DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Stichwort
»Fußball bildet, Zuschauen erlöst«

Klaus Harney

Dass Fußball bildet,1 ist schon deshalb schlecht zu bestreiten, weil er bereits für Kinder die Erfahrung der gegenseitigen Erfolgsabhängigkeit im mannschaftlichen Kooperationsgeflecht und der zeitlichen Ordnungsbildung durch Training und Spieltermine bereitstellt.

Die Welt der Fußballweltmeisterschaft ist eine andere Welt. Die Fußballweltmeisterschaftswelt bildet nicht. Man kann auch nichts von ihr lernen: Denn man sieht dort nichts bzw. nur sich selbst.2 Die Fußballweltmeisterschaftswelt lebt vom nicht-sehenden Zuschauen. Sie ist die Welt der Profis, der FIFA, der Fernsehrechte, der Werbung, der Arenabauten, für den alltäglichen Zuschauer aber vor allem: der laufenden Generierung von Erzählungen.

Die Fußballweltmeisterschaftswelt gehört heute zu den Konversation stiftenden Ressourcen der Gesellschaft. Man kann über die Fußballweltmeisterschaftswelt relativ voraussetzungslos sprechen. Die mediale Daueranwesenheit von Klinsmann und Co. verleiht jedem der Akteure einen Korpus von Attributen und Geschichten, aus denen cheap talk mühelos erwachsen kann.

Seine Antriebskraft erhält das Zuschauen wegen seiner eine spezifische Art von Geschichten generierenden Faszination, beruhend auf der Selbstreferentialität des Balls. Der gespielte Ball spielt dadurch, dass er gespielt wird, selber ständig mit. Das gibt ihm Gaußsche Qualitäten. Gauß ist immer anwesend: Selbst wenn Brasilien gegen Deutschland spielt, kann man nicht ausschließen, dass Deutschland gewinnt – was mit dem wahrscheinlichkeitsbasierten, von Schemmann/Schrader auf den Fußball bezogenen PISA-Kompetenzstufenmodell völlig kompatibel ist. In jedem Fall stiftet der Zufall, der ja gerade auch das Unwahrscheinliche – nämlich den Sieg der Inkompetenten – ermöglicht, die Kontingenz der Spielverläufe, denen der Zuschauer zuschaut und von denen er sich die Geschichten stiftenden Verklammerungen durch das Mythische, das Tragische, aber auch das Komödiantische zurückspiegeln lassen kann. David und Goliath, das unverdiente Ende, die Wiederauferstehung, der treue Diener, die heroische Tat usw.: Die narrativen Verweisungen und typenbezogenen Schematisierungen, die das Spiel liefert, sind zahlreich und beliebig kombinierbar.

Der Zufall selbst ist nicht narrativ. Man braucht die narrative Transformation durch die imaginierenden Sinn- und Bedeutungszuweisungen der Zuschauer. Gauß ist nur anwesend – mehr nicht. Deshalb wird er für Spielverläufe selten verantwortlich gemacht. Der Pfostenschuss ist dann letztlich doch mangelnde Professionalität im Ausnutzen von Torchancen usw. Mit anderen Worten: Der Zufall wird in Attribuier- und Erzählbarkeit umgeformt. Dafür wird er aber auch gebraucht: Gauß darf nicht durch mafioses Handeln ersetzt werden. Jedenfalls nicht mit Wissen des Zuschauers: Denn dann gibt es nichts Erzählbares mehr zu erwarten. Die Erzählhoheit zu gewinnen, ist vor allem die Funktion der Medien und der Zuschauer. Beide erzählen sich den Fußball gegenseitig.

Der normale fernsehende Zuschauer schaut auch dem Zuschauen zu. Das Zuschauen ist ein Mehrebenengeschehen, das sich dadurch selbst anregt und die Frage nahelegt, was man dabei eigentlich sieht. Die hier gegebene Antwort lautet: Man sieht nichts, man wartet nur. Die Antike kennt die Schau als Theoria: als Einsicht in die Sache. In diesem Sinne der Einsichtnahme erhält das Zuschauen einen Verweisungszusammenhang, den man der Bildungsthematik zuordnen kann. Ein solcher Verweisungszusammenhang ist der zuschauenden Beteiligung an der Fußballweltmeisterschaftswelt allerdings fremd. Das Zuschauen des Zuschauers in der Fußballweltmeisterschaftswelt verweist eher auf Warten als auf Bildung: Es wartet eine oft auch öde dahinplätschernde Spielzeit in der Hoffnung auf die Emergenz erzählbarer Ereignisse ab. Der Zufallsanteil an dieser Emergenz erzwingt die Wartehaltung. Gauß steht für beides: für das Warten und für seine vorläufige Beendigung durch das Eintreten erzählbarer »großer« Ereignisse auf dem Spielfeld, auf das dann wieder neues Warten folgt. Insofern gleicht das Zuschauen einem chronischen, Geschichten generierenden Erlösungszyklus, der nicht endet, solange man zuschaut. Fazit: Wer nichts sehen, dafür aber erlöst werden möchte, wird gerne zuschauen.  

Anmerkungen
1 Vgl. die Beiträge von Jütting und Kellermann in diesem Heft.
2 Das sehen die Autoren der (durchaus lernwirksamen) Beiträge, Kade und Cohn-Bendit, in diesem Heft allerdings anders.

Dr. Klaus Harney ist Professor für Berufs- und Wirtschaftspädagogik/Weiterbildung an der Ruhr-Universität Bochum