integration sein? Was kann von der Erwachsenenbildung erwartet werden? Antworten einer Zugewanderten. - Dr. Lale Akgün leitet das Landeszentrum für Zuwanderung Nordrhein-Westfalen und war Jurymitglied beim Integrationswettbewerb des Bundespräsidenten. Mit ihr sprach Dr. Peter Brandt (DIE).
Dr. Lale Akgün
Dr. Lale Akgün wurde 1953 in Istanbul geboren und siedelte 1962 nach Deutschland über. Die Dipl.-Psychologin und Psychotherapeutin leitet seit 1998 das LzZ. Bei der Bundestagswahl 2002 kandidiert sie für die SPD (Köln, Wahlkreis 95).

DIE: Frau Akgün, Sie haben einmal bemängelt, dass es weitgehend "professionelle Helfer" sind, die in Deutschland Kontakt zu Zuwanderern haben. Jetzt gibt es das Zuwanderungsgesetz und das daraus abgeleitete Integrationsprogramm. Ist es nun doch wieder nur eine pädagogische Elite, die die Bürde der Integrationsarbeit trägt?

Akgün: Ich habe damals gemeint, dass die meisten Kontakte zwischen Deutschen und Zugewanderten über die professionellen Helfer laufen. Wenn man die Zugewanderten fragt, mit wem sie Kontakt haben, ist die Antwort: die Lehrer meiner Kinder, die Sozialarbeiter des Jugendamtes, Mitarbeiter des Arbeitsamtes. Wenn man auf der anderen Seite die Einheimischen fragt, zu welchen Zugewanderten sie Kontakt haben, dann ist es der Kontakt in der Schule, der berufliche Kontakt mit den Klienten. Jetzt muss es um soziale Integration gehen. Damit meine ich selbstverständliche Kommunikation zwischen Zugewanderten und Deutschen. Menschen müssen miteinander kommunizieren außerhalb der professionellen Helfer-Abhängigkeiten. Ich glaube, mit dem Zuwanderungsgesetz haben wir einen entscheidenden Schritt getan. In den letzten Jahrzehnten ist das Feld der Integration völlig der Pädagogik und Sozialarbeit überlassen worden. Statt einer echten Integrationspolitik hat man die helfende Hand gereicht. Das war zunächst die berühmt-berüchtigte Ausländerpädagogik, dann die interkulturelle Pädagogik und die Sozialarbeit. Endlich hat die Politik Verantwortung übernommen, für die Zuwanderung wie für die Integration. Das ist für mich ein ganz wichtiger Paradigmenwechsel. Man will Integration gesamtgesellschaftlich leisten.

„Integration nicht allein der Pädagogik überlassen“

DIE: Wir haben also weiterhin die professionellen Helfer, aber die professionellen Helfer agieren auf einer von der Politik vorgegebenen Linie.

Akgün: Es gibt jetzt eine Plattform, auf der sie agieren, und sachliche Grundlagen. Und es gibt ganz andere strukturelle Möglichkeiten für die professionellen Helfer.

DIE: Was leisten die Orientierungskurse, die das Integrationsprogramm des Bundesinnenministeriums vorsieht?

Akgün: Diese Orientierungskurse sollen den Neuzuwanderern eine allererste Orientierung geben, sich in dieser Gesellschaft zurecht zu finden. Es geht darin um elementare Fragen wie: Welche Gesellschaftsform haben wir? Wie ist diese Gesellschaft organisiert? Wie zieht man eine Briefmarke aus den Automaten? Die Niederländer sind die ersten gewesen mit diesen Integrationskursen. Sie hatten sehr gut gemachte Filme, die anfingen: "Die Niederlande sind ein Königreich und das ist unsere Königin" (Beatrix erschien). Die Zuwanderer sollen nicht schon nach einer Woche bei Günter Jauch die Million holen. Man muss den Leuten zum Beispiel beibringen, dass es keine Schaffner in Bussen und Bahnen gibt, die Fahrten aber deshalb nicht gleich umsonst sind. Eigentlich müssten Orientierungskurse modular aufgebaut sein. Einzelne Module wären stadtteilbezogen auszugestalten und könnten für alteingesessene Ausländer oder gar alle Bürger der Stadt geöffnet werden. Wie wäre eine Stadtteilführung durch die historischen Stätten von Köln-Nippes? Die Module an sich sind nicht sehr teuer und könnten die Vernetzung zwischen den einzelnen Gruppen vorantreiben. Es scheint allerdings an den Kosten für die Entwicklung eines modularen Kurses zu scheitern.

DIE: Die Idee wäre natürlich eine schöne Repräsentation unserer Föderalität. Ist das Integrationsprogramm des Zuwanderungsgesetzes (mit seinen Grund- und Aufbausprachkursen und dem Orientierungskurs) ähnlich föderal angelegt? Die jetzige Konzeption erscheint manchen zu zentralistisch.

Akgün: Flächendeckende Kurse erfordern zentrale Logistik. Beim Zuwanderungsgesetz ist es wie bei anderen Bundesgesetzen. Die Länder werden zur Ausarbeitung der Rechtsverordnungen konsultiert. So fließen Länderwünsche ein, weshalb allenfalls von einem scheinbaren Zentralismus die Rede sein kann. Man sollte jetzt nicht polarisieren, sondern fragen, wie man eine konstruktive Zusammenarbeit von Bund und Ländern erreichen kann. Wissen ist gefragt, Know-how ist gefragt, Erfahrung ist gefragt. Und es geht nur kooperativ. Wir sollten von den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte profitieren. Wir fangen nach 50 Jahren Zuwanderung in diesem Land nicht bei Null an. Es gibt z. B. die vorbildlichen Integrationsbemühungen der Spätaussiedler. Wir brauchen keine neue Konzeption. Wenn wir für alle das übernähmen, was es für die Spätaussiedler gibt, stünden wir weltweit vorbildlich da.

„Wir fangen nach 50 Jahren Zuwanderung in diesem Land nicht bei Null an.“

DIE: Was zeichnet die Integrationsbemühungen für Spätaussiedler aus?

Akgün: Sprachkurse, berufliche Eingliederung, für Kinder und Jugendliche zusätzlich Jugendsozialwerke. Es gab sogar die Möglichkeit zur Internatsunterbringung für die Jugendlichen in den ersten Jahren. Da wurden diese Leute doch sehr betreut und unterstützt, damit sie den Anschluss an die gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen.

DIE: Was erwarten Sie von den Sprachkursen des Integrationsprogramms?

Akgün: Im Prinzip finde ich es richtig, dass man allen Menschen die Chance gibt, zu Beginn ihres neuen Lebensabschnittes die Landessprache zu erlernen. Aber von Euphorie angesichts der Sprachkurse kann keine Rede sein. Diese Kurse sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Integration.

DIE: Wir haben seit dem 1. Januar 2000 ein neues Staatsangehörigkeitsrecht. Ist das in diesem Zusammenhang von Bedeutung?

Akgün: Ja, sicher. Der Paradigmenwechsel, dass Kinder von Ausländern unter bestimmten Bedingungen als Deutsche geboren werden, bedeutet, dass das ethnische Denken dem republikanischen Denken weicht. Mehr Integration in diesem Zusammenhang bedeutet mehr öffentliche Verantwortung der Zugewanderten. Aktives und passives Wahlrecht. Wir brauchen mehr nicht-deutschstämmige Menschen in Parteien, Fraktionen und Regierungen.

„Das ethnische Denken weicht dem republikanischen Denken“

DIE: Aber setzt bürgerschaftliches Engagement einen bestimmten Rechtsstatus voraus?

