DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Potenziale einer Dekade und Barrieren bei den Individuen

Lebenslanges Lernen für nachhaltige Entwicklung

Lenelis Kruse

Dieser Beitrag spricht nicht allein von der »Bildung für nachhaltige Entwicklung«, sondern weitet den Blick für Formen des »Lernens von Nachhaltigkeit« auch außerhalb organisierter Bildungsprozesse. Die UN-Dekade stellt in diesem Sinne eine große Herausforderung für eine Vielfalt an Lernorten, Akteuren und Zielgruppen dar. Den Chancen der Dekade stellt die Autorin einige soziale, v.a. aber individuelle Faktoren gegenüber, die das Lernen von Nachhaltigkeit prägen und teilweise erheblich erschweren: Neben Werthaltungen und Emotionen spielen hier v.a. Faktoren aus dem Bereich von Wahrnehmung, Kognition und Informationsverarbeitung eine Rolle.

Seit einiger Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung zu den größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört. Zentraler Gedanke ist eine ökologisch, ökonomisch und sozio-kulturell zukunftsfähige Entwicklung für alle Menschen/Geschöpfe auf der Erde, der zu einer umfassenden Neuorientierung der sich im­mer rascher nicht-nachhaltig entwickelnden Lebensstile führen muss.

Neben dem Bericht der Brundtland-Kommission 1987 und dem Gipfel von Rio 1992 (vgl. hierzu Apel in diesem Heft, d. Red.) ist für die jüngere Entwicklung besonders der »Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung« im Jahr 2002 bedeutsam. Für viele überraschend wurde in Johannesburg vorgeschlagen und noch zum Jahresende von der UN-Vollversammlung beschlossen, eine Dekade zur Bildung für nachhaltige Entwicklung von 2005 bis 2014 durchzuführen und mit der weltweiten Umsetzung die UNESCO zu beauftragen. Mit einer solchen Dekade wird ein Thema in der Vordergrund gerückt, das zwar auch schon durch die Agenda 21 (Kap. 36) präsent war, aber doch noch wenig Schwung gewonnen hatte (vgl. Apel, d. Red.).

Die Ausrufung einer Dekade der Bildung für nachhaltige Entwicklung ist Chance und Herausforderung zugleich. In Deutschland wurde durch die Hamburger Erklärung der Deutschen UNESCO Kommission (2003) und den einstimmigen Beschluss des Bundestages (2004) die Forderung auf den Weg gebracht, eine »Allianz Nachhaltigkeit lernen« zu schaffen und einen »Nationalen Aktionsplan« zu entwickeln, in dem kontinuierlich Maßnahmen und Programme entstehen, umgesetzt und schließlich auch evaluiert werden.

Mit diesem auf zehn Jahre angelegten Programm wird anerkannt, dass Bildung für nachhaltige Entwicklung ein wichtiges Instrument einer umfassenden Nachhaltigkeitspolitik ist. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Themen Bildung und Lernen für Nachhaltigkeit im Laufe der Dekade auch im Rahmen der internationalen Vertragsstaatenkonferenzen in Zukunft positionieren können.

Betont wird, dass nachhaltige Entwicklung eine Veränderung von Einstellungen, Denkstilen, Handlungsweisen, d.h. also die Herausbildung von neuen Lebensstilen der gesamten Bevölkerung bedeutet, die eben auch durch Bildung gefördert werden kann.

Dabei geht es um lebenslanges Lernen an vielen verschiedenen formellen und informellen Lernorten, mit unterschiedlichen Gruppen, vielfältigen Methoden und neuen Gegenständen. Wurde der Stellenwert der beruflichen Bildung bereits erkannt, konzentrieren sich nun weitere Aktivitäten auf den Elementarbereich, wird doch (nicht-) nachhaltiges Verhalten schon früh in der Sozialisationsgeschichte erworben und in vielen Gewohnheiten – oft schwer veränderbar – fixiert. Viel stärker in den Blick kommen müssen außerschulische Lernorte, denn schließ­lich vollzieht sich das lebenslange Lernen alltäglich und an vielfältigen Orten.

