DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Vorbilder im Norden und Westen

BNE-Ansätze im europäischen Vergleich

Walter Leal Filho

Mit der BNE ist es wie mit PISA: Die Musterländle finden sich einmal mehr in Skandinavien (aber nicht nur dort). Zu diesem Ergebnis kommt der vorliegende Versuch eines europäischen Vergleichs in Sachen Nachhaltigkeitsbildung. Da derzeit verlässliche Indikatorensysteme fehlen, mit denen sich messen ließe, ob ein Land Bildung für nachhaltige Entwicklung wirkungsvoller betreibt als andere, beruhen die Bewertungen des Autors auf Befragungen bei offiziellen Stellen und auf gängigen Einschätzungen über gute und weniger gute Praxis im europäischen Ausland.

Die Debatte um Bildung für nachhaltige Entwicklung findet in Europa in unterschiedlicher Tiefe und Geschwindigkeit statt (vgl. Leal Filho/Littledyke 2004). Zwar haben viele nordeuropäische Länder das Konzept übernommen, aber in Ost- und Südeuropa werden Diskussionen speziell über BNE (d.h. außerhalb des Kontextes traditioneller Umweltbildung) immer noch unregelmäßig geführt. Hinzu kommt, dass hier auch entsprechend organisierte Supportstrukturen fehlen.

Auf dem Hintergrund dieser disparaten Situation sind die Entwicklungen zu sehen, die seit der 5. Ministerkonferenz »Umwelt für Europa« 2003 in Kiew in Gang gekommen sind. Dort wurde eine Initiative der UN ECE zum Thema BNE ausgelöst (vgl. den Beitrag von Michelsen in diesem Heft, d. Red.). Die Ausarbeitung einer regionalen Strategie für Bildung für nachhaltiger Entwicklung (vgl. UN ECE 2005) war eine Herausforderung für alle Beteiligten. Sowohl Bildung als auch nachhaltige Entwicklung sind bekannt­lich komplexe Themen. Deshalb war es von entscheidender Bedeutung, viele Akteure zu beteiligen, die UNESCO, nicht-staatliche Organisationen und andere Gruppen. Umwelt- und Bildungsminister arbeiteten bei der Ausarbeitung eines Entwurfes eng zusammen. Ausgehend von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden in der Region musste der Text der Strategie flexibel genug sein, um sie den Prioritäten und den spezifischen Bedürfnissen und Umständen der einzelnen Länder anzupassen.

Anfang 2005 haben die Bildungs- und Umweltminister und andere offizielle Vertreter aus der gesamten ECE-Region bei einem Spitzentreffen in Vilnius diese Strategie beschlossen. Unterschiedliche Beteiligte wie internationale Organisationen, Wirtschaftsvereinigungen, NGOs, regionale Umweltzentren und Forschungseinrichtungen nahmen an dem Treffen teil und lieferten wertvolle Beiträge. Bei dem Treffen wurde auch die UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (vgl. UNESCO 2003) in der Region ins Leben gerufen.

Ziel der Strategie ist es, Schlüssel­themen der nachhaltigen Entwicklung zum Bestandteil aller Bildungssysteme zu machen. Diese Themen umfassen viele Einzelpunkte wie Linderung der Armut, Ethik, Demokratie, Recht, Sicherheit, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, kulturelle Vielfalt, Wirtschaft, Umweltschutz und den Umgang mit natürlichen Ressourcen.

Der nächste Meilenstein ist die Umsetzung der Strategie. Die Länder haben sich darauf geeinigt, Indikatoren für die Bewertung der Umsetzung zu entwickeln, thematische und regionale Workshops zu organisieren und vorbildliche Beispiele auf dem Gebiet der Bildung für nachhaltige Entwicklung zusammenzustellen.

Die Strategie der UN ECE möchte bei der Umsetzung der Bildung für nachhaltige Entwicklung

Um zu ermitteln, in welchem Umfang sich die Regierungen die Aufgaben zu eigen gemacht haben, wurde für diesen Artikel eine vergleichende Untersuchung der Fortschritte auf diesen Gebieten angestellt. Aus jedem Land wurden auf der Grundlage von Telefonaten mit Regierungsbeamten, Auswertungen aktueller Unterlagen und Beratungen mit dem Büro von UN ECE Daten gesammelt. Die Ergebnisse erlauben eine vorläufige Clusterung in drei Kategorien. Tabelle 1 gibt einen Überblick über besondere Merkmale und den Stand der BNE in einzelnen Ländern vor dem Hintergrund der von ihnen gesetzten Prioritäten.

