DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Grundzüge einer temporalphänomenologischen Erwachsenenpädagogik

Schonräume der Langsamkeit

Andreas Dörpinghaus

Wenn Zeit in erwachsenenpädagogischen Kontexten thematisiert wird, stehen zumeist ihre formale Bereitstellung und die Frage ihrer bestmöglichen Ausnutzung im Vordergrund. Wie selbstverständlich wird allzu oft eine Zeitvorstellung unterlegt, die einer unternehmerischen Ordnung entspringt und in der Metapher der »Ressource« ihren Ausdruck findet. Dagegen wäre daran zu erinnern, dass die Bildungszeit Erwachsener am wenigsten eine quantitative, viel mehr eine qualitative Größe ist, die inhaltlich gestaltet werden muss. Darin besitzt die »Bildungszeit« eine eigene Struktur, die als Moment der Verzögerung gefasst werden kann.

Hans Blumenberg hat das Problem der Zeit trefflich benannt: Sie sei das am meisten Unsrige und doch das am wenigsten Verfügbare. Bildungs- und Lernprozesse sind oft erst auf den zweiten Blick in Temporalstrukturen verwickelt. Zeitstrukturen werden Bildungs- und Lernprozessen stillschweigend unterlegt, ohne in den Blick zu nehmen, dass diese Strukturen zugleich Schemata dieser Prozesse sind. Es ist sicherlich ein großes Verdienst Immanuel Kants (1724–1804), die Zeit als ein Phänomen beschrieben zu haben, das das Problem des menschlichen Zur-Welt-Seins markiert. Zeit ist weder subjektiv noch objektiv, sondern ist als Schema beteiligt an der Sicht von Welt. Die Praktiken der Zeit – also die Weisen des Umgangs mit ihr – bilden einen Schematismus, der sich nicht gleichgültig verhält gegenüber der in der Zeit vorfindlichen »Bewegung«. Sie sind als Umgangsweisen mit Zeit Einübungen in Erfahrungskonstitutionen. Das heißt mit anderen Worten, das, was Menschen tun, ist beteiligt an ihrer Sicht von Welt.

Vor diesem Hintergrund kommt der Reflexion auf das Verhältnis der Erwachsenenbildung zum Begriff der Zeit große Bedeutung zu. Mit der Möglichkeit der Verzögerung ausgestattet, behandeln Menschen sich als Wesen, die für ihr Handeln Gründe haben und nicht bloße Reize, die in der Lage sind, zu antworten und nicht nur zu reagieren und nicht der unbefragten Verbindung von Gesolltem und Handeln erliegen. Der Mensch ist als endliches Wesen kein »unbewegter«, sondern ein »bewegter Beweger«, der verzögernd bewegt, jemand, der im Wege steht, der mitunter durch Nach-Fragen unbequem ist, den reibungslosen Ablauf stört und nachdenkt (vgl. Dörpinghaus 2003a). Verzögert wird eine Bewegung in der Zeit, die ihr Maß in der Unnachgiebigkeit und Kontinuität eines Verlaufes hat, der die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sucht und sich innerhalb einer Ordnung bewegt, in der die Frage und die Antwort immer schon feststehen, in der Verzögerung per se ein Ärgernis ist.

Aufschlussreich für den Zusammenhang von Bildung und Verzögerung ist eine Bemerkung Theodor W. Adornos (1903–1969) aus seinem Nachlass: Für Adorno ist Bildung ein »Wartenkönnen« (Notizheft, 1943, Ts51905). Warten, in einer reichen Bedeutung, ist keine Zeitverschwendung, sondern eine Form der Aufmerksamkeit, und zwar verwoben mit einer verzögernden Zeitgestaltung. Damit wird zugleich deutlich, dass die Verzögerung kein passives Untätigsein ist, sondern im Gegenteil, ein angestrengtes Tätigsein gegen den Druck der Zeit. Das Resultat der Verzögerung sind bildende Erfahrungen (vgl. Blumenberg 1980, S. 57).