Akgün: Grundsätzlich nein. Aber es ist sicherlich so, dass die deutsche Staatsbürgerschaft das Engagement in Parteien stärken würde. Ansonsten hängt das bürgerschaftliche Engagement nicht am Status, sondern am Willen der Einzelnen. Allerdings müsswn natürlich auch die Rahmenbedingungen stimmen. Das gilt nicht nur für Zugewanderte. Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement müssen interessanter gemacht und unterstützt werden.

DIE: Kennen Sie gelungene Beispiel bürgerschaftlichen Engagements von Zugewanderten?

Akgün: Der Bundespräsident hat jüngst in einem bundesweiten "Integrationswettbewerb" 10 Projekte prämiert, darunter einige, die genau dieses Engagement zeigten. Das Projekt AGORA aus Castrop-Rauxel hat der Jury [zu der Lale Akgün zählte, d. Red.] vor allem deshalb so gut gefallen. Da kümmern sich Zugewanderte um Spätaussiedler. Es war uns wichtig, dass es Projekte gibt, die die eigenen Kräfte der Immigranten bündeln. Sie sollen Verantwortung für sich und das Leben anderer Zuwanderer übernehmen lernen.

DIE: Ist es das einzige derartige Projekt?

Akgün: Ein anderes interessantes Projekt kommt aus München - "Bunt kickt gut" - eine interkulturelle Straßen-Fußball-Liga, die sich 1997 selbst organisiert hat. Über 1200 deutsche und ausländische Kinder und Jugendliche, vor allem aus sozialen Randgruppen, machen mit. Sie übernehmen Verantwortung in der Liga und bei den Turnieren. Dadurch, dass sie Verantwortung übernehmen, kann sich vielleicht dieses Gefühl der Selbstständigkeit und des aktiven Handelns auch auf andere Lebensbereiche transferieren. Ähnlich arbeitet das Kölner Straßenkinderprojekt "Kindernöte", wo es auch darum geht, Kinder und Jugendliche zu organisieren, ihnen Verantwortung zu übergeben für ihre eigene Gruppe. Die Projekte wollen bei den erwachsenen Immigranten deren Potenziale stärken: Was sie mitgebracht haben, betrachten wir nicht mehr unter dem Blickwinkel des Defizitären, sondern als ihr Können, was sie einsetzen können, als Potenzial. Und bei Kindern und Jugendlichen kann man sagen: Wir geben ihnen die Chance, ihr Leben selbst zu organisieren. Das Problem ist in der Sozialarbeit immer schon gewesen, unser eigenes Weltbild den anderen überzustülpen. Diese Gefahr müssen wir in Schach halten. Wir müssen ihnen nur helfen, ihre Potenziale zu verwirklichen, damit sie ihre selbstgesteckten Ziele erreichen können.

DIE: Unter erwachsenenpädagogischen Gesichtspunkten konzentriert sich der Integrationswettbewerb auf die Frage der beruflichen Bildung. Reicht die Integration ins Berufsleben?

Akgün: Nein, es geht nicht nur um das Arbeitsleben, sondern um den ganzen Bereich der strukturellen Integration: Wie können wir es schaffen, dass sich Menschen in die Strukturen der Gesellschaft eingliedern? In unserer Leistungsgesellschaft wird man daran gemessen, welche Bildung man genossen hat, welche Ausbildung, welchen Beruf man ausübt und wie erfolgreich man dort ist. Bildung, Ausbildung und Beruf sind Strukturen, in die sich einfinden muss, wer in der Gesellschaft ankommen will. Ernst gemeinte Integrationspolitik konzentriert sich nicht so sehr auf die Unterschiede, auf kulturelle Bereicherung, sondern betreibt "Mainstreaming". Wir brauchen keine "Nischen" für die Zugewanderten, in denen sie sich ausleben dürfen. Wie wir heute von "Gender-Mainstreaming" reden, so müssen wir auch von "Migrant-" oder "Immigrant-Mainstreaming" reden. Zugewanderte müssen im Mainstream der Gesellschaft anzutreffen sein, zum Beispiel bei den Führungskräften der Politik. Zum "Opinion Maker" kann nur aufsteigen, wer die entsprechende Bildung und Ausbildung mitbringt, kurz: wer den Code der Gesellschaft beherrscht. Es reicht nicht, in den eigenen, kulturellen Nischen zu sein. Strukturelle Integration heißt: Zugewanderte müssen in allen Positionen vertreten sein können.

