DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Von der Effizienz zur Effektivität

Joachim Hasebrook über Lernen, Geschwindigkeit und die richtigen Prioritäten bei betrieblichem E-Learning-Einsatz

Joachim Hasebrook
Joachim Hasebrook ist Professor für betriebliches Informationsmanagement an der Wissenschaftlichen Hochschule Lahr (www.whl-lahr.de) und Senior Manager für Personalentwicklung, Bildungscontrolling und betriebliche Lern- und Informationssysteme bei der zeb/rolfes.schierenbeck.associates GmbH in Münster. Mit ihm sprach DIE-Redakteur Dr. Peter Brandt.

DIE: Herr Hasebrook, wenn ich heute erführe, dass ich in drei Monaten nach China versetzt würde – wie könnte ich am schnellsten die Sprache erlernen?

Hasebrook: Zunächst einmal wäre diese Konstellation eine gute Erfolgsvoraussetzung. Sie bietet eine tiefgreifende Verunsicherung als Basis einer hohen intrinsischen Motivation, und die ist gut für das Verankern von Lerninhalten im Langzeitgedächtnis. Die Psychologen nennen das »Konfliktinduzierung«. Nehmen wir an, Sie würden nach China »nur« in Urlaub fahren, würden sie weit weniger konzentriert bei diesem Lernerfordernis bleiben und sich vielfältig ablenken, z.B. lieber mit den Kindern spielen.

DIE: Aber die Drei-Monats-Frist könnte auch Stress hervorrufen.

Hasebrook: Ja, klar, es muss die optimale Balance von Konfliktinduzierung und Stressvermeidung gefunden werden, das optimale Erregungsniveau. Und dann müssen Sie einen Rahmen schaffen, der günstig ist für die Verankerung von Gedächtnisinhalten. Wichtig ist, dass Sie sich exklusiv mit dem Lernen beschäftigen und wenige Ablenkungen zulassen, dass der Lerninhalt hohe persönliche Bedeutung hat, und dass Sie hinreichend Ruhepausen einlegen. Wenn Sie nach dem Lernen schlafen, dann organisieren sich die Inhalte im Gedächtnis von selbst. Wenn Sie aber neben dem Lernen zu viele andere emotional bedeutsame Dinge tun, dann nützt Ihnen die nächtliche Aufräumfunktion des Hirns wenig. Die Rolle des Schlafs für das Lernen darf aber nicht überschätzt werden. »Super Learning« oder vergleichbare Ansätze präsentieren sich viel zu pauschal als die Schnell-Lern-Methoden schlechthin.

DIE: Wo ist Lernen effizienter, in der Gruppe, in der Eins-zu-eins-Situation mit einem Privatlehrer oder am Rechner?

Hasebrook: Das hängt zunächst mal davon ab, ob es sich um ein Problemlösetraining, ein Verhaltenstraining oder z.B. Ihr Sprachlernvorhaben handelt. Generell kann man sagen, dass Einzelleistungen in der Gruppe abnehmen: Beim Tauziehen etwa kann man nachweisen, dass die Zugleistung pro Person am höchsten ist, wenn an jedem Ende nur einer zieht. Gruppen müssen koordiniert werden und lernen vielfach im Einheitstempo. Trotzdem können wir nicht nur in der Gruppe erfolgreich und effizient lernen, wir müssen es sogar: Lernen ist vor allem ein sozialer Prozess. Hannah Arendt hat gesagt, dass wir nur in der Vielfalt der Anderen unsere Einzigartigkeit erkennen können. Denken ist, wenn man Aebli folgt, die Vorausnahme sozialen Handelns.

DIE: Es muss aber auch die Phasen der individuellen Aufarbeitung geben, Einüben, Wiederholen.

Hasebrook: Ja, aber wenn Lernen bedeutet, Neues aufzunehmen und zu verstehen, dann muss ich erst einmal entdecken, dass etwas neu und anders ist – und das geht nur in der Gruppe. Selbst ein Student, der vor einer Klausur Lehrbücher büffelt, sucht den sozialen Vergleich: Wo stehen die anderen? Haben sie alles verstanden? Diese sozialen Bezüge beim Einzellernen sind unter anderem motivationale Faktoren, sie dienen der Fehlerkorrektur und Effizienzsteigerung.

DIE: Ist schnell Erlerntes auch schnell wieder vergessen?

Hasebrook: Die Dauer des Lernens und seine Nachhaltigkeit haben nicht direkt etwas miteinander zu tun. In bestimmten Belastungssituationen können weit mehr Informationen verarbeitet werden als wir gemeinhin denken. Und die können für immer abrufbar bleiben, auch wenn es sich nur um Momentaufnahmen gehandelt hat. Ich hatte vor langer Zeit einen Autounfall. Und ich erinnere mich noch heute mit größter Detailgenauigkeit an die Sekunden vor dem Aufprall. Da könnte ich Ihnen sagen, wie die Blätter am Straßenrand aussahen. Lebensgefahr bietet also beste Bedingungen für die nachhaltige Enkodierung im Langzeitgedächtnis – ist aber für problemlösendes und entdeckendes Lernen völlig ungeeignet. Auch eine zeitlich ausgedehnte Beschäftigung mit einem Gegenstand kann die Behaltensleistung steigern, nämlich dann, wenn Sie über die Dauer mehr Zugänge zu dem Gegenstand finden und verschiedene Verarbeitungsmodi im Hirn ansprechen. Weidemann hat das mit dem Lernen an Bildern anschaulich gemacht. Eine tiefere Bildbetrachtung, etwa unter Anleitung eines Kunsthistorikers, steigert die Gedächtnisleistungen. Je mehr Zugänge Sie zu einer Sache gewählt haben, desto mehr Schlüssel haben Sie zum Abrufen. Je mehr Schlüssel auf das Schloss passen, mit dem ein Gedächtnisinhalt verankert ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie den Inhalt wiederfinden.

DIE: Sie haben gute Einblicke in die Szene der E-Learning-Anbieter. Gibt es einen Wettbewerb um diejenige Technologie, die den schnellsten Lernerfolg sichert?

Hasebrook: Den gab es. Aber er ist abgelöst worden durch den Wettbewerb um die beste Anwendung von Technologie. Eine Zeitlang war Effizienz wirklich ein heiß diskutiertes Thema. Am Anfang war allen klar, dass die Vermittlungskette in traditionellen Bildungsveranstaltungen nicht optimal ist: Aufmerksamkeit, erstes Verstehen, Einverständnis, Beibehalten, Einüben: Den einen wird noch erklärt, was die anderen längst verstanden haben. Bei Anderen rauschen Inhalte vorbei, weil es viel zu schnell gegangen ist und sie sich nicht trauen nachzufragen, weil die anderen alle so aussehen, als wüssten sie es schon. Solche Situationen nehmen ihnen die Geschwindigkeit beim Lernen raus.

DIE: Das war der Anfang vom selbstgesteuerten Lernen.

Hasebrook: Genau. Es kam die große Zeit der Medienvergleiche: Wer hat die bessere Technologie, was schafft noch mehr Effizienz. Unterm Strich hat sich gezeigt: E-Learning-Tools erreichen gegenüber klassischen Lernarrangements eine Zeitersparnis von 30 bis 40 Prozent bei einfacher Wissensvermittlung. E-Learning stößt an Grenzen, wenn es um Zusammenhänge und Problemlösen kommt, wie Richard Mayer oder das Ehepaar Kulik in ihren Studien gezeigt haben. Heute reden wir über technisch-unterstützte Lernszenarien oder »Blended Learning«. Dabei ist die mediale Unterstützung eine Selbstverständlichkeit geworden; Technologie allein ist kein Wettbewerbsvorteil mehr.

Die Investitionen, die Unternehmen in den letzten zehn Jahren in IT getätigt haben, haben null Prozent Steigerung der Produktivität nach sich gezogen. Oder wie die Harvard Business Review jüngst titelte: »IT doesn`t matter«. IT ist überall da stark, wo Arbeit in Routinen und Routinen in Algorithmen überführt werden können. Aber Innovation als nachhaltiger Wettbewerbsvorteil ist nicht technologie-basiert: Komplexe Problemlösungen brauchen Erfahrung, Übung, Redundanz, Freiraum, direkte Beteiligung, eine geeignete Lern- und Fehlerkultur. Diese Diskussion hat E-Learning voll erwischt.

DIE: Mit welchen Folgen?

Hasebrook: »E-Learning« ist fast schon zu einem Unwort in der betrieblichen Weiterbildung geworden, weil die Effizienzsteigerungen zwar alle gut und schön sind, es aber heute mehr um Effektivität gehen muss. Um es aus der Perspektive der Unternehmen zu formulieren: Die Performanz der Investition Bildung ist verglichen mit organisatorischen Maßnahmen in der Personalentwicklung sehr niedrig: Die Änderung von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Arbeitsabläufen bedeuten etwa fünf bis fünfzehn Prozent Performanzsteigerung über ein, zwei Jahre. Weiterbildungen erreichen dagegen nur ein bis drei Prozent. Die Effektstärke vom Medieneinsatz in der Bildung ist auch ziemlich gering.

DIE: In welchen Situationen wird sie effektiv?

Hasebrook: Weiterbildung ist dann effektiv, wenn sie in Änderungsprozessen wirksam eingesetzt wird – etwa bei der Einführung neuer Systeme – und wenn sie andere organisatorische Maßnahmen von der Mitarbeitergewinnung bis zur Mitarbeiterbindung unterstützt. Es geht darum, Weiterbildung mit hoher Passung zu den Unternehmenszielen zu konzipieren. Das können harte, aber durchaus auch weiche Ziele sein. Das wird dann etwas hochtrabend »strategisches Trainingsmanagement« genannt. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Bei einer großen Fondsgesellschaft wurde für rund 5.000 Vertriebler ihre Arbeit komplett umgestaltet, sie sollten nicht direkt mit den Kunden reden, sondern anderen Vertrieblern als Experten dienen. Sie in Seminare zu rufen, war aus mehreren Gründen unsinnig: Erstens kostete es zu viel und zweitens stünde währenddessen der Betrieb still. Auch eine gestaffelte Schulungsteilnahme erwies sich als zu teuer. Schließlich hat man Coachings vor Ort durchgeführt mit kleinen Gruppen und den Kern des nötigen Wissens per E-Learning vermittelt. Die Inhalte stammten dabei aus dem Vertrieb selbst und wurden in einer Art »Hitliste« von den Mitarbeitern selbst ausgewählt. Das ganze war so gestaffelt, dass alle Einheiten ihren Normalbetrieb fortsetzen konnten. Das Unternehmen hat begleitend Gruppen gebildet, in denen Kollegen voneinander lernten. Drittens hat man im Rahmen eines »Transfer Controlling« den Effekt untersucht, den die Teilnahme an dem Programm gegenüber der Nicht-Teilnahme hatte. Das war eines der erfolgreichsten E-Learning-Programme überhaupt in Deutschland, effektiv und effizient.

DIE: Danke für das Gespräch.