DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Die »Kultur der Beteiligung« lernen

Das Leipziger »Stadtbüro« unter erwachsenenpädagogischer Beobachtung

Jarno Wittig

Jarno Wittig

Ob es die zu hohen Fahrpreise der Leipziger Verkehrsbetriebe sind, ständige Vollsperrungen in der Messestadt oder die unterschiedlich bewertete Vision, die Olympischen Spiele 2012 in Leipzig auszurichten – im Stadtbüro Leipzig kommt alles auf den Tisch, was den Leipzigern unter den Nägeln brennt. Das 1998 eröffnete Büro wird vom Lehrstuhl für Erwachsenpädagogik wissenschaftlich begleitet. Ein Zwischenbericht.

Jeden zweiten Dienstag steht Oberbürgermeister (OBM) Wolfgang Tiefensee interessierten Leipziger Bürgern Rede und Antwort, reagiert und klärt vor Ort oder antwortet später schriftlich. Das am 1. Juli 1998 öffnete Stadtbüro Leipzig erfreut sich einer regen Nachfrage. Das ihm zugrundeliegende Konzept wurde in Zusammenarbeit mit dem Leipziger Lehrstuhl für Erwachsenenpädagogik (Prof. Knoll) entwickelt und seither auch von dort wissenschaftlich begleitet. Bereits im Vorfeld der Eröffnung hatten Knoll und Tiefensee besprochen, wie ein solches Stadtbüro aussehen und arbeiten muss, damit es den Dialog zwischen Bürgern und Verwaltung fördert und nicht zur Meckerecke verkommt. „Uns ging es vor allem darum, dass sich die Leipziger aktiv für die Stadtpolitik interessieren und das Stadtbüro als einen Ort begreifen, indem Visionen und Ideen entstehen", erinnert sich Prof. Jörg Knoll. Denn auf die Frage, was sich die Stadtverwaltung Leipzig vom Stadtbüro verspreche, postulierte seinerzeit das Rathaus, dass es einen direkten Kontakt mit den Bürgern sowie deren Anliegen geben soll, dass die eigene Meinungsbildung angeregt und die Entwicklung eigener Ideen angestoßen wird. Auf diese Weise sollten Ideen und Anregungen zu dahinter liegenden Problemen verdichtet und die authentische Teilhabe an der Weiterentwicklung einer bürgerschaftlichen Gesprächskultur gefördert werden.

Ziele wurden in der Planungsphase des Büros freilich auch für die Bürger als Nutzer der Einrichtung benannt. So sollten diese den direkten Kontakt mit dem Oberbürgermeister und anderen Stadtangestellten erhalten, Ideen und Anregungen einbringen können sowie die Erfahrung mitnehmen, dass die eigene Artikulation aufgenommen wird und sich demzufolge auch lohnt. So hat das Leipziger Stadtbüro zwei deutlich erkennbare Funktionsbereiche. Der ersten – der Plattform-Funktion – wird dabei eine übergeordnete Stellung eingeräumt. „Das Stadtbüro als Einrichtung und Ort, von wo aus Beteiligungsvorgänge angestoßen und gestaltet werden, und zwar schon im Vorfeld von Entwicklungen, Planungen und Entscheidungen", lautete das erste Ziel des Stadtbüros. Diesem untergeordnet stand die Kontakt-Funktion.

Gleichzeitig sollte der Bürger Raum bekommen, um Ressourcen zu entwickeln. So arbeitet das Stadtbüro seit 1998 damit, Betroffene (i.w.S. Menschen, die mit einem Geschehen zu tun haben, die Auswirkungen zu spüren bekommen, daran interessiert sind) anzuhören und ihre Überlegungen, Ängste, Befürchtungen in den Planungsprozess zu integrieren, ob es sich dabei um eine neue Trassenführung einer Bundesstraße handelt oder die Umgestaltung des Augustusplatzes und des gesamten Stadtbildes. Wichtig ist dabei, dass dadurch Engagement gefördert wird, indem die Eigeninitiative der Bürger mehr Chancen bekommt. Dahinter steht die Annahme und Erfahrung des Leipziger Lehrstuhls für Erwachsenenpädagogik, dass erst die konkrete Möglichkeit von Mitgestaltung Engagement entstehen lässt. Schlussendlich wollten Stadtväter und Lehrstuhl auch die Identifikation mit der Stadt erhöhen, indem das Stadtbüro einen Raum für Beteiligung eröffnet, der das Zugehörigkeitsbewusstsein zur Stadt selbst fördert.

In der Konzeption für das Stadtbüro wird zwischen drei Varianten von „Beteiligung" unterschieden:

Leipziger »Stadtbüro«
Das Leipziger Stadtteilbüro

 

Die Situation des angesprochenen Bürgers ist jeweils eine andere: Beim Informieren geht es darum, Darstellungen, Mitteilungen, Erläuterungen usw. entgegenzunehmen bzw. zu "empfangen". Bei der Erhebung von Meinungen, Anregungen und Hinweisen ist der Bürger in der Rolle, etwas zu "geben". Beim gemeinsamen Entwickeln von Ideen und Lösungen geht es um Mitgestalten. Die Nutzung der Potentiale und das Engagement der einzelnen Person steigt in der Reihenfolge der drei Beteiligungsmöglichkeiten deutlich an.

Die Begleituntersuchung durch den Leipziger Lehrstuhl für Erwachsenenpädagogik hatte dreierlei Ausrichtungen: Sie bezog sich auf das Verhältnis zwischen der Konzeption einerseits und dem Profil der Aktivitäten andererseits. Dadurch lieferte sie Grundlagen, um die Entwicklung des Stadtbüros einzuschätzen und ggf. Anpassungen sowohl der Aktivitäten als auch der zugrunde liegenden Ziele vornehmen zu können. Sie bezog außerdem die Wechselbeziehungen zwischen Stadtbüro und Stadtverwaltung im Sinne eines Systemzusammenhanges ein. Dabei berücksichtigte sie besonders den Übergang vom Stadtbüro zur Verwaltung (Rückmeldefunktion, Anregungsfunktion, Vernetzungsfunktion, Stützfunktion) und die gleiche Schnittstelle in umgekehrter Richtung: Hier ging es um die Nutzung des Stadtbüros als "Möglichkeitsraum" und "Ressource". Dieser Teil der Begleitung liefert Informations- und Entscheidungsgrundlagen für Organisations- und Personalentwicklung für die gesamte Verwaltung weit über den unmittelbaren Bereich des Stadtbüros hinaus. Das betraf insbesondere innovative Formen von Mitarbeiterfortbildung, die sich nicht im herkömmlichen Kurssystem erschöpfen. Die wissenschaftliche Begleitung verknüpfte schließlich ihre Ergebnisse mit allgemeinen und grundsätzlichen Fragen von Bürgerbeteiligung und beteiligungsorientierter Verwaltung. Sie bot damit Anregungen für Nachdenken und Gespräche über eine Weiterentwicklung einer „Kultur der Beteiligung", die in Leipzig eine reiche Tradition hat.

Im Ausgangskonzept für das Stadtbüro spielte die Vorstellung eine wichtige Rolle, dass der Besuch durch einzelne Bürger(innen), ihre Beratung und die Aufnahme ihrer Anliegen in der Arbeit großes Gewicht hat. Dementsprechend wurde das Stadtbüro von Anfang an durch Einzelpersonen genutzt. Hierbei standen vom Typ der Kontakte her „Anfragen/Nachfragen" an erster Stelle. Sie gingen jedoch stetig zurück. Demgegenüber nahmen diejenigen Kontakte zu, in denen Einzelbesucher des Stadtbüros Anregungen und Hinweise gaben. Diese Entwicklung spricht für eine wachsende Nutzung des Stadtbüros im Sinne der angestrebten aktiven Beteiligung von Bürgern an den Themen der Stadt. Anders, als ursprünglich z. T. befürchtet, sind Beschwerden stets die kleinste Gruppe der Kontakte (ca. 15 %).