DIE: Welchen Beitrag dazu erwartet das Landeszentrum für Zuwanderung NRW von der Erwachsenenbildung?

Akgün: Die Erwachsenenbildung muss sich fragen, ob sie die Zugewanderten als selbstverständliche Kunden erreichen will. Damit verbunden ist die Frage, inwieweit Integration in ihren eigenen Reihen bereits stattfindet. Je mehr Zugewanderte in Einrichtungen und Trägern arbeiten, umso eher werden Angebote von Zugewanderten angenommen werden. Oder anders herum: Ist es eigentlich gewünscht, dass Einrichtungen und Träger Angebote machen, die von allen gleichermaßen angenommen werden? Die Erwachsenenbildung muss ihre eigenen Strukturen den Zugewanderten öffnen. Unter dem Gesichtspunkt der sich wandelnden Bevölkerungszusammensetzung ist es sogar überlebenswichtig, dass sich die Erwachsenenbildung die Zuwanderer als Kundengruppe sichert. Stellen Sie sich einmal vor: In der Großstadt Duisburg haben in zehn Jahren knapp 40 Prozent der Einwohner irgendeinen Migrationshintergrund. In der Altersgruppe der 20 - 40-Jährigen wird im Jahr 2010 in Duisburg der Anteil der Nichtdeutschen 45,9 Prozent betragen, in Köln 42,9 Prozent und hier in Solingen immerhin 40 Prozent. Im NRW-Durchschnitt sind wir in dieser Altersgruppe dann bei 31,5 Prozent.

„Zuwanderer sind keine homogene Zielgruppe“

DIE: Wie kann dieser Zielgruppenbezug ausgestaltet werden? Soll es bestimmte Angebote geben, die als solche "für Menschen mit Migrationshintergrund" gekennzeichnet werden?.

Akgün: Die Erwachsenenbildung darf nicht von einer homogenen Zielgruppe ausgehen. Weder Zugewanderte noch Spätaussiedler sind eine homogene Gruppe. Einige Angebote sollten durchaus jeweils eine bestimmte Gruppe als Zielgruppe im Auge haben; andere Angebote können interessant sein für die Mehrheitsgesellschaft wie für Zugewanderte. Die Mischung macht's.

DIE: Können Erwachsenenbildungseinrichtungen wissen, welche Gruppen sich als Gruppen ansprechen lassen, wo also eine gewisse Homogenität gegeben ist? Brauchen die Erwachsenenbildungseinrichtungen hierfür vielleicht Support, und wenn ja, von wem?

Akgün: Sicher brauchen sie Unterstützung. Am besten setzen sie sich hierzu mit den Kommunen zusammen. Dort sind über die jährlichen amtlichen Statistiken die Zugewandertengruppen bekannt. In Gelsenkirchen - einer Stadt des Bergbaus - leben zum Beispiel sehr viele Türken aus der Schwarzmeerregion. Man hat die Leute von dort abgeworben, die im Bergbau gearbeitet haben. Welche Ausländergruppen regional besonders stark vertreten sind, hängt auch mit den Zeiten ihrer Ankunft zusammen. In den 60er Jahren kamen andere Zuwanderungsgruppen mit anderen Bildungshintergründen als in der 70er Jahren. Danach kamen wieder andere Gruppen, mehr Flüchtlinge in den 80er Jahren. Die Kommunen kennen das und gestalten ihre Angebote sogar stadtteilspezifisch. Die konkreten Bildungsbedarfe gehen aus den Statistiken natürlich nicht hervor. Das wissen diejenigen, die sich mit den Verhältnissen vor Ort beschäftigen, am besten. Diese Bedarfe sind sehr unterschiedlich, denken Sie an die Menschen aus Ghana, eine echte Bildungselite, die nach Deutschland gekommen ist. Bildungseinrichtungen werden bei Iranern sicherlich mit anderen Angeboten punkten können als bei anderen Zuwanderergruppen.

