DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Stichwort »Übergänge«

Martin Baethge

Übergänge bekunden die Existenz von Grenzen. Deren Überschreiten ist in der Regel mit Komplikationen, Unsicherheiten und Risiken verbunden, ob man den Regeln und Anforderungen des neuen Raums, den man betreten will, auch gewachsen ist. In Bildungssystemen wirken vielfache Grenzen – zwischen Jahrgangsklassen, zwischen Vorschulerziehung und Grundschule, zwischen Abschluss der allgemeinbildenden Schule und Berufsausbildung oder Hochschule und andere mehr. Als Passierscheine für die Übergänge fungieren Empfehlungen, Zeugnisse, Noten. In der Perspektive lebenslangen Lernens wäre es aber verkürzt, Übergänge auf solche des formalisierten Bildungssystems zu reduzieren, und dessen Verhältnis zu den informellen Bildungswelten außer Acht zu lassen. Übergänge in Beschäftigung und Arbeitsmarkt und von dort wieder zurück in Bildungsprozesse werden in besonderer Weise an Bedeutung gewinnen, je mehr sich der Schwerpunkt beruflichen Lernens von der geblockten Erstausbildung auf wiederkehrende Lernepisoden im späteren Berufsleben verlagert.

Im internationalen Vergleich lassen sich Bildungssysteme danach unterscheiden, wie sehr sie durch Grenzen segmentiert und wie durchlässig oder undurchlässig die Grenzen sind, was davon abhängig ist, wie stark die einzelnen Bildungsbereiche unterschiedlichen institutionellen Ordnungen folgen. Das deutsche Bildungssystem ist mit der Dreigliedrigkeit seines allgemeinbildenden Schulwesens und der strikten institutionellen Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung sowie Hochschule und Weiterbildung wie kaum ein anderes Bildungssystem in der Welt segmentiert. Die Folge davon ist, dass es besonders viele Übergänge mit starken sozialen Selektionseffekten und einer begrenzten Bildungsmobilität gibt.

Bildungsmobilität lässt sich zum einen als institutionelle Durchlässigkeit, zum anderen als individuelles Vermögen und Bestreben definieren, seine Kompetenzen zu erweitern und möglichst hohe Zertifikate und Bildungsabschlüsse zu erreichen. Beide Aspekte sind in der Realität nicht völlig unabhängig voneinander, gehen aber auch nicht ineinander auf: Je stärker die institutionelle Abschottung der Bildungsbereiche voneinander ist, desto schwerer sind die Übergänge und desto höher werden für die Bildungsteilnehmer die Anstrengungen sein, sich neue Bildungsräume zu erschließen und Bildungsmobilität zu beweisen. Für ein Konzept »Bildung im Lebenslauf« sind mangelnde Durchlässigkeit von Bildungsbereichen und Barrieren für die Entwicklung von Bildungsmobilität als individueller Kompetenz gleich belastende Hypotheken.

An der im ersten nationalen Bildungsbericht (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006) dargestellten aktuellen Situation des deutschen Bildungssystems lassen sich die Probleme der Übergänge und der (begrenzten) Bildungsmobilität in einem stark segmentierten Bildungssystem eindrucksvoll darstellen:

Besonders dramatisch haben sich im letzten Jahrzehnt die Übergänge aus dem allgemeinbildenden Schulwesen in die Berufsbildung problematisiert, vor allem für Hauptschüler/innen ohne und mit Abschluss, aber auch für Realschulabsolvent/inn/en. Gegenwärtig befindet sich etwa eine halbe Million junger Menschen, das sind zwei Fünftel der Neuzugänge zur beruflichen Bildung, im »Übergangssystem« (unter dieser Bezeichnung werden Ausbildungsaktivitäten wie berufsvorbereitende Maßnahmen, Berufsfachschulen u.a. zusammengefasst, die keinen qualifizierten Ausbildungsabschluss vermitteln). Es wäre dringend erforderlich, das Übergangssystem mit dem vollqualifizierenden Ausbildungssystem so zu verknüpfen, dass dort erbrachte Leistungen hier anerkannt werden können. Damit könnte mehr Lernmotivation erhalten oder überhaupt erst freigesetzt werden. Voraussetzung für eine solche Verknüpfung wäre eine stärkere Modularisierung in der Berufsbildung.

Dass die in der Jugend systemisch produzierte Bildungsimmobilität im weiteren Lebensverlauf selten korrigiert, häufig vermutlich eher verstärkt wird, dafür zeugen die bekannten Korrelationen zwischen Weiterbildungsbeteiligung und Schule und Ausbildungsabschlüssen. Die mobilitätshemmenden Grenzen des deutschen Bildungssystems, deren Überschreiten – wie gezeigt – individuell nur schwer gelingt, sind nur mit einer stärkeren Flexibilisierung der institutionellen Ordnungen der einzelnen Bildungsbereiche zu überwinden. Damit ist keine einseitige Anpassung beispielsweise der Berufsbildung an das allgemeinbildende Schulwesen oder das Hochschulsystem gemeint, sondern die Schaffung neuer mobilitätsfördernder Lernkulturen in allen Bildungsbereichen, bei der Elemente von allen in alle Eingang finden.

Literatur: 
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld

Prof. Dr. Martin Baethge ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Universität Göttingen.