DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Stichwort

Rechte und Pflichten lebenslangen Lernens

Christiane Jäger

Wer sich zu Rechtsfragen kundig machen will, schlägt üblicherweise in Gesetzestexten und entsprechenden Verordnungen nach. Nun gibt es aber kein Recht lebenslangen Lernens. Stattdessen stößt man auf eine Vielzahl von bildungsbereichspezifischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften: Da gibt es Schulgesetze, Weiterbildungs- und Bildungsurlaubsgesetze auf Länderebene, Hochschulrahmen- und Berufsausbildungsgesetz auf Bundesebene – womit die in den verschiedenen Lebensphasen zentralen Bildungseinrichtungen abgedeckt wären. Die weitgehend isoliert nebeneinander stehenden Gesetze sind Spiegelbild der Bildungswirklichkeit, die nach wie vor wenig horizontal vernetzt ist.

Richtet man den Blick ausschließlich auf die für die Weiterbildung relevanten Rechtsnormen, wird es nicht besser. Auch hier gibt es neben den Ländergesetzen eine Vielzahl weiterer Gesetze, die für die Bildung und Qualifizierung Erwachsener relevante Normierungen enthalten; so u. a., das Betriebsverfassungsgesetz, das Fernunterrichtsschutzgesetz, BAföG und „Meister“-BAföG, das SGB III – Arbeitsförderung und das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz, das in Deutschland lebende Ausländer unter bestimmten Bedingungen verpflichtet, an Integrationskursen teilzunehmen. Sichern die Weiterbildungsgesetze der Länder primär die Rechtsstellung der Träger, insbesondere die institutionelle Förderung, folgen letztgenannte Gesetze einem anderen Paradigma. Sie bestimmen individuelle Förderansprüche und -voraussetzung. Nicht selten führen diese unterschiedlichen „Fördermodelle“ zu Friktionen im Feld der Weiterbildung.

Rechtsnormen gestalten jedoch nicht automatisch Rechtswirklichkeit. So garantieren sie nicht, dass Rechtsansprüche auch entsprechend wahrgenommen werden. Ein gutes Beispiel sind die Bildungsurlaubsgesetze.

Zu der Rechtsetzung auf der einen Seite gehört also auf der anderen Seite die Pflicht, durch entsprechende Maßnahmen und Anreizsysteme dem Recht zur Umsetzung zu verhelfen. So korrespondiert mit dem in einigen Länderverfassungen festgelegten Recht auf Bildung (z. B. Berlin Art. 20, Brandenburg Art. 29, Niedersachsen Art. 4, Thüringen Art. 20; in Nordrhein-Westfalen sogar § 1 des Weiterbildungsgesetzes) bzw. dem Recht auf Zugang zu Bildungseinrichtungen (Mecklenburg-Vorpommern Art. 8, Sachsen Art. 29), die Pflicht des Landes, die Erwachsenenbildung zu fördern. Die Förderung des Landes erfolgt primär in Form finanzieller Förderung. Die Gestaltung und Organisation der Weiterbildungslandschaft vor Ort obliegt – zumindest für die Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft – der kommunalen Selbstverwaltung. Hier stehen also die Kommunen in der Pflicht, für ein bedarfgerechtes Angebot zu sorgen und durch ein entsprechendes Marketing publik zu machen.
Nicht erst mit Einzug des Konzepts lebenslangen Lernens, sondern auch vor dem Hintergrund einer rückläufigen öffentlichen Förderung rückt die Pflicht des Individuums, für seine Qualifizierung und individuelle Bildungsbiographie Verantwortung zu übernehmen und sie – durch entsprechende Teilnahmebeiträge – auch mitzufinanzieren, in den Vordergrund. Wenngleich diese Pflicht nicht mehr als eine moralische Verpflichtung ist, die an die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen appelliert, schafft sie doch eine »normative Erwartungsstruktur« (Holzer 2004, S. 111), die im bemerkenswerten Gegensatz zu der recht zerfaserten Rechtssituation steht. Und dennoch: Das Prinzip der Freiwilligkeit bei der Bildung Erwachsener wird nicht nur aus pädagogisch-fachlicher Sicht hochgehalten. Eine gesetzlich normierte Bildungspflicht für Erwachsene – wie sie in anderen Staaten für Kinder und Jugendliche bspw. anstelle einer Schulpflicht vorgesehen ist, ist mit den Grundrechten, die stets die wichtigste Adresse sind, wenn es darum geht, die Freiheit des Einzelnen zu schützen, nicht vereinbar.
Rechte und Pflichten sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Nicht umsonst werden die beiden Begriffe häufig in einem Atemzug genannt. Sie sollten – um das im Rechtsbereich häufig bemühte Bild der Waage zu benutzen – als Gegenspieler im Gleichgewicht sein. Im Bildungsbereich scheint diese Gleichgewicht noch nicht ganz hergestellt zu sein.