DIE: Wie wichtig ist die interkulturelle Erziehung der Mehrheitsgesellschaft?

Akgün: Fangen wir schon im Kindergarten damit an, in einem sehr frühen Lebensabschnitt, wo Kinder noch sehr lernfähig sind! Auch in Schulen kann Soziales und Gesellschaftliches aufgewertet und präventiv Jugendarbeit geleistet werden. Man muss sich bewusst machen, dass man nicht in alle Zusammenhänge integriert sein kann, niemand ist in allen Lebensbereichen integriert. Das geht in einer pluralen Gesellschaft nicht und gilt für die Zugewanderten wie für die Einheimischen. Trotzdem schafft man es, mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zusammenzuleben oder auch konstruktiv zusammenzuarbeiten. Das wäre ein wunderbarer Ansatz, die eigene Biografie durchzugehen: Wo habe ich überall Fremdheit erlebt, was hat das bei mir ausgelöst und wie bin ich damit umgegangen? Dies erlebt man ja schon, wenn man gesellschaftliche Schichten überspringt. Den Menschen muss so viel Selbstsicherheit vermittelt werden, dass sie sich sagen: Selbst wenn du nicht integriert bist, musst du nicht gleich Angst haben. Wir müssen Angst abbauend arbeiten.

DIE: Es ist natürlich die Frage, wie man Erwachsene zu entsprechenden Veranstaltungen motiviert. Meine Befürchtung ist, dass bei solchen Angeboten immer diejenigen Menschen teilnehmen, die am wenigsten interkulturelle Pädagogik "nötig" haben.

Akgün: Das Zauberwort lautet: biografisch arbeiten. Nicht nur Jugendliche hören und reden gerne über sich selbst.

DIE: Dann reden Sie doch mal über sich selbst!

Akgün: Ich werde wohl nie einfach eine Deutsche sein, obwohl ich es im republikanischen Sinne bin. Ich trete für den Deutschen Bundestag an, wäre im Falle der Wahl deutsche Bundestagsabgeordnete [der Ausgang der Wahl ist bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt, d. Red.]. Viele Leute der Mehrheitsgesellschaft haben Schwierigkeiten, damit umzugehen. Sie suchen immer noch die Exotik in mir. Für fast alle bin ich natürlich die Türkin, und wenn sie politisch korrekt sind, bin ich die "türkischstämmige deutsche Kandidatin".

DIE: ...und mit dieser exotischen Biografie auch Chefin des Landeszentrums für Zuwanderung NRW. Sie wären es sicher nicht, wenn dieser Hintergrund nicht da wäre.

„Tolstoi im Original lesen“

Akgün: Dass ich nicht missverstanden werde: Ich habe nichts gegen meine Biografie. Ich bin sogar sehr stolz auf meine Biografie. Gelebte Bikulturalität ist ein doppeltes Potenzial. Wenn sie mehrere Sprachen als nativ speaker sprechen, haben sie ganz andere Möglichkeiten, ihren Horizont zu erweitern. Ich bin immer ganz neidisch, wenn Leute Cervantes auf Spanisch lesen können. Ich sage Spätaussiedlern immer, dass sie ihren Kindern das Russisch erhalten sollten, damit sie Tolstoi im Original lesen können. Diese Chance werde ich nie haben. Die Andersartigkeit eines Menschen ist seine Mitgift. Ich benutze bewusst nicht das Wort "Bereicherung".

DIE: Dann müssten Sie sich auch gegen die Diversity-Ansätze verwahren, die stark mit diesem "Bereichungsaspekt" argumentieren, ob es nun um ein Unternehmen geht oder um die Gesellschaft.

