DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Das strenge Gesicht von Frau Antje:

Die Niederlande als Vorbild für hiesige Integrationskonzepte?

Uwe Berndt

Dr. Uwe Berndt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg i. Br.

"Sprache, Sprache und nochmals Sprache" lautet das Motto niederländischer Integrationspolitik seit den 1990er Jahren. Dr. Uwe Berndt schildert die historischen Hintergründe und die erwachsenenbildnerische Gegenwart des niederländischen Modells. Da die deutsche Integrationspolitik derzeit kräftig beim kleinen Nachbarn abschreibt, dürfen die tiefen Enttäuschungen nicht unerwähnt bleiben, die die Niederlande mit ihrem Konzept erleben.

Abstract

„Language, language and nothing but language“ has been the motto of Dutch integration politics since the nineties. The „minority model“ practised before had been put out of use because it emptied the cash boxes and tired out the intrinsic initiative of the minorities. Since 1998, the „Law on the Naturalization of Newcomers“ regulates the educational programme for immigrants, namely, language and general orientation courses, as they are now being introduced in Germany as well. But the Dutch model is not without its disadvantages. Courses that are hardly „tailor-made“ and a high drop-out rate are clouding the picture.

„Sprache, Sprache und nochmals Sprache“

Im Wahlkampf des Frühjahrs 2002 jagte der bald darauf ermordete Politstar Pim Fortuyn dem politischen Establishment der Konsensdemokratie einen gewaltigen Schrecken ein. Er schimpfte gegen kriminelle Ausländer und propagierte den Kalten Krieg gegen den Islam als rückständige Kultur. Seine Wähler und Parteigänger waren Aufsteiger aus der Mittelschicht, die den Druck durch neue Zuwanderung fürchteten und den Wohlfahrtsstaat mit zu vielen anderen teilen zu müssen glaubten, besonders mit den vielen Immigranten, die sich in Holland in den vergangenen Jahren eine Existenz aufgebaut hatten. Fortuyn brach die stillschweigende Vereinbarung der politischen Eliten, wonach die Integrationsfrage aus der parteipolitischen Konfrontation herausgehalten werden sollte. Während sich die deutsche Bundesregierung um einen Konsens in der  hemmungslos ideologisierten Ausländerpolitik bemühte, wurde in den Niederlanden die Konsensdecke weggezogen.

Hier ist zu berichten von einem schon in den 1990er Jahren erfolgten, markanten Kurswechsel der niederländischen Integrationspolitik. „Sprache, Sprache und nochmals Sprache“ könnte das Motto der neuen Integrationspolitik nunmehr lauten. Die Immigranten zur Pflicht gemachten Sprach- und Orientierungskurse sind als ideelles Exportprodukt in das neue deutsche Zuwanderungsrecht eingegangen.

 

Vom Minderheiten- zum Integrationsmodell

Die Niederlande wurden in den 1980er Jahren mit einer umfassend konzipierten „Minderheitenpolitik“ zum Musterfall des institutionalisierten Multikulturalismus in Europa. Dass der Multikulturalismus in den Niederlanden Fuß fassen konnte, hängt mit ihrer politischen Kultur zusammen. Die Niederlande sind selbst ein Land von Minderheiten. Ihre Geschichte ist geprägt vom Nebeneinander so genannter „Säulen“. Zunächst bildeten Katholiken und Protestanten, später auch Liberale und Sozialisten in sich geschlossene Teilgesellschaften mit jeweils eigenen Schulen, Vereinen, Zeitungen usw. Diese als „kollektive Emanzipation“ bezeichnete Tradition erlaubt es, in den Kategorien kultureller Vielfalt zu denken und zu handeln. Noch in den 1980er Jahren, während die Gesellschaft durch fortgeschrittene Säkularisierung und Individualisierung längst „entsäult“ war, erschien das Entstehen einer islamischen Säule als keineswegs abwegig. Statt Zwangsassimilierung sollte die Förderung und Bewahrung der Migrantenkulturen zu einer sanften Landung der Zugewanderten führen. Die Schulgesetzgebung erlaubte etwa die Gründung von nunmehr etwa 30 islamischen und einigen Hindu-Primarschulen, deren Status dem der zahlreichen christlichen Konfessionsschulen entspricht. Die Nationalstaatsideologie entwickelte sich entsprechend unterschiedlich zu Deutschland. Wo Homogenität und Einheit weniger betont wurden, musste der Einwanderer nicht ein Fremder auf Dauer bleiben. Die Einbürgerungsquote lag im Jahr 2000 mit 7,6% deutlich über dem EU-Durchschnitt (4,1%). Die ohnehin schwach verankerte exklusive Ideologie des Nationalstaates wurde zudem seit den 1950er Jahren überlagert von der inklusiven Ideologie des Wohlfahrtsstaates: Das materielle Gleichheitsideal des Versorgungsstaates garantierte auch den ethnischen Minderheiten einen erträglichen Lebensstandard. Großzügig subventionierte der Staat ihre Selbstorganisationen und Wohlfahrtsvereine.

Die Bilanz des Minderheitenmodells aber war getrübt. Nicht zufällig entdeckte man Ende der 1980er Jahre, als der Umbau des Sozialstaates und die Umstrukturierung der Wirtschaft mit zunehmender Geschwindigkeit begannen, dass durch den Einsatz von Sozialhilfe und Sozialarbeit auch die Eigeninitiative der Minderheiten erlahmt war. „Für die Selbstisolation der Minderheiten werden auch der Multikulturalismus und seine Rhetorik haftbar gemacht. Als Politik in guter Absicht habe er, so wird argumentiert, kulturelle Andersartigkeit hervorgehoben und Trennlinien im öffentlichen Bewusstsein zementiert.

Zu lange hatte man in den Niederlanden die nachteiligen Effekte einer hohen Arbeitslosenrate von  damals durchschnittlich 26% unterschätzt. Sie beträgt heute immer noch 14% (gegenüber 4% bei den autochthonen Niederländern). Einige Experten diskutierten deshalb bereits das Gespenst einer ethnischen Unterklasse mit erblicher Arbeitslosigkeit.

In den 1990er Jahren fand deshalb eine deutliche Kehrtwende hin zu einer stärker präventiven und obligatorischen Integrationspolitik statt. Die Minderheitenpolitik wurde in Integrationspolitik umgetauft. Ethnische Minoritäten sind nicht länger als Gruppen vorrangiges Ziel öffentlicher Politik. Einwanderer werden jetzt eher als Individuen und ihre „kulturelle Identität“ als Angelegenheit der Privatsphäre betrachtet. Die neue Maxime lautet: Nicht mehr Gruppenemanzipation nach dem alten Versäulungsprinzip, sondern Emanzipation durch Integration in den Arbeitsmarkt. Als Schlüssel zur Integration wird Sprachkompetenz gesehen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass die „sichtbaren“ Minderheiten wenigstens einen Teil ihrer angeblichen Fremdheit verlieren und weniger an der Sprachbarriere der wachsenden Dienstleistungsökonomie scheitern.

Programm der Erwachsenenbildung für Einwanderer

Schon seit 1990 war in ausgewählten Kommunen mit einer systematischen „Empfangspolitik“ für neu eingetroffene Zuwanderer experimentiert worden. Hieraus entwickelte die  „violette“ Regierung Kok (eine Koalition aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und Sozialliberalen) ein umfassendes Programm der Erwachsenenbildung und Zivilintegration. Seit dem September 1998 ist ein „Gesetz über die Einbürgerung von Neuankömmlingen (WIN)“ in Kraft. Inburgering bedeutet im Niederländischen zwar auch Naturalisierung im juristischen Sinne, gemeint ist aber so viel wie Eingewöhnung oder Einleben. Sie wird als erster Schritt zur Integration verstanden. Entsprechende Orientierungskurse sollen bei Neuzuwanderern die Fähigkeit zur Selbsthilfe fördern und neue rückständige Gruppen gar nicht erst entstehen lassen. Zielgruppe sind Neuankömmlinge, die im Wege des Familiennachzuges und aus humanitären Gründen aus Staaten außerhalb der EU kommen und eine Aufenthaltsperspektive auf Dauer haben. Das Gesetz gilt auch für Antillianer, die als Reichsbürger einwandern können. Weitere Adressaten sind Seelsorger. Ein aus dem Ausland „importierter“ Imam oder Pandit muss sich im ersten Jahr seines Aufenthalts in den Niederlanden zur Teilnahme an einem Spezialprogramm verpflichten. Von „Integrationsverträgen“ ist mittlerweile nicht mehr die Rede. Durch das WIN-Gesetz wurden die Integrationskurse obligatorisch. Die unter das Gesetz fallenden neuen Immigranten (nieuwkomers), die 18 Jahre und älter sind, werden im ersten Jahr ihres Aufenthalts zum Besuch eines individuell abgestimmten Kurses verpflichtet, der mit einer Prüfung und einem Zertifikat abschließt. Die Regierung subventioniert 600 Pflichtstunden in Niederländisch. Parallel dazu werden die Teilnehmer mit allen Fassetten der Gesellschaft (sogar Kurse in der holländischen Kulturtechnik des Fahradfahrens) und den beruflichen Möglichkeiten vertraut gemacht. Hinzu kommt eine individuelle Sozialbetreuung, die der „warmen“ Überleitung in den Arbeitsmarkt dienen soll. Jährlich gibt die Regierung für die Integrationskurse von 22.000 Neuankömmlingen 150 Millionen Euro aus. Inzwischen mehrt sich die Kritik an einer behäbigen Bürokratie und der unzureichenden und wenig maßgeschneiderten Unterrichtsqualität. Ein Viertel der Teilnehmer bricht den Kurs ab, weil es entweder an Kinderbetreuung fehlt oder weil die boomende Wirtschaft sie mit ungelernten Jobs fortlockt. Negative Sanktionen wie Bußgelder und Kürzung öffentlicher Leistungen wurden bisher eher selten verhängt.

Das ehrgeizige Programm der Zivilintegration wurde auch auf so genannte Altankömmlinge (oudkomers) ausgedehnt, hier vor allem Frauen mit kleinen Kindern und Arbeitslose. Rund zehntausend Personen aus dieser Gruppe stehen freiwillig auf einer Warteliste.

Deutschstunde für alle

Das niederländische Konzept einer Erstintegration durch Pflichtkurse hat die deutsche Debatte beflügelt. Manchmal machte sie den Eindruck, als solle die in Zeitungsfeuilletons zerpflückte national-konservative „Leitkultur“ mit Sprach- und Benimmkursen für Ausländer durch die Hintertüre eingeführt werden. Seit der Green Card-Initiative schien erstmals ein positives Bild von Einwanderung als ökonomischer und demografischer Vitalisierungsspritze ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Bei den Befürwortern von Pflichtkursen leben dagegen die alten Vorstellungen vom Ausländer als einem betreuungsbedürftigen Mängelwesen fort. Gleiches gilt für die Niederlande. Der Soziologe Jan Rath spricht vom „strengen Gesicht von Frau Antje", wenn er den der niederländischen Integrationspolitik innewohnenden Paternalismus und Erziehungsgedanken kritisiert.

Andererseits: Die gesetzliche Anmelde- und Teilnahmepflicht unterstreicht die Seriosität des Integrationsanliegens. Mit dem neuen deutschen Zuwanderungsgesetz verpflichtet sich der Staat ab 1. Januar 2003 zu öffentlich geförderten Sprachkursen und einem Gesamtsprachkonzept. Das Angebot war bisher unzulänglich und streng getrennt nach dem jeweiligen Aufenthaltsstatus der Zuwanderer. In einer Stadt wie Frankfurt am Main fiel die Hälfte der Zuwanderer durch das Netz der öffentlichen Sprachförderung und der Berufsorientierung.

Jetzt müssen alle Zuwanderergruppen erstmals systematisch Deutsch lernen. Der vorgesehene Gesamtumfang von 600 Kursstunden orientiert sich an den Erfahrungen der Niederlande. Quantitativ entspricht es dem Sprachunterricht für Aussiedler nach den Kürzungen der Regierung Kohl, die zu einem Absinken des Integrationsniveaus der Aussiedler in den letzten Jahren beigetragen haben. Eilig ist das für die Umsetzung zuständige, zukünftig so genannte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dabei, ein Konzept zu entwickeln. Anders als in den Niederlanden, wo die Kurse ausschließlich von den „Regionalen Ausbildungszentren“ („ROC’s) durchgeführt werden, muss das Nürnberger Amt sich mit einer Vielzahl von Sprachkursträgern, aber auch mit den Bundesländern koordinieren. Es geht darum, aus den Erfahrungen der Niederlande zu lernen, und eine stärkere Differenzierung und Modularisierung der Integrationskurse anzustreben. Bedenklich stimmt, dass die Bundesregierung eine Kürzung der Ausgaben für Integration (170  Mio. EUR) plant. So soll die bisherige Kinderbetreuung während der Sprachkurse (10 Mio. EUR) ersatzlos gestrichen werden. Wegen der akuten Finanznot der Städte weigert sich Frankfurt, das Zuwanderungsgesetz umzusetzen.

Sprache als Integrationsmittel? In den Richtliniendokumenten der abgewählten Regierung in Den Haag fallen die Beschwörungsformeln auf. Diese Rhetorik lässt erahnen, welche Enttäuschungen der Versuch einer geradezu planmäßigen Integration vorprogrammiert. Staatliche Politik darf nicht übersehen, dass Integration nicht durch einen nach Stunden berechneten Sprachkurs erreicht, sondern in einem Jahrhundertprozess von Generationen geleistet wird. Wichtig ist auch die gesellschaftliche Akzeptanz – Integration ist keine Einbahnstraße.

Literatur

Glastra, Folke/Schedler, Petra (2001): „Taal, taal en nog eens taal“: Ontwikkelingen in het inburgeringsbeleid voor nieuwkomers, in: Migrantenstudies 17/1, S. 2-19

Thränhardt, Dietrich (2002): Einwanderungs- und Integrationspolitik in Deutschland und den Niederlanden, in: Leviathan 30/2, S. 220-249

Internetseite des neuen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF): www.bamf.de


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2002

Uwe Berndt, Das strenge Gesicht von Frau Antje. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/42002/positionen1.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
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