DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Politische Bildung 15 Jahre nach der deutschen Einigung

Ein Gespräch mit Astrid Messerschmidt und Gisela Sept-Hubrich

In diesen Oktobertagen jährt sich die Wiedervereinigung zum fünfzehnten Mal. »Mancher Abschied ist schön« betitelte die Deutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (DEAE) im Jahre 1994 ein Buch, das »Perspektiven für politische Bildung nach dem Ende der Blockkonfrontation« entworfen hat. DIE hat das halbrunde Jubiläum zum Anlass genommen, bei den Autorinnen des Buches nachzufragen, wie die damals entwickelten Ideen heute wirken – im doppelten Sinne. DIE/PB

DIE: Ihr Buch ist in einem Geist des Aufbruchs geschrieben worden. Ist der lebendig geblieben?

A.M.: Aufbruch kann kein Dauerzustand sein. Abgelöst wurde der Aufbruch von wiederkehrenden Erregungszuständen zwischen Ost und West, die sich durch grobe Vereinfachungen auszeichnen. Was am Anfang gegenseitige Verunsicherung war, ist über die Jahre der Einheit zu plakativen Auffassungen über die Identität der jeweils anderen geworden. Man meint zu wissen, wer wie ist und was davon zu halten ist. Ein Grundsatz unserer erwachsenenbildnerischen Arbeit in dem damals dokumentierten Projekt war die Irritation über genau dieses vermeintliche Wissen. Lernprozesse haben immer dann stattgefunden, wenn es dazu gekommen ist.

G.S.-H.: Die Idee einer neuen Bundesrepublik, in der Demokratie nicht mehr nur national definiert wird, beflügelte die Geistesweite der Beteiligten. Mit viel Optimismus ging ich in die konfrontativen Prozesse bei den Begegnungen der Menschen von überall her. Es war auch ein Genuss der Freiheit nach den vielen Jahren des Eingemauert-Seins. Als fünfte Phase der Begegnung hatten wir die »Phase des Schweigens« oder der verweigerten Auskunft erfunden. Sie tritt ein, wenn der Verdacht entsteht, zu dem ganzen Thema nichts mehr sagen zu können. Da bin ich gelandet. Inzwischen sind wir in einer teilweise unfassbar verkommenen Republik angelangt, in der Politiker machtbesessen sind bis zum Identitätsverlust.

DIE: Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm hat im Zusammenhang mit der vermutlichen neunfachen Kindstötung einer brandenburgischen Mutter deren DDR-Hintergrund erklärend ins Spiel gebracht. Das Konkurrenz- und Schubladendenken zwischen Ost und West ist wohl nicht überwunden.

G.S.-H.: Es ging uns in der politischen Bildung darum, wahrzunehmen, wie die gängigen Kommunikationsmuster mit Gegenüberstrukturen wie Ost und West zu Festlegungen und Pauschalisierungen führen. Sie fördern die Konkurrenz und Siegermentalität, führen zu gegenseitigen Vorhaltungen und Beleidigungen. Wichtig war, das, was quer liegt zum Ost-West-Vergleich, zur Sprache zu bringen. Wir finden uns verquer vor in diesem Land, die Ost-West-Reinheit gibt es gar nicht. Die Blockschablonen sind in der öffentlichen Wahrnehmung geblieben, auch wenn wir in Seminaren vielfältige Muster üben. Auf die Einfältigkeit von Herrn Schönbohm und anderen kann ich nicht anders reagieren als mit Schweigen.

A.M.: Die Chance der Erwachsenenbildung ist es, Pauschalisierungen und Alltagswissen einer Reflexion zuzuführen und sich zu fragen, welchen Zweck solche Gewissheiten haben. Mir kommt es so vor, als müsse zwischen Ost und West neu eingeübt werden, wie gegen Zuschreibungen, die sich auf Stammtischniveau bewegen, zu argumentieren ist.

DIE: Sind die Perspektiven von da­mals anachronistisch?

G.S.-H.: Sie sind damals schon in der Zeit der Umbrüche der Zeit voraus gewesen und gewissermaßen bis heute geblieben. Sie sind angemessen dem Geist der Anfänge und Abschiede, also visionär, utopisch, anachronistisch. Wir brauchen nach wie vor politische Bildung, die widerständig Grenzüberschreitung und Vermischung praktiziert. Manches ist wieder kleinkariert im Denken. Wir sind sogar weit hinter 1990 zurückgefallen. Ich glaube, angesichts einer spürbaren Verrohung und Brutalisierung in der Gesellschaft sind unsere Perspektiven von 1994 wichtig für eine offene Gesellschaft, für eine demokratische, humane Identität. Unsere Konzepte von damals wollten dazu beitragen, dass die jeweilige Herkunft der Beteiligten langsamer als üblich die Kommunikationsmuster bestimmt: Die Menschen konnten so einen Baden-Württemberger kennen lernen und nicht einen Wessi oder einen Berliner und nicht einen Russen.