Akgün: Die Gefahr bei der Bereicherungslogik ist: Sobald es Schwierigkeiten gibt, wird aus der Bereicherung ein Handicap, und dann wird es integrationsfeindlich.

DIE: Man definiert den Anderen über seine bereichernde Funktion. In dem Moment, wo er die nicht erfüllt, ist er nicht mehr geeignet, diese Funktion einzunehmen. Man kann diese unerwünschte Dynamik natürlich nicht ganz ausschließen. Wenn ich zum Beispiel meine Rolle betrachte, dieses Interview zu führen: Ich würde es nicht führen, wenn der Chef oder die Chefin des Landeszentrums für Zuwanderung NRW ein Mensch ohne bereichernden Migrationshintergrund wäre. Die Bereicherungslogik lässt sich wahrscheinlich nicht vollständig wegdenken.

Akgün: Natürlich kann auch meine Biografie eine Bereicherung sein. Ich bringe ja sozusagen eine zweite Kultur mit hinein. Aber letztendlich darf die Funktion nicht an der Bereicherung aufgehängt werden. Das finde ich im Blick auf die Zuwanderungsgesellschaft wichtig. Wenn man Zuwanderer nur über die Bereicherung definiert, dann ist immer die Gefahr da, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen. Dass sie dann sofort in eine andere Schublade gesteckt werden.

DIE: Es ist also nicht die Bereicherung durch die zweite Kultur, die Sie qualifiziert, sondern Ihre individuelle Kompetenz.

Akgün: Und die Bereicherung ist sozusagen meine Persönlichkeit. Und die Spätaussiedler bereichern unsere Kultur im Bereich der Musik, des Balletts, der klassischen Kunst. Ich wage mal die Hypothese, dass in 20 Jahren die Sinfonieorchester dieses Landes mit sehr vielen Spätaussiedlerkindern bestückt sein werden, weil sie das Verständnis mitbringen, dass zur Kunst eben nicht nur Genie, sondern auch sehr viel Übung gehört, und dass klassische Kunst und klassische Kultur als Werte erhalten werden müssen. Sie bringen auch Tugenden mit: Sie arbeiten, arbeiten, üben, üben... Aber ich möchte auch Akzeptanz für all diejenigen, denen man die Bereicherung nicht unmittelbar ansieht.

DIE: Will sagen: Man sollte Spätaussiedlern nicht deshalb Chancen im Musikgeschäft einräumen, weil man die Bereicherung haben will, weil man sie funktionalisieren will für die eigenen Sinfonieorchester, sondern man lässt ihnen die Freiheit dies zu tun, man schafft ihnen die Räume, wo sie sich entfalten können.

Akgün: Genau das ist der Punkt. Sie sollen die Chance haben, den mitgebrachten Schatz hier anwenden zu können. Wir freuen uns sehr, wenn die hiesige Gesellschaft bereichert wird, aber wir sollten auch die akzeptieren, die eben keinen solchen Schatz mitbringen, zum Beispiel den Spätaussiedler, der nicht üben will und unmusikalisch ist. Wir dürfen die Bereicherung eben nicht funktionalisieren. Unter den Menschen, die ins Land kommen, werden die Schätze genau so normal verteilt sein wie in der Mehrheitsgesellschaft. Das ist auch gut so. Das heißt, wir müssen mit all denen, die da sind und noch kommen werden, auf ein Selbstverständnis hinarbeiten: Wir akzeptieren die Menschen, die da sind, erst einmal als Partner, als Bürger, als Gleichberechtigte. Und es ist natürlich um so schöner, unsere Gesellschaft zu bereichern. Das möchte ich nicht auf den kulinarischen Bereich reduzieren, das ist ja im wahrsten Sinne des Wortes schon "durchgekaut".


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2002

Peter Brandt, Lale Akgün, Den Code der Gesellschaft beherrschen lernen. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/42002/gespraech.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp