DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Stichwort: Behinderungen

Horst Frehe

Horst Frehe ist Leiter der Nationalen Koordinierungsstelle für das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung

Mit Beschluss des Rates der Europäischen Union vom 3. Dezember 2001 ist das Jahr 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen erklärt worden. Damit soll das Bewusstsein der Bevölkerung gegenüber Behinderten verändert werden. Behinderung gerät so in den Fokus der Betrachtung. Nicht die medizinische oder psychische Schädigung, noch die Funktionsbeeinträchtigung sind das Anliegen des Jahres, sondern der Abbau von Behinderungen durch bauliche oder kommunikative Barrieren, die Verhinderung von Abwertungen und Benachteiligungen sowie die Vermeidung von Ausschluss und Ausgrenzung. Behinderung so verstanden, ist keine persönliche Eigenschaft behinderter Menschen, sondern ein diskriminierendes Verhalten Nichtbehinderter bzw. eine barrierehafte Struktur der Umwelt.

Natürlich kann Behinderung nicht auf Barrieren, Benachteilungen und fehlende Teilhabe reduziert werden. Dennoch ist es für die politische Praxis wichtig zu entscheiden, worauf das Augenmerk gerichtet wird und was verändert werden soll. Die Definition von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation hat neben den Elementen Schädigung, Aktivitätseinschränkung und Partizipationsbeeinträchtigung auch auf die Einbeziehung von Umweltfaktoren Wert gelegt. Für die Behindertenbewegung kommt es auf diese Veränderung des Blickwinkels besonders an.

Ein solcher Paradigmenwechsel wurde auch in der Gesetzgebung vollzogen. Erstmals wurde mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) ein Benachteiligungsverbot und ein umfassender Anspruch auf Barrierefreiheit gesetzlich geregelt. Damit ist klargestellt, dass es Aufgabe der Gesellschaft ist, für den möglichen Zugang und eine zweck­entsprechende Nutzungsmöglichkeit der Umwelt zu sorgen und Benachteiligungen behinderter Menschen abzubauen. Behinderung wird nun als Einschränkung der Teilhabe gesetzlich definiert. Allerdings sollte die Legaldefinition von SGB IX/BGG noch weiterentwickelt werden. Sie könnte z. B. lauten: »Eine Behinderung liegt vor, wenn Menschen an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft infolge einer Einschränkung der körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seelischen Gesundheit beeinträchtigt sind oder werden.«

Behindernde Erwachsenenbildung: Erwachsenenbildung ist bisher noch unzureichend auf behinderte Menschen eingestellt. Noch immer meint man etwa durch Töpferkurse für behinderte Menschen spezielle Angebote bereit stellen oder sie auf den Bereich der beruflichen Rehabilitation verweisen zu müssen. Eine Verdoppelung des Bildungsangebotes speziell für behinderte Menschen ist wenig sinnvoll. Spezielle Kurse sind nur hilfreich, wenn sie sich durch spezifische Inhalte rechtfertigen. Dieses war z. B. bei den legendären Kursen »Bewältigung der Umwelt« der Volkshochschule Frankfurt in den siebziger Jahren der Fall, von denen wesentliche Impulse für die Behindertenbewegung ausgingen. Gleiches gilt für Kurse in Gebärdensprache für Hörende oder für die Beschäftigung mit barrierefreier Verkehrsinfrastruktur, wenn alle von Mobilitätsproblemen Betroffenen einbezogen werden.

Entscheidend für die »Enthinderung« der Erwachsenenbildung wird es sein, in wie weit die Angebote für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich sind. Hiermit sind nicht nur die bauliche Erreichbarkeit für Rollstuhlfahrer, also stufenfreie oder mit dem Aufzug erreichbare Bildungsorte gemeint. Vielmehr geht es um Fragen der blindentechnischen Aufbereitung von Lehrmaterialen, die Zur-Verfügung-Stellung von Gebärdensprachdolmetschern für Gehörlose, die Abfassung der Lehrinhalte in einfacher Sprache für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder die Bereitstellung von Hilfsmitteln zur Unterrichtsteilnahme für körperlich Beeinträchtigte. Erwachsenenbildung darf sich nicht an segregierten Konzepten orientieren, sondern muss Barrierefreiheit der Angebote in einem umfassenden Sinn einlösen. Wenn dieser Bewusstseinswandel flächendeckend vollzogen würde, hätte das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 einen wichtigen Fortschritt gebracht.

Kontakt: horst.frehe@bmgs.bund.de  


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2003

Horst Frehe, Stichwort: Behinderungen. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/42003/frehe03_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp