DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Gespräch mit Hans-Olaf Henkel

„Es muss sich wieder lohnen, ein Primus zu sein"

Prof. Dr.-Ing. E.h. Hans-Olaf Henkel ist seit Juli 2001 Präsident der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz und lehrt seit November 2000 Internationales Management an der Universität Mannheim. Er war von 1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), seit 2001 ist er Vize-Präsident. Nach seiner Tätigkeit als Chef von IBM Deutschland und Präsident von IBM Europa ist er nun Mitglied im Aufsichtsrat der IBM Deutschland GmbH (Berlin). - Das DIE-Gespräch mit Hans-Olaf Henkel (H.H.) über Wettbewerbsfähigkeit, Wissenstransfer und Ökonomisierungstendenzen der Wissenschaft führte Prof. Dr. Ekkehard Nuissl von Rein (DIE).

DIE: Herr Henkel, für einen Mann der Wirtschaft haben Sie sich immer sehr dezidiert zu Fragen von Forschung und Bildung geäußert. Erst heute habe ich in der BILD-Zeitung Ihren Kommentar zur Frage „Sitzen bleiben abschaffen" gelesen, wo Sie der vorschlagenden Ministerin empfehlen, selbst sitzen zu bleiben. Und Sie sagen, man müsste endlich die Ursachen, nicht mehr die Symptome der Bildungsmisere bekämpfen. Welches sind die Ursachen?

H.H.: Die wesentliche Ursache ist das Ziel vieler Bildungsideologen, immer gleicher und durchschnittlicher zu bilden. Aber gleiche Chancen sind nicht auch gleiche Ergebnisse. Die PISA-Studie ist ein Alarmsignal, wir müssen handeln. Die Zusammenhänge zwischen Leistung, Wettbewerb und Lernvermögen müssen erkannt und in Bildungspolitik umgesetzt werden. Das kostet aber auch mehr Geld. In den Bildungseinrichtungen, insbesondere den Schulen und Hochschulen, muss umgesteuert werden.

DIE: Ist das nicht ein bisschen zu eindimensional? Welche Rolle spielt die Erziehung, das Bildungsverhalten zu Hause? Können nicht andere Medien, vor allem das Fernsehen, einen Teil der Bildungsprozesse übernehmen?

H.H.: Fernsehen hilft z. B., komplexe Umweltzusammenhänge zu verstehen. Natürlich wäre es noch besser, man würde darüber lesen. Im Zweifel würde ich den Fernseher eher ganz aus dem Haus verbannen und meinen Kindern angewöhnen, täglich die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu lesen. Die Erziehung muss schon dafür sorgen, dass die jungen Menschen das nötige Wissen angemessen erwerben.

DIE: Man könnte den Spieß aber auch umdrehen und sagen, z. B. im Umwelt- oder Gesundheitsbereich sei es Aufgabe der Wissenschaft, sich verständlich zu machen. Was kann denn Wissenschaft tun, damit ihre Erkenntnisse und das wissenschaftliche Wissen besser rezipiert werden können?

H.H.: Wir müssen uns alle angewöhnen, eine Sprache zu sprechen, von der wir wissen, dass die Leute, die uns zuhören sollen, sie auch verstehen. Dabei muss natürlich das, was gesagt wird, auch der Wahrheit entsprechen. Übrigens ist das der Grund, warum ich gegen viel Protest - auch aus meinem eigenen persönlichen Umfeld - regelmäßig eine Kolumne in der BILD-Zeitung schreibe. Darin habe ich die Aufgabe, einen relativ komplexen Zusammenhang innerhalb von neun Zeilen darzustellen. Das ist auch für mich eine interessante Aufgabe. Die Antwort auf Ihre Frage ist vielschichtig. Zum Beispiel hat die Leibniz-Gemeinschaft, zusammen mit den anderen großen Forschungsgemeinschaften, dies im Sommer 2001 in Berlin exerziert. Wir hatten „Wissenschaft im Dialog" aus der Taufe gehoben - also ein Programm, das die Ergebnisse der Wissenschaft und damit die Folgen und die Notwendigkeit der Wissenschaft thematisiert. Das hatte verschiedene Nuancen, zum Beispiel Besuche in Leibniz-Instituten, Busfahrten zu Experimenten der drei Berliner Universitäten, öffentliche Diskussionen zu interessanten wissenschaftlichen Themen. Soweit ich weiß, hatten wir um die 70.000 Besucher - und das in der Woche des 11. September! Ich glaube, das war ein guter Anfang.

DIE: Wie sieht es denn mit den Fragen und Interessen der Menschen in Bezug auf die Wissenschaft aus? Was muss denn geschehen, damit die Wissenschaft mehr und direkter zu den Fragen forscht, die es in der Gesellschaft gibt und die sich der Lösung von alltäglichen Problemen widmen?

H.H.: Auch hier haben wir wieder einen Teufelskreis. „Bildung durch Wissenschaft" kann man auch umdrehen: „Wissenschaft durch Bildung". Es beunruhigt mich nämlich, dass in Deutschland immer noch nur ca. 30 % eines Jahrgangs auf die Hochschule gehen. In Japan sind es weit über 50 %. In den meisten OECD-Ländern sind es viel mehr. Mich beunruhigt auch, dass in den letzten Jahren die naturwissenschaftlichen Fächer an den Universitäten offensichtlich an Popularität verloren haben. Ich habe nichts gegen Geistes-, Wirtschafts- oder Sozialwissenschaftler. Aber eine Industrienation wie Deutschland kann es sich nicht leisten, dass die Anzahl der Doktorand/innen in Physik innerhalb von fünf Jahren von 3.500 im Jahr auf 1.000 sinkt, dass die Anzahl der Ingenieursstudenten in den letzten 10 Jahren dramatisch gesunken ist und dass wir zu wenig Chemiker ausbilden.

DIE: Woran liegt das bei uns? Sie sehen in Deutschland eine Tendenz zur Gleichheit und Verstaatlichung, darauf weisen Sie immer wieder hin, ist der Markt die Lösung?

H.H.: Wenn Sie in Amerika, in Großbritannien oder in Frankreich Klassenbester oder Klassensprecher sind, dann ist man stolz darauf. Das wird auch von Firmen abgefragt. In Deutschland ist das zur Zeit in den Schulen nicht populär, im Gegenteil. Man interessiert sich viel mehr dafür, wie man in der Klasse „ankommt" und ob man die richtigen Marken trägt. Das ist wohl auch eine indirekte Folge der 1968er Bewegung, die immer wieder versucht hat, Leistung, Wettbewerb und die Unterschiede aus dem System zu nehmen, selbst mit der Konsequenz, dass diese Vorgehensweise das allgemeine Niveau immer weiter absinken lässt. Das ist eigentlich nichts typisch Deutsches, denn die Deutschen lieben den Wettbewerb in der Leichtathletik, im Fußball, in der Formel 1 und in der Kultur. Aber die Bildungspolitiker der 1968er haben ganz bewusst dieses Prinzip des Wettbewerbs aus dem System genommen. Und damit haben wir meiner Meinung nach - neben den Problemen der Elternhäuser - den zweiten Grund für die Bildungsmisere in Deutschland. Dass unser Bildungssystem nicht mehr wettbewerbsfähig ist, wissen wir von der TIMSS- und jetzt von der PISA-Studie. Aber das wussten viele auch schon vorher. Die Frage ist: Wie macht man es wettbewerbsfähig? Die Antwort ist ganz einfach: durch Wettbewerb.

DIE: Wer gegen wen?

H.H.: Die Schüler sollten wieder mit ihren Mitschülern in den Wettbewerb eintreten. Streber gegen Primus. Es muss sich wieder lohnen, ein Primus zu sein. Wettbewerb zwischen Schülern, Wettbewerb zwischen Studenten. Ich setze mich seit einigen Jahren auch öffentlich dafür ein, dass die Universitäten - wenn sie es denn wollen - wieder Eingangsprüfungen zulassen. Das hätte meiner Meinung nach positive Folgen. Erstens: Die durchschnittliche Studienzeit in Deutschland, die 1970 noch 10 Semester war und inzwischen über 14 ist, würde dramatisch sinken. Viele junge Menschen würden erst gar nicht auf die Idee kommen, etwas zu studieren, zu dem sie nicht geeignet sind. Das stellen sie bei uns erst in drei oder vier Semestern fest. Dann steigen sie einfach um. Das ist der Hauptgrund für die langen Studienzeiten, nicht etwa die Tatsache, dass wir heute mehr Studenten haben als 1970. Im Gegenteil: Wir haben heute immer noch zu wenig Studenten. Und die zweite positive Wirkung wäre eine dramatische Rückkopplung an die Schule. Die Eltern würden mit dem Lehrer nicht mehr über die Zensuren ihrer Kinder, sondern über die Inhalte streiten. Sie würden feststellen, dass vielleicht jemand mit einem Abiturdurchschnitt von 2 die Aufnahmeprüfung in der betriebswirtschaftlichen Fakultät in Mannheim nicht besteht. Und dann würden sie zurück zur Schule gehen und fragen: „Was macht ihr da eigentlich?". Also Wettbewerb zwischen den Studenten, natürlich auch Wettbewerb zwischen den Professoren. Insofern ist die Idee von Ministerin Bulmahn gar nicht schlecht. Nur müssen dann auch die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die die guten Professoren belohnen. Und dann ein Wettbewerb zwischen den Hochschulen über Studiengebühren - eine ideologisch völlig blockierte Frage in Deutschland. Inzwischen gibt es Studiengebühren fast überall in der Welt. Tony Blair hat sie in Großbritannien gerade mit der Begründung eingeführt, dass das Fehlen von Studiengebühren unsozial sei, womit er recht hat. Denn warum sollen 100 % der Menschen eines Landes für die Ausbildung von ca. 30 % bezahlen, ausgerechnet für die, die später eine bessere Chance haben, einen Arbeitsplatz zu finden und mehr zu verdienen.

Mehr Freiheit - weniger Staat - mehr Wettbewerb

DIE: Was halten Sie denn von Elite-Universitäten wie Oxford, Cambridge oder dem Massachusetts Institute of Technology?

H.H.: Auch viel. Wenn wir den Wettbewerb zwischen Universitäten einführen, kriegen wir automatisch Spitzenuniversitäten, wie wir sie in Amerika, Großbritannien und Frankreich haben. Im Übrigen muss ich sagen, dass wir Gott sei Dank durch den Wettbewerb unserer Privatuniversitäten schon einige gute private Spitzenuniversitäten haben. Was bei dieser Diskussion gerne unter den Tisch gekehrt wird, ist, dass die Zukunft einer Gesellschaft - und damit auch der Wohlstand, die Gesundheit und das Bildungsniveau - nicht nur vom Durchschnitt abhängt, sondern im Rahmen der Globalisierung immer mehr von einer Spitzenleistung. Es sind die Spitzenprodukte, die Spitzendienstleistungen, die Spitzensoftware, die Spitzenideen, die letzten Endes den weltweiten Durchbruch schaffen. Und es hilft der deutschen Gesellschaft überhaupt nicht, wenn sie sagen kann, dass sie in irgendeinem Bereich besser als der Durchschnitt in der Welt ist. Eine Gesellschaft, die im Durchschnitt ein niedrigeres Bildungsniveau als unseres hat, kann durchaus durch Spitzenuniversitäten weiterkommen als wir. Das verträgt sich nicht mit der political correctness, die davon ausgeht, dass man eine breite Basis haben muss, um auch Spitzenleistungen zu vollbringen. Die Realität entspricht dem nicht, und das hat gerade die Bildungsideologen in Deutschland überrascht, als sie feststellen mussten, dass unter den Spitzenländern bei der PISA-Studie sehr viele angelsächsische Länder waren: also Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland, Irland und übrigens auch Amerika. Und das sollte uns allen zu denken geben. Wir brauchen mehr Freiheit, weniger Staat, das ist in diesen Ländern realisiert. Und wir brauchen vor allen Dingen mehr Wettbewerb.

DIE: Das, was Sie an Deutschland kritisieren, kenne ich aber auch aus Großbritannien, und zwar in der Bildungspolitik, die an den Rändern agiert, um soziale Härten auszugleichen.

H.H.: Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Erstens, dass man in Großbritannien weiß, dass man im Hinblick auf die Spitzenuniversitäten erstmal keine Probleme hat und sich deshalb jetzt den „Luxus" erlauben kann, das zu tun, woran es in Großbritannien fehlt. Darüber habe ich mit dem Arbeits- und Erziehungsminister Blunkett diskutiert. Zweitens: In allen Ländern der Welt gibt es eine virulente Diskussion um das Bildungssystem. In Amerika sind es die Minoritäten, die steckenbleiben. In Frankreich beschäftigt man sich mit den sogenannten Eliteuniversitäten, die in ihrem eigenen Saft schmoren. In Japan macht man sich Sorgen über den zu großen Druck an den Schulen. Ich kann dazu nur eins hinzufügen, und zwar, dass das Bildungssystem wahrscheinlich von allen Systemen in jeder Gesellschaft am trägsten ist und sich am schwierigsten auf Veränderungen wie „Wissensgesellschaft auf der einen Seite und Globalisierung auf der anderen Seite" einstellen kann. Wir sind wahrscheinlich mit unserem Bildungssystem nicht so schlecht, wie die PISA-Studie uns das beim Thema „Gymnasiasten-Leseschwäche" attestiert. Wir haben im Durchschnitt hervorragende Universitäten und ich bin davon überzeugt, dass sie sogar besser als die Amerikaner und die Briten sind. Es fehlt uns allerdings an der Spitze.

DIE: Ein zu zähes oder langatmiges Bildungssystem diskutieren ja auch Bildungsleute. Wir sagen, dass Erwachsenenbildung ein wenig durchorganisierter Bereich ist, der sich sehr eng an den gesellschaftlichen Entwicklungen und wirtschaftlichen Erfordernissen orientiert und daher sehr flexibel ist. Am trägsten sind die durch Curricula definierten Schulen. Wie kann man die flexibler machen?