Bereits im einleitenden Erprobungszeitraum 1998 bis 2000 wurden 22 Projekte verwirklicht. Unter „Projekte" wurden hierbei solche Aktivitäten verstanden, in denen im Zusammenwirken mit anderen Menschen aktuelle Fragen und Herausforderungen für das Leben der Stadt und ihre Zukunft bearbeitet worden sind. Sie verwirklichten die Plattformfunktion des Stadtbüros und ermöglichten Bürger(inne)n die umfassendste Form der Mitwirkung, nämlich Beteiligung durch gemeinsames Entwickeln von Ideen und Lösungen. Die Projekte haben im Leistungsspektrum des Stadtbüros ein deutliches Gewicht gewonnen, und zwar in weit größerem Umfang, als bei der Eröffnung 1998 erwartet worden war.

Inhaltlich haben sich die Projekte in mehrere Richtungen ausdifferenziert. Die wesentlichen Bemühungen zielen auf mehr Bürgerbeteiligung, z. B. der Aufbau einer Freiwilligenagentur, die Einführung einer Kinderfreundlichkeitsprüfung bei allen städtischen Beschlüssen, aber auch Projekte zu Beteiligungsverfahren im Internet sowie der Wettbewerb „Bürgerorientierte Kommune" (CIVITAS) mit seinem Dialog zwischen Stadtverwaltung und Bürgervereinen. Weitere thematische Schwerpunkte sind innerstädtische Projekte zu aktuellen Lebens- und Alltagsfragen des Gemeinwesens, in denen sich Bürgerbeteiligung konkret vollzieht, beispielsweise „Autoarme Innenstadt", die Gestaltung des Nikolaikirchhofs sowie gesamtstädtische Großprojekte (Zentralstadion, Bildermuseum, City-Tunnel). Neben stadtgestalterischen Aspekten und dem Thema Verkehr sind auch Themen, die sich an spezielle (z. T. benachteiligte) Zielgruppen wenden, von Bedeutung: „Wohnen im Alter" oder die „Internet-Vision für Gehörlose". Schließlich gibt es Projekte, die mit der Stadtverwaltung selbst zu tun haben, wie die Aktionen zur Eingemeindung. Auch ein kommunalpolitisches Dauerthema war mehrfach für ein Projekt ausschlaggebend: der städtische Haushalt.

Die sog. Sprechstunden des OBM standen im ursprünglichen Konzept des Stadtbüros im Vordergrund. Sie waren hauptsächlich der „Kontakt-Funktion" zugeordnet und sollten Beteiligung fördern durch Information, aber auch durch Erheben von Meinungen, Anregungen und Hinweisen. Wie die Begleituntersuchung zeigte, entwickelten sie sich stärker zu einem Bindeglied zwischen Information und Meinungsäußerung einerseits sowie Ideenentwicklung und praktischer Mitwirkung andererseits. Zugleich verstärkte die Ausweitung auf Beigeordnete bzw. Dezernate die personelle Präsenz und Wahrnehmbarkeit der „Stadt" und ihrer Verwaltung.

Diese Entwicklung macht verständlich, dass die thematischen Sprechstunden des Oberbürgermeisters – ihrem Charakter nach Diskussionsforen – zunehmend in Projekte einbezogen wurden.

Neben den intensiveren (in der Datenbank erfassten) Kontakten sowie neben den Veranstaltungen, Sprechstunden und sonstigen Aktionen finden viele informelle Kontakte während der normalen täglichen Öffnungszeit statt. Diese gehen gegenüber den erfassten Einzelanliegen nur leicht zurück, wie eine stichprobenartige Erfassung der informellen Kontakte belegt. Ebenso wird aus diesen Stichproben deutlich, dass es keinen bestimmten Wochentag gibt, der von den Bürger(inne)n favorisiert wird. Es kommen täglich im Durchschnitt zehn solcher informellen Gespräche zustande.

