DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Übergänge als Testfall

Das Konzept lebenslangen Lernens und die Durchlässigkeit des Bildungssystems

Dieter Gnahs

Mit dem Konzept des lebenslangen Lernens ist eine bessere Verschränkung der Bildungsbereiche intendiert. Wie die Bildungspolitik die Rolle des lebenslangen Lernens an Übergängen strategisch fasst und welche Praxis sie dabei faktisch unterstützt hat, untersucht der folgende Beitrag an zentralen Quellen: am BLK-Strategiepapier zum lebenslangen Lernen, anhand des Abschlussberichts des BLK-Modellversuchsprogramms »Lebenslanges Lernen« sowie anhand mehrerer Dokumente über das BMBF-Programm »Lernende Regionen«. Indem zum Schluss der erste nationale Bildungsbericht nach der Übergangsfreundlichkeit des deutschen Bildungssystems befragt wird, werden die vielfältigen positiven Ansätze in einen ernüchternden empirischen Kontext gestellt.

Mit der »Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland« (BLK 2004) haben der Bund und die Länder ein Rahmenkonzept präsentiert, welches Ansatzpunkte liefert, »wie das Lernen aller Bürgerinnen und Bürger in allen Lebensphasen und Lebensbereichen, an verschiedenen Lernorten und in vielfältigen Lernformen angeregt und unterstützt werden kann« (ebenda, S. 5 und S. 14). Dieses die ganze Lebensspanne einbeziehende Konzept schließt auch die Übergangsproblematik in ihren vielfältigen Formen mit ein: als institutioneller Übergang (zum Beispiel der Wechsel von der Grundschule zu einer weiterführenden Schule), als Statuspassage (zum Beispiel vom Studenten zum Erwerbstätigen) oder als biographische Wende bzw. als biographischer Bruch (zum Beispiel Arbeitslosigkeit, schwere Krankheit, Tod von Angehörigen).
Übergangsarten
Abbildung 1: Übergangsarten mit Beispielen

Im BLK-Strategiepapier werden Übergänge vor allem aus zwei Blickwinkeln betrachtet: Zum einen geht es um die transparente und effiziente Gestaltung, zum anderen um die Gewährleistung von Chancengerechtigkeit. Als strategische Hebel zum Erreichen dieser Zielsetzungen werden so genannte Entwicklungsschwerpunkte eingeführt: Vernetzung, Modularisierung, Lernberatung und neue Lernkultur (vgl. ebenda, S. 14-16). Damit werden vor allem Änderungsanforderungen an das Bildungssystem bzw. die Bildungseinrichtungen gestellt. Doch auch das Individuum soll Beiträge leisten, um das lebenslange Lernen besser zu ermöglichen bzw. – darin eingeschlossen – die Übergangsproblematik zu entschärfen. Die in diesem Zusammenhang relevanten Entwicklungsschwerpunkte sind Selbststeuerung und Kompetenzentwicklung, verstanden als selbständiges »Erschließen des jeweils aktuell benötigten Wissens durch gezieltes recherchierendes Erarbeiten und Nutzen einschlägig gespeicherten Wissens« (ebenda, S. 15).

Diese Entwicklungsschwerpunkte werden lebensphasenbezogen bzw. (alters)gruppenbezogen konkretisiert (Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Erwachsene, Ältere) (vgl. ebenda, S. 17-30). Deutlich wird dabei die Absicht, die »Weiterentwicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland offensiv zu betreiben« (ebenda, S. 31). Inwieweit dies in der Praxis eingelöst werden konnte, soll im Folgenden mit Bezug zur Übergangsproblematik skizziert werden.

Schon im Strategiepapier sind im Anhang 2 (vgl. ebenda, S. 75-121) eine Reihe von Good-practice-Beispielen aufgeführt, die verdeutlichen, was mit dem strategischen Ansatz erreicht werden soll. Nicht wenige von ihnen sind unmittelbar übergangsbezogen:

Im Abschlussbericht des BLK-Modellversuchprogramms (vgl. BLK/BMBF 2006) wird die Idee der Good-practice-Beispiele erneut aufgegriffen, indem auf die »Leuchtturmfunktion« der insgesamt im Zeitraum von 2000 bis 2005 geförderten Projekte verwiesen wird (vgl. ebd., Abschnitt 5.6). Von den 22 Projekten dient etwa die Hälfte direkt oder indirekt der Lösung oder der Verminderung der Übergangsproblematik. Zu nennen sind dabei vor allem Vernetzungsprojekte, bei denen Bildungseinrichtungen sektorübergreifend zusammenarbeiten, um auch die Lernenden besser in die Lage zu versetzen, sich zu orientieren und Übergänge in andere Bildungsphasen bzw. in andere Bildungseinrichtungen besser zu bewältigen.