Tabelle 1: BNE in ausgewählten europäischen Ländern

Kategorie

Stand

Land

1

  • BNE im Rahmen von Bildungsprogrammen, einschl. beruflicher Aus- und Weiterbildung, schulisch und außerschulisch
  • Multiplikatorenschulung
  • das öffentliche Bewusstsein wird in großem ­Umfang gefördert

Finnland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Großbritannien

2

  • BNE ist Teil von Bildungsprogrammen
  • Schulung von Multiplikatoren ist nicht oder kaum vorhanden
  • das öffentliche Bewusstsein wird oft nicht gefördert

Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Irland, Italien, Malta

3

  • Schwerpunkt bei traditionellen Ansätzen der ­Umweltbildung
  • Bemühungen um BNE im Anfangsstadium
  • geringe Betonung des öffentlichen Bewusstseins

Zypern, Estland, Griechenland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien

Quelle: Eigene Erhebungen

 

Bei den bisherigen Aktivitäten hat der schulische Sektor im Vordergrund gestanden; die Weiterbildung blieb weitgehend unberücksichtigt. Aber es gibt auch Ausnahmen:

Leider sind Fortschritte in der Weiterbildung nur unzureichend oder gar nicht dokumentiert. Dennoch bieten diese drei Beispiele einen guten Einblick in den möglichen Nutzen, den die Einbeziehung der Nachhaltigkeitskomponenten in die Weiterbildung mit sich bringen kann: bessere Bildung, besseres Verständnis und verbesserte Wettbewerbsfähigkeit – die auch ein Schritt zur Sicherung von Arbeitsplätzen ist.

Das Fehlen eines europäischen BNE-Gesamtprogramms erschwert die Ermittlung von Indikatoren oder Indikatorensystemen, die heute für einen Ländervergleich herangezogen werden könnten. Trotzdem lässt sich auf der Grundlage von Beispielen guter Praxis aus den einzelnen Ländern eine Reihe von Ansätzen bestimmen, die jeweils einen spezifischen Nutzen entfalten:

1. Besseres Verständnis nachhaltiger Entwicklung durch BNE: Dieser Ansatz, der derzeit in Großbritannien verfolgt wird, zielt darauf ab, unterschiedlichen Zielgruppen zu erklären, was nachhaltige Entwicklung ist und bedeutet. Er geht über konventionelle Umweltthemen hinaus und betont den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wert nachhaltiger Entwicklung. Wirkung: Dieses bessere Verständnis ermöglicht die Anwendung von Grundsätzen nachhaltiger Entwicklung in unterschiedlichen Wirtschaftssektoren mit daraus folgenden Vorteilen.

2. Bessere Bürgerinformation: Dieser Ansatz, der den Schwerpunkt in Schweden bildet, zielt darauf, die Öffentlichkeit über die Zusammenhänge zwischen den Zielen nachhaltiger Entwicklung und dem täglichen Leben zu informieren. Die Strategie wird vom neuen »Ministerium für nachhaltige Entwicklung« verfolgt und beinhaltet einen umfassenden Ansatz, in dessen Rahmen Bürger, ungeachtet ihres regionalen, professionellen oder sozialen Hintergrundes, Zugang zu Informationen über Angelegenheiten der nachhaltigen Entwicklung erhalten. Schweden ist das weltweit erste Land, in dessen Kabinett ein Minister für Nachhaltigkeitsfragen zuständig ist. Wirkung: Besser informierte Bürger verstehen die Mechanismen; sie sind darauf vorbereitet, die Kosten für Maßnahmen für nachhaltige Entwicklung zu tragen.

3. Mehr Beteiligung: Diese Strategie wird von Finnland prominent vorgelebt, das als nachhaltigste Gesellschaft der Welt eingeordnet wird (vgl. Yale Centre 2005). Die finnische Öffentlichkeit ist aufgefordert, ihre Ansichten, Meinungen und Beiträge in die Entscheidungsfindung einzubringen und dabei die langfristigen Folgen von Regierungsentscheidungen auf die Umwelt zu berücksichtigen. Wirkung: Beteiligte Bürger sind stolz, zu den Bemühungen in ihrem Land beizutragen, und leisten ihren persönlichen Beitrag bereitwilliger.

4. Mehr Begleitprogramme: In Frankreich begegnet man dem interdisziplinären Charakter der Schlüsselthemen nachhaltiger Entwicklung mit einem ganzheitlichen Ansatz. Staatliche Stellen wie das Umwelt- und das Bildungsministerium arbeiten dort mit vereinten Kräften auf Gebieten wie Linderung der Armut, Schaffung einer Bürgergesellschaft, Frieden, Ethik, Verantwortung im lokalen und globalen Kontext, Demokratie und demokratische Führung, Recht, Sicherheit, Menschenrechte, Gesundheit, gleiche Rechte für die Geschlechter, kulturelle Vielfalt, ländliche und städtische Entwicklung, Wirtschaft, Produktions- und Verbrauchsmuster, unternehmerische Verantwortung, Umweltschutz, Umgang mit natürlichen Ressourcen sowie biologische und landschaftliche Vielfalt. Wirkung: Die Verbreitung des Nachhaltigkeitsgedankens auf unterschiedliche Felder macht sowohl die Bildungsarbeit als auch die eher technischen Umweltinitiativen einfacher umsetzbar.

Die europäischen Bemühungen auf dem Gebiet der BNE werden von verschiedenen Stellen institutionell unterstützt. Neben der UN ECE und ihrer Arbeitsgruppe für BNE sind dies:

Im chronisch unterfinanzierten Bereich der BNE kommt derzeit die vielleicht größte Unterstützung neben der UNESCO von der Europäischen Kommission. Von Januar 2002 bis Juli 2005 wurden ca. 25 Millionen Euro für europäische BNE-Projekte ausgegeben, d.h. für Projekte mit transnationaler Bedeutung und Anwendungsbezug. Eines dieser Projekte heißt »SmartLIFE«; hier werden Grundsätze der Nachhaltigkeit in Schulungen für den Bausektor vermittelt. TEPEE, SmartLIFE und andere auf Kompetenzentwicklung ausgerichtete Projekte sind auf diese von der EU angebotene Finanzierung angewiesen. Der Zugang zu diesen Mitteln ist allerdings sehr umkämpft, und deutsche Einrichtungen beteiligen sich nur in begrenztem Maß. Vielleicht liegt das an den Sprachbarrieren, vielleicht aber auch an den aktuellen Problemen, die im Hinblick auf die Förderung nachhaltiger Entwicklung außerhalb der Schule zu beobachten sind.

Das Niveau der Aufmerksamkeit, die Bildung für nachhaltige Entwicklung derzeit findet, lässt viel Raum für Verbesserungen. Und das aktuelle Ungleichgewicht zwischen Ost- und West- und Nord- und Südeuropa verdient seinerseits große Beachtung. Insgesamt können die gegenwärtigen BNE-Trends aber mit einigem Optimismus betrachtet werden. Wir können jetzt nicht nur auf eine gut organisierte Struktur zählen, sondern auch auf institutionelle Unterstützung, die es vorher nicht gegeben hat. Es liegt jetzt an uns, diesen Schwung zu nutzen und die Sache voranzutreiben und dafür zu sorgen, dass sich die Debatte über die Bildung für nachhaltige Entwicklung weit über den schulischen Kontext hinaus ausdehnt und ihren Weg in das Herz der Gesellschaft findet.

Literatur

Leal Filho, W./Littledyke, M. (Hrsg.) (2004): International Perspectives in Environmental Education. Frankfurt a. M.

UN ECE (2005): UN ECE Strategy for Education for Sustainable Development. Genf

UNESCO (2003): Framework for a Draft Implementation scheme for the Decade of Education for Sustainable Development. Paris

Yale Centre of Environmental Law and Policy (2005): Environmental Sustainability Index 2005. New Haven (CT)

 

Prof. Dr. rer.nat, Dr. sci. habil., Dr. h.c. Walter Leal Filho leitet den Europäischen Referenzpunkt für Technologietransfer im Bereich Nachhaltige Entwicklung (ERP-TTSD) an der TuTech Innovation in Hamburg.