Die meisten „intensiven" Fälle werden von den Bürger(inne)n persönlich vorgetragen (60 Prozent der Kontakte). Dafür eignet sich besonders die zentrale Lage des Stadtbüros. Weniger als 20 Prozent der Anliegen erreichen das Stadtbüro schriftlich. Weniger als 10 Prozent der Kontakte ergibt sich aus OBM-Sprechstunden. Diese Verteilung scheint relativ stabil zu sein.

Insgesamt zeigt sich, dass das Stadtbüro eine erkennbare Initiativfunktion entfaltet und seinen methodischen Gestaltungsraum kontinuierlich ausgeweitet hat. Als Veranstaltungsformen hat es zunächst gesprächsorientierte Angebote gemacht (insbesondere die „Sprechstunden" des Oberbürgermeisters und die Einzelberatungen) und Informationsmaterial weitergegeben, dieses Spektrum aber sehr bald ausgeweitet durch Projektarbeit und Ausstellungen. Besonders hervorzuheben ist das Vorgehen, „Pakete" aus mehren Elementen unter einer verbindenden Themenstellung zu schnüren, z. B. eine „Woche der Bürgergesellschaft" mit einer Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit verschiedenen Ämtern gestaltet worden ist. Begleitend dazu gab es eine Ausstellung zum Thema „Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung in Form von Bürgerbeteiligungsverfahren und Projektbeteiligungen", eine Ausstellung des Modells zur Gestaltung eines öffentliches Platzes, ein Diskussionsforum mit dem Amt für Stadtsanierung und Wohnungsbauförderung zum Thema „Projektbezogene Bürgerbeteiligung an ausgewählten Beispielen" und schließlich ein Ideenforum der Agenda 21 zu „Ruhendem Verkehr im Wohngebiet – Anforderungen aus Sicht unterschiedlicher Lebensstile".

Durch seine Plattformfunktion und verschiedenen Aktivitäten fördert das Stadtbüro Bürgerbeteiligung, Lernen und darin enthalten auch politische Bildung in einer sehr alltagsnahen und z. T. auch informellen Weise. Sie entsteht bei verschiedenen Anlässen als spontaner Austausch z. B. bei Beratungsgesprächen, zwischen Besuchern der Ausstellungen und auch bei den Veranstaltungen oder den Sprechstunden. So waren, als der Nahverkehrsplan ausgelegt war, verschiedene Besucher gleichzeitig im Raum. Weil sie miteinander ins Gespräch kamen, begannen sie, sich den Plan gegenseitig zu erklären und entlasteten die Mitarbeiterinnen im Stadtbüro von dieser Funktion. Oder: Zu den Sprechstunden des OBM kommen öfters Menschen, die schon einmal da waren – nicht um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen: Die Anwesenden diskutieren jetzt mehr untereinander. Es geht also eher um differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema und weniger um die Person des OBM.

Eine entscheidende Rückwirkung betrifft die Verwaltung: Dort geschieht ein Perspektivwechsel, insofern man sich mehr in die Bürger(innen) hinein versetzt und so neue Sichtweisen entwickelt. Dementsprechend wird in den Interviews durch Verwaltungsmitarbeiter geäußert, es gehe darum, „Bürger mit ihren Kompetenzen wahrzunehmen, die Bürgerschaft hat ja Kompetenz. Das Stadtbüro ist so etwas, wie ein Seismograph in der kritischen Auseinandersetzung". In ähnlicher Weise deutet sich eine Öffnung der Verwaltung für eigene Angebote oder Projekte an. Schließlich gehen von den Aktivitäten des Stadtbüros Impulse für andere Einrichtungen im öffentlichen Raum aus. So haben Aktionen des Stadtbüros kommunalpolitische Gesprächs- und Themenangebote der Volkshochschule Leipzig entstehen lassen.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2003

Jarno Wittig, Die Kultur der Beteiligung lernen. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/22003/wittig03_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp