DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Wieviel Sprache braucht der Migrant?

Von der Verwandlung des Zickleins in ein Lamm

Yüksel Pazarkaya

Dr. Yüksel Pazarkaya, Sprachdidaktiker und Schriftsteller, ist Leiter der Türkisch-Redaktion beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.

Abstract:
The author comments on his essay's title which should refer to a „human being" rather than to a „migrant". With examples drawn from literature, theatre and real life he underpins his theory of an increasing malfunction of language as a means of communication. Finally, he reflects on cultural identity and a (German) concept of integration into a target culture.

Mit dem Gesamtsprachenplan zur Regelung der staatlichen Sprachförderung für Zuwanderer, der u. a. wegen der noch nicht abgeschlossenen Debatte über ein Einwanderungsgesetz noch nicht umgesetzt ist, stellt sich schon aus Kostengründen die Frage: Wieviel Sprache ist zur Integration notwendig? Eine nur fachdidaktische oder kostenrelevante Argumentation greift jedoch zu kurz. - Zwei der Kernaussagen von Yüksel Pazarkaya: Der Migrant ist Mensch und Individuum, und: Die eigentliche Funktion von Sprache, die Kommunikation, ist weitgehend verloren gegangen.

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Die Überschrift beunruhigt. Es wäre mir wohler bei der Formulierung: Wieviel Sprache braucht der Mensch? Die Antwort darauf wäre dann einfach: Jeder braucht für sich eine andere Menge Sprache, die zeit-, ort- und anlassbedingt variiert, und jeder braucht eine andere Sprache: die seine. Diese Antwort geht von der naturgegebenen Prämisse aus, jeder und alles braucht Sprache. Ergo: Jeder und alles hat Sprache. Es gibt keinen und nichts in der Welt ohne Sprache. Noch eine Prämisse: Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Sprache ausschließlich aus entschlüsselbaren Lauten und Buchstaben bestehen muss. Erstens kann sie auch aus anderen Elementen bestehen als aus Lauten und Buchstaben, zweitens muss sie nicht immer entschlüsselbar sein und eine direkte Botschaft beinhalten. Wieviel Sprache braucht der Mensch? Spätestens Tschechow und Strindberg führten uns vor, dass Sprache, wie reich und kultiviert sie auch sein mag, nicht unbedingt ein Medium der Kommunikation sein muss. Im zwischenmenschlichen Bereich kann die Sprache immer und überall versagen. Ich spreche nicht von Wittgensteinschem Schweigen, das auch eine Sprache ist und nicht versagen muss. Im Gegenteil: Oft ist das Schweigen eine universelle Sprache wie die Poesie und so ein besseres Kommunikationsmittel als die gesprochene Sprache. In den Textbüchern von Helmut Heißenbüttel, um bei der universellen Sprache der Poesie zu bleiben, funktionieren die Leerstellen als sprachlicher Baustein.

H. C. Artmann leitete 1997 seine Rede zum Büchner-Preis mit den Worten ein: „meine damen, meine herren, das worüber ich reden möchte, hat mit nichts als sprachlosigkeit zu tun; mit einer sprachlosigkeit im sinn einer abbildung, einer reflexion des realen in der sprache. mir geht es darum, der spur dieser meiner sprachverweigerung zu folgen, und diese spur hat einen anfang, nämlich den meiner mir zugeordneten biographie".

Auch ohne Kenntnis von seiner Biographie kann ich die Sprachverweigerung Artmanns in unserer Realität respektive Sprachrealität gut nachempfinden.