H.H.: Das Allerwichtigste ist, zu wissen, dass es keine immer gültigen Wahrheiten in diesem Bereich gibt, wie es diese Wahrheit wahrscheinlich in allen wissenschaftlichen Bereichen nicht gibt. Und wenn man diese Überzeugung mal gewonnen hat, muss man den Boden für Experimente und für mehr Vielfalt vorbereiten, damit sich das Gute durchsetzen kann. Der Altbundespräsident Herzog hat ja fantastische Reden in seiner Zeit gehalten, die mich nachhaltig beeindruckt und meine Arbeit beeinflusst haben. Darunter war eine Rede zum Thema „Bildung" in Berlin. Und ich werde den letzten Satz seiner Rede nie vergessen. Damit hat er sein Rezept für die Verbesserung des Bildungssystems zusammengefasst. Er sagte wörtlich: „Entlasst unser Bildungssystem in die Freiheit". Und ich glaube, genau das sollten wir tun. In der Bundesrepublik haben wir sogar die Möglichkeit dazu. Die Verfassung hat ja die Hoheit für die Schulen in die 16 Länder gelegt. Was ist aber passiert? Es gibt eine Kultusministerkonferenz, die nach dem bekannten Schema - ich sage hier bewusst: „der langsamsten Kultusministerin" - marschiert, nämlich nach dem System der Einstimmigkeit. Dieses System regiert jetzt auch die Bundeskultusministerkonferenz mit dem bedauerlichen Ergebnis, dass zum einen alle marschieren wollen und zum anderen nur dann was geändert wird, wenn alle gleichzeitig einer Meinung sind. Das muss sofort aufgebrochen werden. Deshalb mein Appell an die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Frau Dagmar Schipansky, dass sie das System ändern sollte und jedes Bundesland machen lässt, was es will. Dabei gibt es natürlich sofort die klassischen Gegenargumente der Uniformität, dass man z. B. die Abschlüsse nicht mehr vergleichen kann. Ich glaube, damit kann man ohne Weiteres fertig werden. Man muss nur daran erinnern, dass schon heute in der Europäischen Union Abiturzeugnisse gegenseitig anerkannt werden. In Frankreich funktioniert es z. B., weil man einen einheitlichen Standard vorsieht, den Ländern aber überlässt, wie sie diese Ergebnisse schaffen. Wettbewerbsfähig wird man in Deutschland auch dadurch, dass man den Förderalismus als Wettbewerbsförderalismus versteht. Nach meiner festen Überzeugung war genau das im Sinne der Väter der Verfassung, als sie 1948 diese Verfassung festlegten.

Wissenskanon - alles, was man wissen muss?

DIE: Was halten Sie denn von einem unveräußerlichen Kanon des deutschen Bildungswesens, wie z. B. im Buch von Schwanitz „Bildung - alles, was man wissen muss" oder im SPIEGEL-Artikel von Reich-Ranicki „Alles, was man lesen muss" - das sind Beschreibungen eines Wissenskanons, der unverzichtbar sei für jeden Menschen.

H.H.: Die Gefahr, dass dort ein paar sogenannte Experten einen Fehler machen, unter dem dann wiederum eine ganze Generation leidet, wie wir heute noch unter den Fehlern der 68er-Bildung leiden, ist viel zu groß. Wie gesagt, ich möchte das Wort Kanon nicht ersetzen durch einen festzulegenden Standard. Der kann auf Landes- oder Bundesebene festgelegt werden, nämlich das Abitur zu schaffen. Das könnte ich mir vorstellen, ansonsten soll jede Universität selbst festlegen, ob sie eine Eingangsprüfung braucht und was sie prüfen will. Und dann vielleicht noch ein Punkt, der mir sehr am Herzen liegt und auch wichtig für Ihre Klientel ist: Ich bin jetzt das 3. Semester in Folge an der Universität Mannheim und lese dort am Lehrstuhl für Internationales Management in der Betriebswirtschaftlichen Fakultät. Ich habe ein paar Themen herausgesucht. Eines hängt mit der demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft zusammen. Mir ist in der Vorbereitung dieser Vorlesung - ich kümmere mich um dieses Thema auch schon seit zehn bis zwölf Jahren - klar geworden, dass die Erwachsenenbildung einen gewaltigen Stellenwert in unserem Lande bekommen wird und muss. Wir werden alle nicht nur älter und leben länger - heute kommen auf einen Rentner zwei Arbeitnehmer. Das hat auch gewaltige Konsequenzen für die Wirtschaft, denn sie wird die Menschen wesentlich länger beschäftigen müssen als bisher. Insofern ist ja diese Forderung von Herrn Zwickel aus dem Jahre 1999 - nämlich die Rente mit 60 - so ungefähr das Kontraproduktivste, was ich in den letzten Jahren von leitenden Personen unserer Gesellschaft gehört habe. Wir werden auch hier nicht umhinkommen, den amerikanischen Weg zu gehen und die automatische Pensionsgrenze aufzuheben. Man wird sich auch bei uns daran gewöhnen müssen, dass man - abhängig von seiner eigenen Fähigkeit - länger arbeiten muss; ich möchte eigentlich sagen: darf. Denn was wir auch feststellen, ist, dass die Chinesen das Sprichwort „Ein Leben ohne Arbeit ist nur ein halbes Leben" nicht umsonst geprägt haben. Wir wissen auch, dass ein Mensch, wenn er sozusagen unvorbereitet in Pension geht, geistig und auch körperlich schnell abbaut. Die Gerontologen haben uns ja gelehrt - und das ist ein interessantes Phänomen - , dass heute 60-Jährige geistig so fit, lernfähig und lernbereit sind wie vor 15 Jahren noch 50-Jährige. Woran liegt das? Nun, wir werden in zunehmenden Maße mit elektronischen Medien und mit allen möglichen Veränderungen konfrontiert, und offensichtlich trifft das, was für die Muskeln zutrifft, auch für das Gehirn zu.