Bildung: ein »Wartenkönnen«

Fragt man nach der Struktur der Verzögerung, so zeigt sie sich als eine Art der Wiederholung oder Anapher (vgl. Dörpinghaus 2005). Sie rückt in der zurückweisenden – anaphorischen – Bewegung der Wiederholung das Wiederholte selbst in ein anderes Licht. Dieser Prozess bewegt sich nicht zwischen gänzlich Unterschiedenem, auch nicht zwischen Identischem, ansonsten wäre er weder Wiederholung noch Bewegung (vgl. Waldenfels 2001). Für die Verzögerung ist kennzeichnend, dass sie einen pathischen Charakter besitzt, das heißt, nicht selbstaffektiv ist, und auf ein Fremdes antwortet, das nicht der eigenen Konstruktion entspringt. Somit wird ein Bildungsprozess erst in der Verschränkung von Attentionalität und Intentionalität möglich.

Eine temporalphänomenologische Erwachsenenpädagogik hätte vor diesem Hintergrund Verzögerungsprozesse als Bildungserfahrungen zu ermöglichen. Das heißt, Bedingungen zu schaffen, die erlauben, dass Einzelne Möglichkeiten verwirklichen, die sich nur im Modus und unter der Form ihrer Verwirklichung als Bildungsprozess in der Zeit zeigen. Kurzum: Die Ermöglichung von bildender Erfahrung ist die transzendentale Grundlage einer erwachsenenpädagogischen Lehr- und Lernvorstellung. Bildung – will sie nicht auf die Anbindung ihrer Prozesse an die Erfahrung verzichten – ist der Versuch, menschliche Erfahrung in der Tota­lität eines leiblich-kognitiven Wesens als Bildungsprozess zu denken. Folgt man der neuzeitlichen Vorstellung von Didaktik als Disziplin, so wird man fest­stellen, dass ihr das Moment der Beschleunigung innewohnt. Nicht nur alles sollte nach Wolfgang Ratke (1571–1635) gelehrt werden können, sondern vor allem in kürzester Zeit. In einer solchen Anbindung und Entwicklung müssen Erfahrungen zu unnötigen Umwegen werden. Menschliche Erfahrungen »kosten« schlichtweg Zeit, weil sie die Attentionalität involvieren und zu Veränderungen der Horizonte im Denken und Wahrnehmen führen. In Nadolnys Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit« fragt sich der per se nach äußeren Vorgaben zu langsame Franklin, wie er schneller werden könne. Er beschließt dies an einem Baum zu üben, er will trainieren, schneller zu werden, um auf der Höhe der Zeit bleiben zu können:

»Er stieg wieder hinunter und wieder hinauf. Es ging wirklich zu langsam: die Hand griff nach dem Ast und fand Halt. Jetzt hätte er aber schon längst den nächsten Ast im Blick haben müssen. Was tat das Auge? Es blieb bei der Hand. Es lag also am Schauen. Den Baum kannte er schon sehr gut, aber schneller ging es trotzdem nicht. Seine Augen ließen sich nicht hetzen.« (Nadolny 2001, S. 17)

Didaktik für »freiwillige Attentionalität«

Erfahrungs- und Wahrnehmungsbewegungen nehmen die Verschränkung von Intentionalität und Attentionalität auf. Bildungs- und Lernprozesse sind im Ausgang dem Attentionalen verpflichtet. Das Selbstverständliche wird plötzlich fraglich, wird widerständig und lässt sich nicht unmittelbar einfügen in eine Ordnung des bereits Gedachten. Bildungs- und Lernprozesse haben etwas mit Fragen zu tun, und zwar mit Fragen, deren Antworten nicht schon bereit liegen. Erwachsenenbildung kann sich nicht auf das Einfügen eines Gegenstandes in eine Frage-Antwort-Relation begnügen, sondern muss sich gerade um die Möglichkeit mühen, im Spielraum von Frage und Antwort aufzuzeigen, was nicht in ihrer funktionalen Bezogenheit aufgeht. Es scheint zunehmend – vor allem in der Gestaltung der Zeit und mit Blick auf eine pädagogische Planungsperspektive – wichtiger, Trainings von Bildungsprozessen unterscheidbar zu halten. Dabei besteht die Kunst der Didaktik darin, diese Aufmerksamkeit freiwillig werden zu lassen.

Eine didaktisch begründete Bildungszeit hat die Struktur der Verzögerung und dient der Ermöglichung von Erfahrung. Sowohl die Lehr- und Lerninhalte als auch der Vermittlungsprozess haben das Verzögernde an ihnen zu bedenken.

»Praktiken der Verzögerung«

Erwachsenenpädagogische Arrangements sind stets ein Grenzgang zwischen Vertrautem und Unvertrautem, Bekanntem und Unbekanntem, und Verzögerungspraktiken haben an dieser Stelle anzusetzen. Fragt man nach Praktiken der Verzögerung, so lassen sich – gleichwohl nicht systematisch gegliedert – Hinweise formulieren.

Planungsperspektiven/Zeitorganisation: Zeit in ist letztlich nur mit Blick auf ihre inhaltliche Gestaltung plan- und organisierbar. Bildungszeiten, sofern sie nicht gleichgültig sind gegenüber der mit ihr verwobenen »Bewegung« des Lernens, erschöpfen sich nicht in einem quantifizierbaren Zugriff, der darauf abzielt, sie ohne Rücksicht auf die inhaltlichen Aufgaben zu planen, viel mehr gilt es, sie überhaupt erst zu ermöglichen. In analytischer Hinsicht ergibt sich daher die Notwendigkeit einer Differenzierung von »linearer« und verzögerter Zeit. Die Unterscheidung von Zeitgestalten und -praktiken ist für eine Reflexion auf die erwachsenenpädagogische Planungsperspektive unerlässlich. Bildungszeiten werden durch Praktiken der Linearität verhindert und erscheinen zumeist in der teleologischen Bestimmtheit einer Zweck-Mittel-Relation (»Bildungszeit« etwa für eine zu erbringende Leistung oder einen Abschluss), der unterstellten Kontinuität von Lernzeit (u.a. in der Voraussetzung der Verfügbarkeit von Anfang und Ende des Lernens) sowie in der Bezogenheit vorgegebener Ordnungsschemata im Frage-Antwort-Gefüge (vgl. Dörpinghaus 2003b). Darin vernichtet sich Bildungszeit selbst: Es stellt sich die Frage, welche Rolle Linearität, Zweckbestimmtheit und Ordnungsgefüge im Rahmen der Fragen nach Ermöglichung von Bildungszeit spielen, und zwar in eben dieser Priorität der Rahmung.

Wiederholungen sind aus vielen Gründen in pädagogischen Kontexten nicht nur nicht vermeidbar, sondern sind im erwachsenenpädagogischen Grenzgang unverzichtbar. »Das aus wiederholter Erfahrung Wohlbekannte ist doch unweigerlich in allem von ihm Bekannten nur relativ bekannt und hat also in allem einen eigenartigen Horizont offener Unbekanntheit.« (Husserl 1962, S. 357) Wiederholungen sollten stets das Prozessuale von Bildung und Lernen erschließen, so dass der je zurückgelegte und vergangene »Lernweg« reflexiv begleitet wird. Die Wiederholung ist aber auch eine Form der nach vorne gerichteten gegenwartserhellenden und sinnstiftenden Erinnerung (vgl. Kierkegaard 2000, S. 3). Zu verstehen, wer man ist und wie man zu dem geworden ist, der man ist, ist der Kern einer kritischen Erwachsenenbildung. Sich auf sich zu verstehen und das eigene Ethos als veränderbar und gestaltbar zu erfahren ist das Ziel verzögernder Lebenskunstpraktiken seit der Antike.