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Das Thema beschäftigt mich seit meinem Theaterstück. („Ohne Bahnhof", so hieß das Stück, das 1967 von der Studiobühne der Universität Stuttgart im Altstadttheater Stuttgart uraufgeführt wurde.) Becketts Einfluss ist unverkennbar, sechs Personen warten in diesem Stück auf einem deutschen Bahnsteig auf den Zug, der sie mitnehmen und in eine gute Zukunft bringen soll. Unnötig zu sagen, dass ihr Zug nicht ankommt. Das Stück, ungeachtet aller ihm anhaftenden Schwächen eines Erstlingwerks, mag vielleicht dadurch von literatursoziologischem Interesse sein, dass in ihm zum ersten Mal ein Gastarbeiter zu den dramatis personae gehört. Fünf Deutsche - ein Journalist, ein Arbeiter, eine Hausfrau, deren Sohn oder Mann von der Front nicht zurückgekehrt ist, ein Student, eine Studentin und ein Gastarbeiter. Der Letztere bleibt im ganzen Stück stumm. Die Hausfrau, die auf den Zug wartet, der ihren Sohn oder Mann von der Front zurückbringen soll, redet vielleicht am meisten, weil sie ständig verworrene Selbstgespräche führt. Die anderen Personen reden scheinbar normal miteinander. Dennoch vermitteln die verwirrte Frau und der stumme Gastarbeiter über sich und ihre Welt möglicherweise mehr als die anderen eher normal Scheinenden. Und sie kommuniziert als Einzige durch ihre verworrenen Reden mit dem stummen Gastarbeiter.

Aneinander vorbei reden, gegen die Wand reden, ins Leere reden, Selbstgespräche führen, in den inneren Dialog ausweichen, Einsamkeit unter Menschen weisen bereits im 19. Jahrhundert auf die urbane Gesellschaft und den modernen Menschen in Industriestädten hin. Die Psychologie blüht auf. Die Masse Mensch entfernt sich vom Individuum und vereinsamt zugleich. Dabei unterliegt er der Selbsttäuschung der unablässigen und zunehmenden Kommunikation, Kooperation, Gesellschaftlichkeit. Die stetig wachsende Informationsflut geht mit seiner Scheininformiertheit einher. Die Welt wird total versprachlicht, dabei wird die eigentliche Funktion der Sprache verschüttet: die des Dialogs und der Verständigung. Verstummung durch ein Zuviel an Sprache ist die Folge.

Alte und neue Medien überschwemmen die Welt und die Menschen mit Sprachen, die Städte verwandeln sich in ein Meer von Schriften und Lauten, auch der Leib des Einzelnen wird dabei nicht verschont. Er mutiert zur wandelnden Schrifttafel und Werbefläche, nicht nur der Sportler, sondern auch der ganz normale Mensch. Sein T-Shirt, seine Mütze, seine Hose, sein Rock und nicht zuletzt seine tätowierte Haut sind mit allen möglichen Sprachen und Sprüchen beschriftet und beschmiert. Der Mensch ist beschmiert und bekleckert mit Sprache, er ist verunstaltet mit einer Fähigkeit und Fertigkeit, die ihn hätte zivilisieren und kultivieren sollen, die ihn jedoch reduziert und verkommen lässt in einem Schriften- und Sprachenmüll. Seine Welt ist in eine Müllhalde verwandelt, seine Städte sind ein Müllhaufen - Umweltverschmutzung durch Sprachmüll. Man kann sogar von einer Sprachverseuchung bzw. Verseuchung durch den Sprachmüll sprechen. Nicht nur Fernsehunterhaltung und Werbesprüche legen Zeugnis davon ab, sondern auch andere gedruckte und gesprochene Worte. Das Wort auf sich selbst zurückführen, es von der umhüllenden Sprache befreien: das wort von der sprache / reinigen / die lüge fliegt zum mond der mensch hungrig / du bleibst blankes wort. (Irrwege)

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„Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, dass er die Dinge benennt" (Walter Benjamin). Gleichzeitig verdinglicht und reduziert er alles: Menschen, Tiere, Pflanzen, die Natur und das Universum. So wird der Mensch als Gastarbeiter oder Ausländer, Fremder, Asylant u. a. bezeichnet. Unter diesem Gesichtspunkt macht mich die jüngste Forderung der Politik nach Sprachkursen als Voraussetzung für Zuwanderung bange, zumal Integration und eben diese Kurse in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden, auch wenn die Forderung nach Pflichtkursen nicht ganz ernst gemeint sein kann, wenn die Mittel zur Durchführung nicht zur Verfügung gestellt werden.