Eine Sonderstellung in dieser Projektreihe nimmt das länderübergreifende Verbundprojekt »Weiterbildungspass mit Zertifizierung informellen Lernens« ein (vgl. DIE/DIPF/IES 2004; 2006). Es hat mit dem ProfilPASS ein Instrument hervorgebracht, welches Menschen in allen Lebensphasen, im Besonderen aber in biographischen Umbruchsituationen Anregung zur Orientierung und Reflexion über die eigenen Stärken und Schwächen bietet und somit Übergänge initiieren, begleiten und erleichtern kann. Im Regelfall in gestützten Kontexten (Beratung, Unterricht) wird den Nutzer/inne/n in eingängiger Weise über die Analyse vorangegangener Tätigkeiten ein neuer Zugang zur Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen verschafft. Das so gewonnene Kompetenzprofil kann dann bei der Zielbildung und der Planung der nächsten Schritte individuell genutzt werden. Die bisherige Nachfrage und das Interesse der Bildungspraxis lassen erwarten, dass der ProfilPASS sich als Übergangshilfe etablieren kann.

Im Fazit des Abschlussberichts des BLK-Modellversuchsprogramms wird testiert, dass das Programm insgesamt erfolgreich verlaufen ist und viele Anregungen zur Handlungsumsetzung gegeben hat. Bei einem von den Beteiligten als wünschenswert angesehenen Folgeprogramm »LLL 2« wird als einzubeziehendes wichtiges Themenfeld ausdrücklich »Modularisierung, Übergänge« genannt.

Explizit und herausgehoben wird die Übergangsproblematik im BMBF-Programm »Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken« behandelt. In den Förderrichtlinien werden die Netzwerke zur Profilbildung unter anderen in den folgenden Bereichen aufgefordert (vgl. BMBF 2000, S. 6):

Damit wird das ganze Spektrum übergangsfördernder Maßnahmen angerissen, welches von der Gestaltung institutioneller Übergänge über die Erleichterung des Zugangs zu bestimmten Bildungsgängen bis hin zu institutionellen und curricularen Verschränkungen reicht.

In der Zwischenbilanz der wissenschaftlichen Begleitung des BMBF-Programms ist ausgewiesen, inwieweit Übergangsthemen in die Netzwerkarbeit vor Ort Eingang gefunden haben (vgl. Nuissl/Dobischat/Hagen/Tippelt 2006). Im Besonderen in dem Beitrag »Übergänge in Bildungsphasen« (vgl. Reupold/Tippelt 2006) werden sowohl zusammenfassenden Einschätzungen als auch Einzelbeispiele genannt.

Das Handlungsfeld »Übergänge in Lern- und Bildungsphasen« besitzt einen hohen Stellenwert bei allen geförderten Netzwerken. Als Adressaten derartiger Aktivitäten werden Zielgruppen und Institutionen benannt: Im Blickfeld sind vor allem jüngere Menschen (Schüler an allgemein- oder berufsbildenden Schulen, Auszubildende, Jugendliche und junge Erwachsene), aber auch Ältere, Migranten und Nichterwerbstätige. Bei den institutionellen Adressaten dominieren Aus- und Weiterbildungseinrichtungen sowie Unternehmen. Zum Einsatz kommen vor allem Beratungsangebote sowie Anlauf- und Informationsstellen. In der konkreten Benennung der einzelnen Aktivitäten wird deutlich, welche Verknüpfungslinien im einzelnen gezogen werden: Bildungspartnerschaft Schule/Wirtschaft, Hochbegabtenförderung, Jugendcamps zur Generierung von Berufswünschen, Bildungslotsen für zugewanderte Menschen, Kompetenzzentrum Alter – Beruf. Ein Thema mit wachsender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Zertifizierung von Kompetenzen, seien sie nun in formalen, nonformalen oder auch in informellen Lernprozessen erworben worden. Rund 60 Prozent der Netzwerke widmen sich explizit diesem Thema, 20 Prozent können schon einschlägige Produkte vorweisen. Im Aufgabenkatalog der Netzwerke hat dieses Thema aber eher eine geringe Bedeutung.

Auch an anderen Stellen werden die praktischen Erfolge des BMBF-Programms vorgestellt und analysiert. In der Programmdarstellung (vgl. BMBF 2004a) finden sich in einer exemplarischen Darstellung der Arbeit von zehn Lernenden Regionen viele plastische Beispiele, die innovativ und systemüberwindend Lösungen aufzeigen (vgl. Gnahs 2004). Zu erwähnen sind u.a. das Schulnetzwerk Konstanz, das die enge Zusammenarbeit einer Realschule, einer Grund- und Hauptschule und einer Gewerbeschule organisiert; das Integrationskurssystem im Landkreis Emmendingen, welches Sozial-, Jugend- und Arbeitsamt, Schulen, sozialpädagogische Einrichtungen und Betriebe vernetzt; das Projekt »Starke Eltern – starke Jugend«, mit dem die Berufswahl von Jugendlichen gestützt und fundiert wird.

Weitere Quellen mit zahlreichen Beispielen liefern die Projektzusammenstellungen des Projektträgers DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt) im Auftrag des BMBF aus Anlass von zwei größeren Kongressen. Der Ausstellungskatalog zur Konferenz »Regionale Netzwerke für lebenslanges Lernen« (vgl. BMBF 2004b) präsentiert 19 ausführliche Projektbeschreibungen unter der Überschrift »Übergänge, Verzahnung und Durchlässigkeit der Bildungsbereiche« (u.a. »Kompetenzzentrum »Übergang Beruf-Alter«, das Berufspatenmodell zur Verbesserung des Übergangs von der Schule in den Beruf, der integrative Schulabschluss mit Berufsfindung). 2005 wurden auf einer Konferenz Beispiele aus drei einschlägigen Förderprogrammen zu neuen Kooperationen zwischen Schule und Arbeitswelt vorgestellt (vgl. BMBF 2005).

In dem Bericht »Bildung in Deutschland« (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) wird betont, dass Übergänge innerhalb des Bildungswesens oder bei seinem Verlassen keine deutsche Besonderheit sind, wohl aber deren Vielgestaltigkeit. So variiert z.B. die Zahl der Schularten im Sekundarbereich I in den Bundesländern zwischen zwei und fünf (vgl. ebd., S. 48 f.). Im Weiteren belegt der Bildungsbericht große soziale und regionale Unterschiede bei den Übergängen im Schulwesen und in die Hochschule.

Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Schüler/innen auf die Schularten Hauptschule und Gymnasium im Sekundarbereich I für das Schuljahr 2004/2005 in ausgewählten Ländern. Besonders die Hauptschulquote unterliegt erheblichen Schwankungen und weist z.B. zwischen Hamburg und Bayern eine Differenz von 22 Prozentpunkten auf. Die Gymnasialquote variiert daran gemessen nur mäßig: zwischen Hamburg und Bayern zum Beispiel um rund 9 Prozentpunkte.

Tab. 1: Schüleranteil Sek. I in Prozent an Hauptschulen und Gymnasien in ausgewählten Bundesländern (2004/2005)

Land

Anteil Hauptschule

Anteil Gymnasium

Baden-Württemberg

29,2

33,5

Bayern

36,5

32,3

Hamburg

14,4

41,0

Hessen

11,9

36,8

Nordrhein-Westfalen

32,2

32,1

Quelle: Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 238/D1-1A

Als markantes Beispiel für sozialstrukturelle Benachteiligungen mag der Gymnasialbesuch von Kindern in Abhängigkeit von der Sozialschicht ihrer Bezugspersonen dienen: »Im Vergleich zu Kindern aus Facharbeiterfamilien ist die Chance eines Gymnasialbesuchs für Kindern aus Familien der höchsten Sozialschicht (<Obere Dienstklasse>) mehr als viermal so hoch« (ebenda, S. 49 und D1-7web). Dieses Ergebnis aus der PISA-Studie lässt sich auch mit Bezug auf andere Aspekte wieder finden. So variiert die erreichte Stufe der Lese- oder der mathematischen Kompetenz ebenfalls stark mit der Sozialschichtzugehörigkeit (vgl. ebd., S. 70).

Der Bildungsbericht macht deutlich, dass die Quote der Studienberechtigten, die tatsächlich ein Studium aufnehmen, tendenziell seit Jahren rückläufig ist. Noch 1980 lag die Übergangsquote bei knapp 87 Prozent, während sie aktuell bei ca. 75 Prozent liegen dürfte (vgl. ebd., S. 102 und S. 270/F1-1A). Auch hier lässt sich, wie schon beim Zugang zum Gymnasium, eine erhebliche soziale Selektivität feststellen. Tabelle 2 zeigt, dass im Jahre 2004 39 Prozent der Studienberechtigten mit »niedriger« sozialer Herkunft ein halbes Jahr nach Schulabgang noch kein Studium begonnen haben, während die Vergleichsgruppe mit »hoher« sozialer Herkunft dies nur zu 18 Prozent getan hat.

Tab. 2: Studienberechtigte der Jahrgänge 1990 bis 2004 ein halbes Jahr nach Schulabgang: Anteil derer ohne Einlösung der Studienoption nach sozialer Herkunft (in % der jeweiligen Gruppe)

 

soziale Herkunft

Jahrgang

niedrig

mittel

gehoben

hoch

insgesamt

1990

33

31

25

14

25

1994

37

34

27

16

28

1996

43

39

34

23

34

1999

44

44

33

21

34

2002

35

35

27

17

27

2004

39

37

29

18

29

Quelle: Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 103 und F1-4web

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Hochschulzugang ohne Abitur, der von vielen Ländern zum Beispiel durch Regelungen für Berufstätige eröffnet wird, nur vergleichsweise wenig Resonanz findet: 2004 ist für 94 Prozent der Studierenden immer noch das Abitur die Eintrittskarte in die Universität (vgl. ebd., S. 104).

Ein Resümee

Diese Tour d´Horizon zur Bewältigung von Übergängen im Bildungssystem macht deutlich,

Übergänge sind nur zu oft noch Hürden und Barrieren, seltener offene Türen oder gar Rutschbahnen. Was offenbar fehlt, ist die Umsetzung der vielen ermutigenden Erfahrungen in Projekten und Modellversuchen strukturbildender bzw. strukturverändernder Bildungspolitik. Im Besonderen auch die internationalen Vergleiche sollten alarmieren, die für Deutschland ein hohes Maß von sozialer Selektivität bei der Zuweisung von Bildungschancen und Lernerfolgen. Das Thema »Übergänge« bleibt somit auf der bildungspolitischen Tagesordnung.

Literatur

BLK (2004): Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland. Heft 115 der »Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung«, hrsg. von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Bonn.

BLK/BMBF (2006): Abschlussbericht des BLK-Modellversuchsprogramms »Lebenslanges Lernen«, verfasst von Peter Krug und Heino Apel. Bonn.

BMBF (2000): Bekanntmachung von Förderrichtlinien für das Programm »Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken. In: Lernende Regionen 1/2000, hrsg vom Adolf-Grimme-Institut und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Bonn.

BMBF (2004a): Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken. Programmdarstellung. Bonn/Berlin.

BMBF (2004b): Die Strategie für das Lebenslange Lernen verwirklichen. Ausstellungskatalog zur Konferenz »Regionale Netzwerke für Lebenslanges Lernen« – Berlin, 08/09.11.2004. Bonn.

BMBF (2005): Neue Kooperationen zwischen Schule und Arbeitswelt. 13. und 14. Juni 2005, Bad Honnef. Bonn.

Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2002): PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen.

DIE/DIPF/IES (2004): Machbarkeitsstudie im Rahmen des BLK-Verbundprojekts »Weiterbildungspass mit Zertifizierung informellen Lernens«. BMBF (Hrsg.). Berlin.

DIE/DIPF/IES (2006): BLK-Verbundprojekt »Weiterbildungspass mit Zertifizierung informellen Lernens« (ProfilPASS). Endbericht der Erprobungs- und Evaluierungsphase. Frankfurt am Main

Gnahs, D. (2004): Reisen durch Landschaften des Lebenslangen Lernens. In: BMBF (2004), a.a.O., S. 11-35.

Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld.

Nuissl, E./Dobischat, R./Hagen, K./Tippelt, R. (Hrsg.) (2006): Regionale Bildungsnetze. Bielefeld.

Reupold, A./Tippelt, R. (2006): Übergänge in Bildungsphasen. In: Nuissl/Dobischat/Hagen/Tippelt, a.a.O., S. 89-110.