DIE: Wenn man länger in bezahlten Arbeitsverhältnissen arbeitet, werden zwei Dinge geschehen: Dann wird das große Potenzial älterer Leute, die im Moment ehrenamtlich arbeiten und viel Engagement und Power in Sachen stecken, geringer. Das wäre ein Verlust, und Jüngere blieben länger aus Schlüsselfunktionen verdrängt.

H.H.: Das sind berechtigte Einwände. Lassen Sie mich versuchen, auch dafür Lösungen vorzuschlagen. Ich finde es jetzt schon falsch, dass die Politik - angesichts des steigenden Altersdurchschnitts in unserem Land und angesichts der gerontologischen Befunde - dauernd die Verjüngung zum Selbstzweck erhebt. Die Verjüngung der Parteispitze ist ein Selbstzweck. Warum eigentlich? Das kann nicht an dem Wählerpotenzial liegen, denn das wird ja auch älter - Stichwort „Graue Panther". Eigentlich ist es ein neuer Anachronismus, der hier schon wieder aufgebaut wird. Jetzt darf man nicht sagen, nur die Jugend ist leistungsfähig. Das ist der eine Punkt. Und was Ihr anderer Punkt war: Ich glaube, die Alten kommen in dermaßen großen Zahlen auf den Markt, dass beides, bezahlte und unbezahlte Arbeitsplätze, frei sein werden für diese Personen.

DIE: Noch einmal eine ganz andere Frage: Was darf man denn alles forschen oder wissenschaftlich bearbeiten? Wir hatten ja jüngst die Stammzellendiskussion. Soll denn gesellschaftlich alles zulässig sein, was ökonomisch nützt, oder soll es Grenzen geben?

H.H.: Ich akzeptiere diese Frage nicht. Sie impliziert, dass Wissenschaft entweder ökonomisch ist oder der Gesellschaft nützt. Das hat mich bei den Zurufen von dem derzeitigen Bundespräsidenten sehr geärgert. Er hat eben auch gesagt, dass man nicht alles machen kann, was ökonomisch nützt. Das war bei der Stammzellendebatte ja gar nicht das Thema, sondern die Frage: Patient oder Embryo? Und dann gleich auf die wirtschaftlichen Interessen zu kommen, die es selbstverständlich auch gibt, halte ich für unlauter. Denn in der Tat war die Abwägung zwischen der Person, die krank ist und der man die Chance der Heilung „verbauen" wollte, indem man die Stammzellenforschung möglicherweise ganz verbietet, und dem Embryo. Ich will mich in diese aktuelle Diskussion nicht auch noch einmischen. Ich kann nur sagen, dass sich der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam mit allen anderen Leitern der deutschen Forschungsinstitute hinter die Position der DFG gestellt hat. Die haben wir gemeinsam diskutiert und unterschrieben. Das konkrete Abstimmungsergebnis im Bundestag war für mich wieder mal typisch deutsch. Das war eine Absurdität, hier in Stichtagen zu operieren. Eine
Moral mit Stichtagen gibt es nirgendwo. Und sie wird deshalb auch nicht haltbar sein.