„Jede Sprache teilt sich selbst mit." Wenn Benjamins Satz zutrifft, erweckte die Sprache der Politik in der Vergangenheit kaum Vertrauen: „Deutschland ist kein Einwanderungsland." „Das Boot ist voll." „Werdet Deutsche oder geht nach Hause!" „Das deutsche Volk darf nicht überfremdet werden." Und plötzlich diese Kehrtwendung. Auf einmal ist Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden, und das Boot kann Zuwanderer aufnehmen. Aber bestimmte Kriterien müssen erfüllt sein. Das oberste Kriterium lautet: Der Zuwanderer muss uns Nutzen bringen. Der Umkehrschluss lässt sich leicht formulieren: Der Mensch schlechthin gewährleistet noch keinen Nutzen.

Die Frage ist, wer wird die Dinge, Phänomene und Geschöpfe benennen? Welche Sprache soll sich mitteilen, um Belange des Menschen zu transportieren? Die Politik kann dabei nur sich selbst mitteilen. Sie darf nicht Hegemonie über die Mitteilung derer erlangen, die sie nicht mitgestalten, nicht zu ihr gehören. Die Sprache der Politik reguliert, reglementiert und regiert. Und dies ist ein fundamentaler Widerspruch zur Vielheit der Sprachen, zumal der menschlichen.

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Die Politik gibt vor, mittels der eigenen Sprache den eingewanderten Menschen einzugliedern. Sie ist noch fern von der Einsicht, dass Eingliederung nicht Sprache ist, sondern Akzeptanz. Die allererste Voraussetzung zur Eingliederung ist die Akzeptanz des Menschen als solchen mit seiner Sprache, seiner Eigenart. Und die vornehmste Aufgabe der Politik und ihre Daseinsberechtigung ist es, den Rahmen zur gegenseitigen Akzeptanz zu schaffen, unabhängig von Sprache, Religion und Herkunft. Doch der Bericht der Bundesregierung über die Stellung der deutschen Sprache in der Welt vom 1. Oktober 1993 im Bundestag manifestiert das genaue Gegenteil. In diesem Bericht heißt es: „Sprache ist sozusagen ein genetischer Fingerabdruck der unverwechselbaren kulturellen Identität." Eben dieser genetische Fingerabdruck soll den Einwanderern eingebrannt werden durch Zwangskurse. „Weil ich die Sprache hier nicht verstehe, komme ich in Verruf."

Diese Zeile kommt in meinem Gedicht „Gedanken über die Rückkehr" vor. Es besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil spricht das lyrische Ich der sogenannten ersten Generation türkischer Einwanderer. Im zweiten das lyrische Ich der zweiten Generation: „Hier sind alle meine Kindheitstage / Alle Worte meiner Zunge sind von hier."

Ich weiß nicht, ob der genetische Fingerabdruck dieses lyrischen Ichs, das anscheinend in Deutschland geboren wurde und aufwuchs, die deutsche Sprache so gut beherrscht, dass es am Telefon von seinen genetisch deutschen Altersgenossen nicht zu unterscheiden ist, dadurch deutsch wurde. Die Erfahrung zeigt, dass Deutsch als unverwechselbare kulturelle Identität in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht viel ausrichtet. Wenn man es am Telefon hört, das Aussehen nicht zu Gesicht bekommt und nach Namen und Herkunft nicht fragt, funktioniert es noch. Nach namentlicher Vorstellung von Angesicht zu Angesicht schafft es jedoch nicht einmal das höchste und feinste Deutsch, akzeptiert zu werden.