Nicht zuletzt richten sich Bildungsaktivitäten und Gelegenheiten zu lernen an viele verschiedene Zielgruppen (Kinder, Jugendliche, Senior/inn/en, Frauen, Männer, Migrant/inn/en) bzw. Akteure in ihren unterschiedlichen Rollen (als Mütter, Väter, Produzent/inn/en, Konsument/inn/en, Wähler/inn/en, Lehrer/innen, Ausbilder/innen, Politiker/innen, Journalist/inn/en, Autofahrer/innen, Sportler/innen u.a.m.). Damit wird klar, dass »Nachhaltigkeit lernen« weit über das hinaus geht, was bisher oft eng auf das formale, meist schulische Bildungssystem beschränkt gesehen wurde. Offensichtlich dürfte damit auch sein, dass dem Bereich Erwachsenenbildung bzw. Lernen im Erwachsenenalter ein neuer Stellenwert zukommt. Mit dem Begriff »Nachhaltigkeit lernen« ist eine breitere Konzeption verbunden als mit »Bildung für nachhaltige Entwicklung«. Es gelingt damit auch, besser deutlich zu machen, dass nachhaltige Entwicklung eine Aufgabe zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist. Klimawandel, Ausdünnung der Ozonschicht, Verlust der Artenvielfalt, Bodendegradation usw. sind das Ergebnis menschlichen Handelns bzw. der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt, von Natur- und Anthroposphäre. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wuchs die Einsicht, dass diese Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen auf die Dauer zur Zerstörung der Lebensgrundlagen für die Menschen (und ihre Mitwelt) beitragen und damit nicht zukunftsfähig sind. Die Erkenntnis und die Anerkennung dieser Problemlagen müssen folgerichtig zu vielfältigen Anstrengungen zur Veränderung der herrschenden Lebensstile führen, die nicht nur den heute lebenden Menschen im Norden und im Süden die Befriedigung ihrer Bedürfnisse erlauben, sondern auch für künftige Generationen Lebensqualität und Handlungsoptionen erhalten.

Nachhaltige Entwicklung ist demnach ein normatives Leitbild, das auf eine dauerhafte, weltweite und umfassende Veränderung von Mensch-Natur-Verhältnissen zielt, die sich in einer Vielzahl von Verhaltensweisen (Entscheidungsprozessen, Produktions- und Konsumstilen, Mobilität usw.) manifestieren. Folgt man der Prämisse, dass (nicht-)nachhaltiges Verhalten nicht angeboren ist, sondern von klein auf gelernt und angeeignet und dabei immer wieder neu gesellschaftlich und kulturell verstärkt wird, bietet es sich geradezu an, diese Perspektive der Verhaltensänderung mit Begriffen wie Wissenserwerb, Lernen, Bildung und Erziehung zu assoziieren. Dem Neulernen von nachhaltigen Verhaltensweisen (beim Klein- und Vorschulkind) wie dem »Verlernen« von nicht-nachhaltigen, oft hochgradig habitualisierten Verhaltensweisen (beim erwachsenen und älteren Menschen) ist dabei ebenso viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie sie dem Schulkind über viele Jahre hinweg im formalen Bildungssystem zuteil wird.

Viele Initiativen (insbesondere auch der Politik) zur Veränderung von Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein messen dem Erwerb von Wissen größtes Gewicht bei. Angesichts der Tatsache, dass zwischen Wissen, insbesondere dem allgemeinen und abstrakten Wissen, und dem konkreten Handeln in der Regel nur ein geringer Zusammenhang besteht, müssen die multiplen Bedingungen für nachhaltigkeitsrelevantes Verhalten, denen sich zum Beispiel die Psychologie in ihrer Ausrichtung als Umweltpsychologie seit vielen Jahren widmet, viel stärker berücksichtigt werden (vgl. zum Überblick die im Literaturverzeichnis genannten Werke). Besonders hervorgehoben werden sollen hier selektiv einige individuelle und soziale Bedingungen, die einerseits für das Lernen von Erwachsenen, d.h. für ihren Erwerb von Handlungs- und Gestaltungskompetenzen, andererseits für ihre Funktion als Modelle, als Lehrende im weitesten Sinne oder als Multiplikatoren für die Förderung von nachhaltigen Verhaltensweisen anderer besonders relevant sind.

Wichtige individuelle Faktoren liegen im Bereich der Werthaltungen und Einstellungen, der biographisch fundierten und habituell gewordenen Motivationen (Egoismus, Altruismus, Verzichtbereitschaft, Geiz ...), aber auch der temporären Emotionen (Angst, Trauer, Hoffnung auf Erfolg).

Eine für Kompetenzerwerb und Verhaltensänderungen schwierige Ausgangssituation bietet der Bereich von Wahrnehmung, Kognition und Informationsverarbeitung:

Aufklärung über die Existenz solcher Urteilsstrategien und Attributionsmuster ist nützlich, aber längst nicht im­mer wirksam. Nachhaltigkeitsbezogenes Handeln heisst wohl prinzipiell Handeln unter Unsicherheit, was wie­derum an die Entwicklung von Gestaltungskompetenzen große Anforderungen stellt. Umso wichtiger sind unmittelbar erfahrbare oder auch explizit konstruierte Rückmeldungen über Fehler, Erfolge und Misserfolge.

Noch zu wenig beachtet sind die interpersonalen und sozialen Bedingungen, die nachhaltiges Verhalten erleichtern oder erschweren. Soziale Normen und Werte der Mitgliedsgruppe (peers) oder von Referenzgruppen beeinflussen die Präferenz für Automarken, Fahrstil, Markenmode, Ferienorte, Konsumstile. Das gilt für Erwachsene wie für Jugendliche.

Erwachsene, zumal bekannte und geschätzte Personen, wirken aber auch als »soziale Modelle«, deren nachhaltiges oder nicht-nachhaltiges Verhalten, vor allem, wenn es (öffentlich) Akzeptanz erfährt, zur Nachahmung anregt.

Freilich bietet auch die Bildung und Pflege sozialer Netzwerke (Nachbarschaften, Klassenverbände, Freizeitgruppen) Potenziale für die Förderung nachhaltiger Verhaltensweisen.

Über verschiedene individuelle und soziale Bedingungen hinaus sind natürlich auch externe und infrastrukturelle Gegebenheiten zu beachten, die als ökologische und sozio-kulturelle Rahmenbedingungen (Landschaft, Wasserverfügbarkeit, technische Einrichtungen, ÖPNV-Netz, Steuervergünstigungen) vorgefunden werden, aber dann auch genutzt oder gestaltet werden können, um den Handlungsspielraum für nachhaltiges Verhalten zu erweitern.

Die UN-Dekade zur »Bildung für nachhaltige Entwicklung« verfolgt viele ehrgeizige Ziele. Sie wurde ausgerufen, weil die internationale Staatengemeinschaft den Beitrag von Bildung und Lernen für die Veränderung der Gesellschaft auf dem Wege zu einer nachhaltigen Entwicklung erkannt hat oder mindestens erwartet. Dabei wird es notwendig sein, viele Akteure, Lernorte und Handlungsfelder in ihrer Bedeutung für einen umfassenden Wandel der Lebensstile erst noch zu entdecken. Der erwachsene Mensch kommt dabei gleich mehrfach in den Blick: Als Lernender muss er selbst Kompetenzen und Handlungsweisen entwickeln, die einer nachhaltigen Entwicklung förderlich sind, als Lehrender hat er die Verantwortung, zur Kompetenzentwicklung und zum nachhaltigen Handeln anderer aktiv beizutragen. Schließlich sind aber auch Erwachsene sich eher der Mensch-Umwelt-Wechselwirkungen, in denen sie stehen, bewusst und können damit im besonderen Maße den Imperativ einer nachhaltigen Entwicklung annehmen und umsetzen. Kenntnisse über individuelle, soziale und strukturelle Verhaltensdeterminanten, welche die Vermittlung und die Umsetzung fördern oder behindern, sind dabei von unschätzbarem Wert.

Literatur

Bell, P./Greene, Th.C./Fisher, J.D./Baum, A. (52001): Environmental psychology. Fort Worth

Gardner, G./Stern, P. (1996): Environmental problems and human behavior. Boston

Hellbrück, J./Fischer, M. (1999): Umweltpsychologie. Göttingen

Kaufmann-Hayoz, R./Gutscher, H. (Hrsg.) (2001): Changing Things – Moving People. Basel

Kruse, L. (2005): Nachhaltigkeitskommunikation und mehr: die Perspektive der Psychologie. In: Michelsen, G./Godemann, J.: Handbuch Nachhaltigkeitskommunikation. München, S. 109–120

Matthies, E. u.a. (2004): Lokale Agenda-Prozesse psychologisch steuern. Frankfurt a.M.

Prof. Dr. Lenelis Kruse lehrt Psychologie mit Schwerpunkt Ökologische Psychologie an der FernUniversität in Hagen und ist Honorarprofessorin an der Universität Heidelberg und Mitglied im Nationalkomitee zur UN-Dekade.