Gespräche sind der Einbruch einer fremden Perspektive in das eigene Deutungsmuster. Goethe hat in seiner kleinen Erzählung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten auf die fruchtbare Bedeutung auf den ersten Blick unnützer Unterhaltungen hinge wiesen. Doch gerade sie sind per se eine Praktik der Verzögerung, sie sind ein Abschweifen und »Umhergehen«. Vor diesem Hintergrund sind Pausen kein horror vacui, kein leerer Zeitraum, sondern oft der fruchtbringendste Teil von Bildungsveranstaltungen. Es sind die Schonräume der Langsamkeit. Aber auch das Erzählen, das Lesen und vor allem Schreiben haben verzögernde Dimension. Das Zurückverweisende des Erzählens und jeden Gesprächs, das Eingehen auf den Gesprächsbeitrag und die Argumentation eines Anderen, der Widerstreit um strittige Deutungen, aber auch das ausgehaltene Schweigen sind gleichfalls Kennzeichen verzögernder Bildungspraktiken.

Ästhetik/Kunst: Kunst ist eine Praktik der Wahrnehmungsverzögerung und darin reflexiv-anaphorisch angelegt. Kunst ist die Darstellung des Unvertrauten im scheinbar Vertrauten. Insgesamt wäre statt der Steigerung von Reizen, wie es methodische Repertoires nahe legen, gerade die Verfeinerung der Aufmerksamkeit das Ziel (vgl. Blumenberg 2002, S. 184). Auch das (szenische) Spiel ist eine Weise, Handlung verzögernd und das Verhältnis zur leiblichen Existenz zu gestalten. Es geht um eine »Schulung« der Aufmerksamkeit, sich selbst, anderen und der Welt gegenüber. Der Möglichkeitssinn des Ästhetischen (Robert Musil) gibt dem Wirklichen und scheinbar Unveränderbaren die Veränderbarkeit in der Vielfalt der Möglichkeiten zurück.

Fragen/Antworten: Freie Formen des Lernens, die nicht auf eine Frage-Antwort-Relation angewiesen sind, erhalten in der Erwachsenenbildung neue Chancen. Dabei ist die oft geforderte Selbsttätigkeit im Lernen eine Tätigkeit, die das vorschnelle Tätigwerden verzögert und nicht in der Alternative von Aktivität und Passivität aufgeht. Mit anderen Worten: Diese Tätigkeit ist eine Antwort auf Fragen, die sich stellen und besteht in einem gleichsam fragenden Denken, das nicht verzögert um der Verzögerung willen. Sie ist vielmehr eine Stellungnahme zur Welt und zu den Mitmenschen, die lehrt, dass es Anderes gibt, das sich nicht einfügen lässt in die bekannte Perspektive. Bildungsprozesse haben etwas mit Fragen zu tun, und zwar mit Fragen, deren Antwort nicht schon bereit liegt und die zu finden (inventio) den fruchtbaren Augenblick (kairos) erwachsenenpädagogischer Prozesse ausmacht (vgl. Meyer-Drawe 2007). Etwas wird fraglich, die selbstverständlichen und domestizierenden Deutungsmuster geraten ins Wanken, die eigene Sicht ist kein ruhender Pol am gesicherten Ufer, sondern gerät in die Wogen des Nachdenkens. Im Grunde geht es darum, die unbefragte Ordnung, in der sich oft Weiterbildungen und Trainings bewegen, selbst zu thematisieren, um ein tieferes Verständnis seiner selbst als Akteur und des sachlichen Gehaltes zu erlangen.

Kulturalität/Interkulturalität: Der Beschäftigung mit Kultur und Kulturgütern könnte eine veränderte Bedeutung in der Erwachsenenbildung zukommen. Kultur ist der Inbegriff der Verzögerung, und Kulturgüter begründen sich darin, gerade keinen unmittelbaren Nutzen zu haben (vgl. Helmer 2004). Sie stehen der Beschleunigungstendenz moderner Gesellschaften entgegen, die sich derzeit mühen, kompetenzorientierte Lernprozesse Erwachsener effektiver zu gestalten und zu beschleunigen. Die Arbeit an Kultur wäre als Arbeit an der eigenen Genealogie gegenwärtig eine überlebensnotwendige kompensatorische Selbsthistorisierung mit der Möglichkeit, eine Distanz zur Gegenwart zu erlangen, die möglicherweise Voraussetzung ist, um in ihr zu klugem Urteilen zu gelangen. Und vielleicht sind sogenannte Kulturgüter, wie Hans Blumenberg bemerkt, Umständlichkeiten, die verzögern:

»Wer tradierte Bildungsgüter verteidigt, soll beweisen, was sie noch wert sind. Nehmen wir an, dass sie als solche überhaupt nichts wert sind, so wird ihr ‚rhetorischer’ Charakter deutlich: sie sind Figuren, Pflichtübungen, obligatorische Umwege und Umständlichkeiten, Rituale, die die unmittelbare Nutzbarmachung des Menschen erschweren, die Heraufkunft einer Welt der kürzesten Verbindungen zwischen jeweils zwei Punkten blockieren, vielleicht auch nur verlangsamen«. (Blumenberg 1986, S. 124).

Auch eine interkulturelle Bildung wäre eine Auseinandersetzung mit Fremdem und Unvertrautem, die den Bildungs-Spielraum durch die Verzögerung eröffnet.

»Bildung über die Lebenszeit: unzeitgemäß«

Der Gedanke der Lebenszeitgestaltung war von Beginn an mit dem Bildungsgedanken verwoben. Bildungszeit wird zumeist unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausnutzung, nicht ihrer Ermöglichung thematisiert. Die Verunmöglichung dieser Zeit für Bildung greift tief: Wie soll es Bildung geben, wenn Erfahrungen verhindert werden, auf die Bildung allererst die Antwort ist! Erfahrungen brauchen Zeit. Einer »schnellen Welt« und einem »beschleunigten Wandel« kann der Mensch nur durch den Verzicht auf Erfahrungen Herr werden. Zeitgewinn wird so zum Lebenszeitregime. Durch den Gedanken der Verzögerung wird die konstitutive Bedingung von Bildung und Erfahrung in der Zeit selbst thematisch. Der oft beklagte Zeitdruck Erwachsener ist ein soziales und kein zeitphysikalisches Problem. Durch Zeitdruck und Beschleunigungsprozesse werden Möglichkeiten des Denkens und Handelns eingeschränkt, wenn nicht gar verhindert. Somit wird Zeit zu einer Form der Steuerung und Regierung von Menschen. Während eine Disziplinargesellschaft ihre Regierungspraktiken über den Raum ausübt, übt eine Kontrollgesellschaft ihre Führung und Entmündigung über die Zeit aus.

Die gleichsam verzögernd anachronistische eben unzeitgemäße Bildung über die Lebenszeit steht der Vorstellung eines Lebenslangen Lernens entgegen, das nicht zu einem Ende kommt und darin Kontrollfunktion ausübt (vgl. Deleuze 1993). Sie sucht im Sinne eines kritischen Ethos zu verstehen, wer man ist und nicht – als learning on demand – zu antizipieren, wer man sein soll. Lebenslanges Lernen und permanente Weiterbildung als Mentalitäten suggerieren ein erfülltes Leben, sie führen aber in ihrer letztlich ökonomischen Programmatik der Effizienzzeit zu einem Erfahrungsdefizit, das sich als Unbehagen an der Beschleunigung zeigt.

Insbesondere für die Erwachsenenbildung dürfte von hier aus die Orientierung an einer Weiterbildung im Kontext des Lebenslangen Lernens problematisch sein (vgl. Dörpinghaus 2007). Bildung über die Lebenszeit ist als unzeitgemäßes Ethos die Sorge um eine kritisch-reflexive Bildung von Erwachsenen, die, daran erinnert Theodor Ballauff, Entscheidungen zu fällen und Welt im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitzugestalten haben (vgl. Ballauff 1973, S. 90).

In der Antike galt die Verzögerung als Kennzeichen klugen Handelns. Zu dieser Klugheit – phronesis – gehörten das angemessene Urteilen, dass man Zukünftiges aus Gegenwärtigem und Vergangenem erkennt, in der Lage ist, sich auf Unsicheres einzulassen und nur das, was als Vorfindliches ge­staltbar ist, zu gestalten sucht.

Im Rahmen einer »unzeitgemäßen« temporalphänomenologischen Erwachsenenpädagogik bleibt nur die Sorge um Bildung und Zeit. In diesem Sinne verweist Seneca auf die Sorge um sich in der Gestaltung der Lebenszeit als Verhältnis zur Zeit durch Zeitpraktiken (Seneca 1995, S. 2-7): »Mache es so, mein Lucilius: rette dich dir selbst; sammle und erhalte dir die Zeit, die dir bisher entweder geraubt oder entwendet wurde oder entschlüpfte. Überzeuge dich selber, es ist so, wie ich Dir schreibe: hier wird uns eine Stunde entrissen, dort eine heimlich entzogen, eine andere entschlüpft unvermerkt. Der schimpflichste Verlust jedoch ist der durch Nachlässigkeit ...«

Literatur

Ballauff, T. (1973): Methodologische Voraussetzungen in der Theoriekonstitution der Erwachsenenbildung. In: Erwachsenenbildung als Wissenschaft. Hannover/Augsburg 1973, S. 88–100

Blumenberg, H. (1980): Nachdenklichkeit. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch. Heidelberg, S. 57–61

Ders. (1986): Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1986, S. 104–136

Ders. (2002): Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlass hrsg. v. M. Sommer. Frankfurt a.M.

Deleuze, G. (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaft. In: Ders.: Unterhandlungen, S. 1072–1990

Dörpinghaus, A. (2003a): Von unbewegten und bewegten Bewegern. Bildungstheoretische Vermerke zur Frage nach dem Anfang. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, S. 449–461

Ders. (2003b): Zu einer Didaktik der Verzögerung. In: Schlüter, A. (Hrsg.): Aktuelles und Querliegendes zur Didaktik und Curriculumentwicklung. Bielefeld, S. 24–33

Ders. (2005): Bildung als Verzögerung. Über Zeitstrukturen von Bildungs- und Professionali­sierungsprozessen. In: Pädagogische Rundschau, S. 563–574

Ders. (2007): Bildungszeiten. Über Bildungs- und Zeitpraktiken in der Wissensgesellschaft. In: Müller, H.-R./Stravoravdis, W. (Hrsg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft. Wiesbaden, S. 35–47

Helmer, K. (2004): Kultur. Eine Skizze. In: Herchert, G./Witsch, M. (Hrsg.): Spektrum Freizeit. Bielefeld, S. 32–36

Husserl, E. (1962): Werke, Bd. VI. Tübingen

Kierkegaard, S. (2000): Die Wiederholung. Hamburg

Meyer-Drawe, K. (2007): Kairos. Über die Kunst des rechten Augenblicks. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, H. 2, S. 241–252

Nadolny, S. (352001): Die Entdeckung der Langsamkeit. München

Seneca, L. A. (1995): Philosophische Schriften. Bd. 3. Frankfurt a.M.

Waldenfels, B. (2001): Die verändernde Kraft der Wiederholung. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, H. 46/1, S. 5–17

 

Prof. Dr. Andreas Dörpinghaus lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Würzburg.