Eine Leserzuschrift von Sevki Uyanik aus Betzdorf, erschienen in der Deutschland-Ausgabe der Tageszeitung Hürriyet vom 19. Juli 2001 bringt, es auf den Punkt. Ich versuche, die Eingangszeilen in deutscher Übersetzung wiederzugeben:

„>Wir Türken haben uns nun in Deutschland eingerichtet. Unsere Kinder wurden hier geboren, die dritte und vierte Generation beherrschen Deutsch besser als Türkisch. Auch wir haben Deutschland als Heimat angenommen und möchten mit euch zusammen leben.<

Wenn ich so spreche, seht, was meine deutschen Nachbarn antworten: (...)

>Wenn Ziegen im Schafstall Junge werfen, werden die Zicklein dann zu Lämmern?"

Sie wollen sagen: >Auch nach hundert Jahren Leben in Deutschland bleibt ihr letztlich doch Türken und Ausländer.<"

In seiner Leserzuschrift geht er noch auf einen dokumentarischen Bericht im Fernsehen SW 3 mit dem Titel „Du nix Deutsch" ein. Die ersten Migranten aus der Türkei wurden 1962 in München vorübergehend in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg untergebracht und von dort an die Zielorte weitergeschickt. Im Film erzählt ein inzwischen pensionierter Aufsichtsbeamter, dass zu seinen von den Vorgesetzten gestellten Aufgaben auch gehört habe, die Verhaltensweise dieser Gastarbeiter aktenkundig zu machen, was zur deutschen Lebensart passe und was nicht. Ihm sei aufgefallen, dass viele Türken das ausgegebene warme Essen nicht eingenommen hätten, sondern nur das Obst. Und sie hätten dafür türkische Lebensmittel (Käse, Oliven, Konserven u. a.) aus ihren Taschen geholt. Außerdem hätten manche zu bestimmten Tageszeiten ihre Jacke ausgezogen und auf dem Boden ausgebreitet und darauf gebetet. Dabei hätten sie mit Rosenkränzen klappernd gespielt. „Ich habe das, was ich so gesehen habe, als eine andere Lebensart, die der deutschen Kultur nicht entspricht, als eine fremde Kultur wahrgenommen und registriert."

Dieses Deutsch der Ausgrenzung wird niemals für Integration taugen. Und mit diesem Deutsch wird den Eingewanderten allenfalls eingeimpft, ihrerseits die später Einwandernden auszugrenzen. An dieser Betrachtungsweise, die als von oben verordnete Politik tief verankert ist in den Köpfen, hat sich inzwischen trotz in Deutschland geborener Generationen nicht viel geändert.

Selbst bei der deutschen Vereinigung hat sich diese Einstellung offenbart. Die Ostdeutschen wurden als Ossis zu Zicklein
abgestempelt, die in den Stall der westdeutschen Lämmer eindrangen und fortan dort hineingeboren wurden und werden. In Anlehnung an Johannes Bobrowski schrieb ich aus dieser mich zutiefst verwundernden Erfahrung heraus kurz nach der Vereinigung folgende Zeilen: „Vereinigung als Vokabel // Vereinigung / als Vokabel. // Sie gleitet leicht / über die Zungen. // Mein Schweigen / kein Wort / unsagbar. // Mein Schweigen / an der Grenze des Worts / verschlossen in der Angstschale. // Wagnis zum Wort / auf dem Gipfel / wenn die Schale von innen angepickt. // Sie gleitet so leicht / über die Zungen / hörbar. // Wozu Vereinigung / wenn sie keine ist / und gleichgültig. // Das Wort die Vokabel / verborgen in der Tiefe / im Nichts."

Wieviel Sprache braucht der Mensch? Wir sollten danach fragen, was für eine Sprache der Mensch braucht: eine menschliche.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2001

Yüksel Pazarkaya, Wieviel Sprache braucht der Migrant? Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/42001/positionen2.htm
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