DIE: Gibt es denn aus Ihrer Sicht überhaupt wissenschaftliche Forschungsarbeiten, von denen man sagen könnte, die Gesellschaft sollte eine weitere Erforschung dieses Feldes untersagen? Können Sie sich einen Bereich vorstellen, in dem das sinnvoll wäre, zum Beispiel bei der Atombombe?

H.H.: Nur wenn der Bereich zu Lasten der heutigen und zukünftigen Generationen ginge. Deshalb halte ich zum Beispiel Forschung für stärkere Atombomben für unzulässig und unmoralisch.

Freiheit der Wissenschaft?

DIE: Die Leibniz-Gemeinschaft sagt, sie betreibe Wissenschaft im Interesse der Gesellschaft. Wie kann man denn sicherstellen, dass eine solche Forschungsarbeit auch geleistet wird? Wie kann man denn überprüfen und sicherstellen, dass Forschung im Interesse gesellschaftlicher Bedürfnisse und Bedarfe erfolgt oder vielleicht nicht so sehr?

H.H.: Dahinter stecken wohl zwei Fragen. Erstens: Erforschen wir das Richtige? Und zweitens: Ist es gerechtfertigt, dafür Steuergelder auszugeben? Diese Frage gehört zu den am schwersten zu beantwortenden Fragen überhaupt. Es wird auch in Unternehmen geforscht. Auch in Unternehmen, in denen ich 34 Jahre lang gearbeitet habe, wurde sehr viel Geld für Forschung ausgegeben - mit großem Erfolg: fünf Nobelpreisträger und viele andere Patente wie Lizenzen, Copyrights usw. Trotzdem war das Budget für die Forschung immer wieder höchst umstritten. Meine persönliche Erfahrung ist allerdings die, dass wir eine Forschungsrichtung vorgeben müssen, aber um Gottes willen nicht vorgeben, was da am Schluss herauskommen soll. Forschung heißt Kreativität, und Sie können nicht kreativ sein, wenn Sie innerhalb eines Zeitrahmens unter dem Druck stehen, ein Forschungsergebnis vorzulegen. Auf der anderen Seite kann man nicht alle nur im luftleeren Raum arbeiten lassen. Also deshalb die Kombination zwischen dem Forschungsgebiet, zum Beispiel Erwachsenenbildung, und Freiheit. Die Forscher selbst festlegen zu lassen, wie sie am besten Ergebnisse, die dann in die verschiedenen Institutionen der Erwachsenenbildung einfließen können, erforschen oder bekommen. Politiker sollten sehr vorsichtig sein, wenn sie den Wissenschaftlern Prioriäten vorgeben. Auf der anderen Seite sind wir natürlich dem Steuerzahler gegenüber verpflichtet, ihm das Gefühl zu geben, dass das, was wir tun, auch nützlich für die Gesellschaft - mindestens für die Kinder unserer Freizeitgesellschaft - ist. Die Art und Weise, wie die Leibniz-Gemeinschaft organisiert ist, kommt eigentlich einem Idealtypus ziemlich nahe. Wir haben 79 Institute, und in der Hauptverwaltung maßt sich niemand an, irgendwelche Programme aufzulegen. Durch die Schaffung von Sektionen sorgen wir dafür, dass interdisziplinär gearbeitet wird. Der Senat stellt sicher, dass die Forschung exzellent betrieben wird. Wenn das nicht der Fall ist, schließen wir Institute oder sehen zu, dass dort verbessert wird. Aber im Prinzip sind wir eine Gemeinschaft, die - glaube ich - die Freiheit in der Forschung wohl höher hält als jede andere vergleichbare Gemeinschaft in Deutschland.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2002

Hans-Olaf Henkel, Ekkehard Nuissl von Rein, Es muss sich wieder lohnen, ein Primus zu sein.
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/22002/gespaech.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp