DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Soziale Polarisierungen im Feld beruflicher Weiterbildung

 

Erfüllung einer Bringschuld?

Axel Bolder

Dr. Axel Bolder arbeitet am Berufsforschungsinstitut ISO - Institut zur Erforschung sozialer Chancen - in Köln. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs-, (Berufs-)Lebenslauf- und Biographieforschung.

Verstärkt berufliche Weiterbildung die soziale Polarisierung zwischen bereits Privilegierten und Minderqualifizierten? Können die früher in der empirischen Weiterbildungsforschung aufgestellten Polarisierungsthesen heute als verifiziert gelten? Inwiefern wirkt die aktuelle Individualisierung von Weiterbildung als „Bringschuld" des Einzelnen weiter polarisierend? - Axel Bolder untersucht Erscheinungsformen und Tendenzen von Polarisierung in Politik und Forschung zu erwerbsarbeitsbezogener Weiterbildung.

Abstract:
About 30 years ago, it was hypothesized that progress in automation would bring about a segregation of employees into those well equipped for dealing with modernization, and those who could not adapt to the new requirements on the labour market. This tendency can be corroborated by looking at participants in vocational training courses. On a scale of frequency of participation, there is a tendency for educational activities and those participating therein to concentrate towards the top end and the bottom end respectively, participation being to a large extent determined by a small number of factors: position in the company hierarchy, size and type of company, successful history of vocational training and employment, gender, age. Access to vocational qualification would appear to be easiest for those least in need of it, thus further widening the gap between the well-educated and the not-so-well-educated. This tendency has not been abated but is rather reinforced through current economic developments which mould employees into the role of employee-entrepreneurs, thus shifting the responsibility for maintaining a high level of vocational qualification from staff development departments onto the shoulders of the individual employee.

Wenn man sich heute, anderthalb Jahrzehnte nach der ersten so genannten „Qualifizierungsoffensive" und eine Generation nach den großen Bildungsreform-Entwürfen der sechziger Jahre, zurückerinnert an die wesentlichen Ergebnisse der empirischen Weiterbildungsforschung der Frühzeit, wird man erstaunt feststellen, dass sich an den damals aufgezeigten sozialen Polarisierungen nichts Wesentliches geändert hat. Sie sind in ihrer Qualität erhalten geblieben, haben alle bildungspolitischen Kompensationsversuche mehr oder weniger „heil" überstanden; weitere sind allenfalls hinzugekommen. Geändert haben sich, dem „Fahrstuhleffekt" entsprechend, die absoluten Beteiligungszahlen, nicht aber nennenswert die relativen, die die Repräsentation der sozialen Gruppen in Weiterbildungsveranstaltungen wiedergeben. Ich will deshalb im Folgenden an die zentralen Thesen erinnern und die typischen, immer wieder reproduzierten empirischen Erscheinungsformen vorstellen. In einem zweiten Abschnitt ist dann kurz auf programmatische Entwicklungen in den neunziger Jahren einzugehen, um schließlich Perspektiven nachzufragen für eine Weiterbildung für erwachsene Menschen. Dabei werde ich mich auf den Bereich erwerbsarbeitsbezogener Weiterbildung beschränken.1

Polarisierungsthesen und Polarisierungen

Die vor gut dreißig Jahren im SOFI aufgestellte Polarisierungsthese prognostizierte eine fortschreitende Polarisierung der nachgefragten Qualifikationen; neben einer Gruppe von Automatisierungsgewinnern werde ein großer Bodensatz minderqualifizierter Arbeit bestehen bleiben. Diese Einschätzung der Entwicklung der Arbeitsstrukturen und der hierfür erforderlichen Qualifikationen bestimmte, wenn auch in Konkurrenz zu Thesen allgemeiner Höherqualifizierung einerseits und weiterer Dequalifizierung andererseits, die Qualifikationsforschung des ganzen folgenden Jahrzehnts.

Kurz nachdem die These von der Entwicklung hin zu einer Polarisierung der Qualifikationen veröffentlicht worden war, zogen Friedrich Weltz u. a. (1973) aus ihrer Studie zur Weiterbildung im Bereich von Metall- und Chemiefacharbeit die Erkenntnis weitreichender Polarisierungen auch im Feld beruflicher Weiterbildung. Sie stellten unter anderen folgende Thesen auf:

Polarisierung, so könnte man diese im Wortsinne Epoche machenden Thesen zusammenbringen, geschieht durch weitere berufliche Bildung zwischen nach ihrer Vorbildung und betrieblichen Position schon Privilegierten einerseits und Minderqualifizierten andererseits. Die „zweite Chance" einer nachlaufenden Qualifizierung wird gesucht, wenn die Vorgaben im jeweiligen Herkunftsmilieu Erwartungshaltungen aufgebaut hatten, die, wurden sie bislang noch nicht erreicht, doch noch realisiert werden sollen. Das regelhafte Scheitern des Versuchs, den anderen, privilegierten Pol zu erreichen, eine Chance nicht genutzt zu haben, ist mit tradierten Deutungsmustern nicht mehr zu verarbeiten, kann also nur noch als individuelles, persönliches Versagen wahrgenommen werden. Walter Heinz u. a. (1985) fassten dies später, theoretisch präziser, als „Personalisierung struktureller Effekte".

Eines der wesentlichsten traditionellen Merkmale des Ausschlusses aus dem System beruflicher Weiterbildung ist die weitgehend über vorgängige Bildungsprozesse erreichte Position des potenziellen Teilnehmers in der Hierarchie des Beschäftigungsbetriebes. Das Ergebnis der Polarisierungsprozesse ist nun nicht etwa eine dualistische, sondern eine streng hierarchisch-kontinuierliche Weiterbildungsteilnehmer-Struktur: Die Teilnahmeanteile steigen von Position zu Position. In der betrieblichen Hierarchie reproduzieren sich die ihrerseits intergenerational weitgehend „vererbten" Segmentationsmerkmale Schul und Berufsausbildung; mit kontinuierlich steigenden Anteilen von Weiterbildungsteilnehmern (je höher das Ausbildungsniveau) haben wir es auch hier zu tun. Dass der dem Erwerbsleben näherliegenden Berufsausbildung dabei ein noch etwas stärkeres Gewicht zukommt als der lebensgeschichtlich davor liegenden, sie aber ihrerseits weitgehend bestimmenden Schulbildung, fügt sich in das Bild eines erwerbsbiographisch kontinuierlichen Prozesses, der genau identifizierbare Gruppen systematisch aus dem Weiterbildungsgeschehen aussondert (vgl., nur exemplarisch, Bolder/Hendrich 2000, 58f.; Behringer 1999, 127f.) und letztlich zu einer für soziale Phänomene erstaunlichen, nahezu linearen Determination2.

Die Beweisführung ist andernorts im Kontext der Beteiligungsforschung oft genug erfolgt, so dass sie hier im Einzelnen nicht wiederholt werden muss. In ihrem Gutachten an den Bundesbildungsminister zum Forschungsstand im Bereich der betrieblichen Weiterbildung entwickelte eine Gutachtergruppe (mit Baethge, Dobischat, Schiersmann) Ende der achtziger Jahre zwei höchst plausible Hypothesen zur Beteiligung von Erwerbspersonen an beruflicher Weiterbildung. Die These vom „Segmentationszirkel" widerspricht der Annahme, dass sich mit einer allgemeinen Erhöhung der Beteiligungsquoten, wie sie in den letzten Jahren tatsächlich zu verzeichnen war, Segmentation abschwächen und Weiterbildung zu einem Instrument der Rücknahme von Polarisierung werde. Sie begründen diese Prognose mit einem Zusammenspiel zwischen betriebspolitischen und arbeitsorganisatorischen Entwicklungen auf der einen und subjektiven Verhaltensweisen und Aspirationen auf der anderen Seite, die in einem spiralförmigen Prozess schließlich zur weiteren Verfestigung der Polarisierungstendenzen führe (vgl. Bolder/Hendrich 2000, S. 57).

Ein weiteres bedeutendes Feld der Polarisierung von erwerbsarbeitsbezogener Weiterbildung sind die Thematiken. Auch sie unterscheiden sich grundlegend, je nachdem, welche Position der einzelne potenzielle Teilnehmer in der betrieblichen Hierarchie einnimmt: Keine, allenfalls kurzfristig anpassende Maßnahmen finden sich im Bereich der Jedermanns-Arbeitsplätze der Un- und Angelernten, anspruchsvollere, aber fachspezifische Weiterbildungen im Bereich der Facharbeit; Managementseminare, Führungstechniken bleiben den Segmenten der Personalführungen und Betriebsleitungen vorbehalten. Fachbezogen sind diese letzteren, sehr weichen, oft durch Unsicherheiten der Delegierenden charakterisierten Formen der Leitungsqualifizierungen allenfalls sehr vermittelt. Polarisierung geschieht hier auf der Dimension dessen, was Enno Schmitz (1978) die „regulativen" Formen genannt hat; betriebspolitisch
geht es dabei um die Durchsetzung der Unternehmensinteressen in den Betrieben. Das erklärt auch die konsequente Verweigerung alles dessen, was partizipative Momente fördern könnte, wie sich in diesen Tagen am Beispiel der Verbandspolitik im Vorfeld der Mitbestimmungsgesetzgebung sehr gut beobachten lässt. „Politische" Weiterbildung (was immer das auch im Einzelnen sein mag) gilt folglich als Kampfbegriff; sie ist zu verhindern, aus dem Kanon beruflicher Weiterbildung zu streichen - obwohl sie, je nach Ausgestaltung, durchaus betriebsintegrativ wirken könnte, wie wir wissen.

Was also nicht vergessen werden darf, in der Mainstream-Diktion unserer Tage aber so eher nicht thematisiert wird, ist, dass es sich bei dem betrieblichen Weiterbildungsgeschehen um ein höchst politisches Feld handelt, in dem es um handfeste, je legitime Interessen geht, die - zunächst einmal - gegensätzlicher Natur sind. Wenn man sich, sine ira et studio, den Zweck eines Betriebes aus Sicht des Arbeitgebers, zumal des anonymen Kapitaleigners, vor Augen führt, dann bedeuten Weiterbildungsmaßnahmen eben Kostenstellen, die den Gewinn zu reduzieren drohen, soweit sie nicht unbedingt und unmittelbar produktionsrelevant sind. Peter Meyer-Dohm hat dies am Beispiel des Übergangs von VW zur lean education gegen Ende der achtziger Jahre noch einmal eindrucksvoll belegt.3 Aus Arbeitnehmersicht bedeutet berufliche Weiterbildung Verbesserung oder Erhaltung der eigenen Arbeitskraft, und je arbeitsplatzübergreifender diese vonstatten geht, desto interessanter wird sie für den Arbeitnehmer, weil er seine Arbeitskraft, wenn es ihm gefällt, auch woanders anbieten kann.

Polarisierung findet schon traditionell auch zwischen „fortgeschritteneren" und retardierten Branchen statt. Weiterbildungsmaßnahmen gehören bei Ersteren mehr oder weniger zum betrieblichen Alltag; mittlerweile vermischen sich gerade in diesen Wirtschaftssegmenten die Grenzen zwischen Erstausbildung und Weiterbildung. In anderen Branchen und wandelresistenteren Berufstätigkeiten scheint man praktisch ohne Weiterbildungen auszukommen. Polarisierung geschieht des Weiteren

 

Die jüngsten Tendenzen verweisen zudem darauf, dass dort, wo profit-center-ähnliche Gruppenarbeit ausgeweitet wird, betrieblich-berufliche Weiterbildung komparativer Kostenvorteile wegen eher hintangestellt werden muss (vgl. Kubicek/Haslbeck 2001). Eine weitere Polarisierung bahnt sich so vielleicht zwischen Gruppen- und Einzelarbeitsplätzen an.

Festzuhalten bleibt schließlich, dass in einer Gesellschaft, in der die Position im oder zum Erwerbsarbeitsleben immer noch weitgehend über die gesellschaftliche Position entscheidet, dort gängige Differenzierungsmuster - wie die Polarisierungen im beruflichen Weiterbildungssystem - immer auch soziale Polarisierungen bedeuten.

Neuere Programme und Perspektiven

In den neunziger Jahren hat sich am System der Polarisierung strukturell nur wenig geändert. Wohl hat es aber eine deutliche Veränderung in der Politik im Feld erwerbsarbeitsbezogener Weiterbildung gegeben. Eines der gewichtigsten Themen war die Frage, wie die Schere zwischen dem Erfordernis eines auch in Zukunft gesicherten gesellschaftlichen Humankapitalstocks und den betrieblichen Entwicklungsstrategien hin zu lean education (die doch selbst schon zu Beginn der neunziger Jahre in Zweifel gezogen wurde) geschlossen werden könnte. Nach dem Scheitern der „Qualifizierungsoffensive" in der alten Bundesrepublik und dem Scheitern des Qualifikationsentwicklungs-Managements Ost (vgl. Sauer 1999), wurde das Schwergewicht der Forschung zu erwerbsarbeitsbezogener Weiterbildung mit den Programmen zur Kompetenzentwicklung unmissverständlich auf die Bedingungen zur Erfüllung der Bringschuld der Arbeitnehmer gelegt. Dabei wurde zudem eine neue Qualität erreicht: Während mit der Betonung von „Selbstorganisation" und „Selbststeuerung" der Lernprozesse durch die Lernenden die Betriebe ihrem erklärten Ziel der lean education näherkamen, wurde mit der programmatischen Einbeziehung des „Lernens im sozialen Umfeld", zunächst als Potenzialsicherung für Arbeitslose und Arbeitsuchende gedacht, die Verbetrieblichung lebensweltlicher Lernprozesse - bei sinkenden Kosten für die Betriebe - angesteuert. Der „Arbeitskraftunternehmer" (Voß/Pongratz 1998), der die dort in von abhängiger Arbeit freier Zeit sich bietenden „Chancen" nicht angemessen nutzt, wird in Zukunft selbst sehen müssen, wie er zurechtkommt.

Wir erinnern uns: Vor bald einer Generation hatten Weltz u. a. die Individualisierungsthese aufgestellt. Mit der Affirmation der Bringschuld wird die Individualisierung, wie sie sie verstanden haben, radikalisiert. Wäre es da nicht eine lohnende Auf
gabe von Weiterbildung für Erwachsene, sich an alte Aufgabenfelder zu erinnern und, wenn man in der kriegerischen Sprache der „Offensiven" bleiben will, Verteidigungslinien gegen die Verbetrieblichung des ganzen Lebens mit den ihr offenbar zwangsläufig inhärenten Polarisierungen aufzubauen?

Anmerkungen

1 Nicht erwerbsarbeitsbezogene Erwachsenenbildung scheint mir unter postmodernem Regime ihre Zielbestimmung noch klären zu müssen, nachdem manchem ihrer Vordenker die ihr zugedachte Funktion einer emanzipierenden Veranstaltung abhanden gekommen, ja verdächtig geworden zu sein scheint, traditionale Orientierungen zu transportieren, die dem Anspruch einer multilateral flexibilisierten, individualisierten Persönlichkeitsstruktur nicht entsprechen. Wo die Einschätzungen der eigenen Arbeit zwischen Differenzerzeugung (Kade/Seitter), großer Illusionsveranstaltung (Kh. Geißler) und therapeutischer Lebensbegleitung schwanken, läuft die Disziplin allerdings Gefahr, sich selbst aufzulösen: Derlei Bedarfe werden von Produkt-Designern, Hollywood und Gesprächstherapeuten gewiss professioneller erfüllt.

2 Unter „Determination" wird hier die kumulative Wahrscheinlichkeit verstanden, zum einen oder anderen Pol zu tendieren. In der Bildungsforschung ist das Peisertsche Beispiel des „katholischen bayerischen Mädchens vom Lande" zu einem geflügelten Wort geworden. Man wird allerdings von Determination reden können, wenn vier oder fünf dichotome Merkmale ausreichen, um mit Sicherheit prognostizieren zu können, ob jemand sich an beruflicher Weiterbildung beteiligt oder nicht (vgl. Bolder/Hendrich 2000, S. 65f.).

3 Vortrag auf dem Abschlussplenum des Kongresses „Arbeiten und Lernen" des BMBF in Berlin am 2.02.2001.

Literatur

Behringer, F. (1999): Beteiligung an beruflicher Weiterbildung. Humankapitaltheoretische und handlungstheoretische Erklärung und empirische Evidenz. Opladen

Bolder, A./Hendrich, W. (2000): Fremde Bildungswelten. Alternative Strategien lebenslangen Lernens (Studien zur Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, 18). Opladen

Heinz, W. R./Krüger, H./Rettke, U./u. a. (1985): „Hauptsache eine Lehrstelle". Jugendliche vor den Hürden des Arbeitsmarkts. Weinheim, Basel

Kubicek, H./Haslbeck, R. (2001): Wo bleiben die Informatiker und Informatikerinnen? In: Bolder, A./Heinz, W. R./Kutscha, G. (Hrsg.): Deregulierung der Arbeit - Pluralisierung der Bildung? (= Jahrbuch Bildung und Arbeit 1999/2000). Opladen, S. 149-165

Sauer, J. (1999): Die Weiterbildungspolitik des Bundes bis 1998. In: Arnold, R./Gieseke, W.: Die Weiterbildungsgesellschaft, Band 2: Bildungspolitische Konsequenzen. Neuwied, Kriftel, S. 177-194

Schmitz, Enno (1978): Leistung und Loyalität. Berufliche Weiterbildung und Personalpolitik in Industrieunternehmen. Stuttgart

Voß, G. G./Pongratz, H. J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H.1, S. 131-158

Weltz, F./Schmidt, G./Krings, I. (1973): Facharbeiter und berufliche Weiterbildung. Überlegungen zu einer explorativen Studie (Schriften zur Berufsbildungsforschung, 10). Hannover

 


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2001

Axel Bolder, Soziale Polarisierungen im Feld beruflicher Weiterbildung. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/22001/positionen1.htm
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