A.M.: Was uns wichtig war in der Situation der ersten Jahre nach der Vereinigung, das war eine Verlangsamung der Prozesse – nachdenken können. Das ist heute noch viel anachronistischer. Praxis der Erwachsenenbildung ist auch Verzögerung einer überstürzten, sich den Beschleunigungsprozessen anpassenden Praxis, die verspricht, dass alles machbar ist und verbessert wird. Unter Erwachsenenbildung verstehe ich, genau das zu bezweifeln. In den Ost-West-Kooperationen ist es möglich gewesen, Dinge in Frage zu stellen, die gerade normalisiert worden sind, sich z.B. zu fragen, warum wir in einem »Projekt« arbeiten. Was heißt es, dass Arbeit befristet wird und wie wirkt sich das auf die Arbeitenden aus? Aus dem westlichen Kontext heraus hätte ich das gar nicht mehr fragen können.

DIE: Wie ist Ihr Buch rezipiert worden? Trug das Konzept Früchte?

A.M.: Im Bereich der Evangelischen Erwachsenenbildung gab es vielfältige Resonanz, zum Teil auch Skepsis gegenüber einem solchen sehr stark erfahrungsbezogenen Zugang. Ich glaube, es ist nicht gelungen, das Thema »am Kochen« zu halten. Das Besondere war für mich die Zusammenarbeit einer Gruppe über einen längeren Zeitraum. Es wäre spannend, die Teilnehmenden heute noch mal zusammen zu bringen. Für mich persönlich hat die Arbeit reichlich Früchte getragen. Ich möchte die Kooperation mit Gisela Sept-Hubrich und Wolfgang Wesenberg nicht missen, die mir viel gezeigt und erzählt haben über das Ostleben und meinen Blick auf politische Wirklichkeiten in Deutschland und Europa verändert haben. Ich merke aber auch, wie schwierig es ist, diese Erfahrung immer wieder zu aktualisieren, und wie einfach, mich in meinen westlich sozialisierten Mustern zu bewegen. Etwas fällt mir im Rückblick besonders auf: Wir haben immer sehr viel gelacht – vor allem über uns selbst. Ich glaube, dass das gar nicht so etwas Beiläufiges war, sondern unsere Arbeit im Ansatz bestimmt hat. Daran würde ich gerne konzeptionell in der Erwachsenenbildung anknüpfen, insbesondere in interkulturellen und internationalen Zusammenhängen.

G.S-H.: Ich kenne die Erwachsenenbildner nicht persönlich, die mit unserem Konzept arbeiteten. Ich glaube, dass viele alltäglich noch immer damit experimentieren. Ich auch. Das macht mir Mut. Seit zwölf Jahren gibt es bei uns ein über­regionales öffentliches Angebot der Evangelischen Erwachsenenbildung zur politischen Frauenbildungsarbeit: »Frauen in Fahrt«. Die Teilnehmerinnen sind verschieden in Bezug auf Herkunft, Bildung, Generation, Konfession (auch oh­ne), Lebensform, politische Grundorientierung, Klassenzugehörigkeit. Der Zulauf hält an.

DIE: Welche Rolle sollte die Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur in der politischen Bildung spielen?

G.S.-H.: »Wer war ich vor 1990?« – das fragt hier in den neuen Bundesländern kaum jemand. Manche sagen, die zeitliche Distanz zu dieser Diktatur ist nicht groß genug. Viele dachten auch, dass die DDR kein schlechter Staat sei, und regen sich über die Defizite der Bundesrepublik Deutschland heute umso mehr auf. Sie sind nir­gendwo mehr zuhause. Das Alte wollen sie auch nicht mehr haben und das Neue können sie so nicht akzeptieren. Darüber wird zu wenig gesprochen. Wir in Fredersdorf-Vogelsdorf durchbrechen dieses Tabu: Wir veranstalten innerhalb der Evangelischen Erwachsenenbildung demnächst eine Lesung »Operativer Vorgang ‚Lanze‘ und ‚Lila‘. Zwei Frauen lesen aus ihrer Stasi-Akte«. Eine davon bin ich. Politische Themen können durchaus erfolgreich sein, wenn man eine gewisse Heiterkeit zulässt, mit der sich das Hinschauen aushalten lässt. Es ist auch die Inszenierung eines Systems, das 1989 zusammenbrach. Das Spiel war aus. Über die eigenen Irrtümer und Blindheiten, über die Courage und Eigenständigkeit im Überwachungsstaat, die unser Leben ausmachten, wäre aus heutiger Sicht viel zu erzählen. Es ist ein aktuelles Thema. Respekt und Achtung können dafür Türen öffnen.

A.M.: Die DDR-Geschichte wird heute im politischen Diskurs so stark instrumentalisiert, dass ich es für erforderlich halte, in der Erwachsenenbildung die deutsch-deutsche Geschichte verstärkt zu bearbeiten. Es ist ausgesprochen problematisch, dass die DDR-Erfahrung als konkurrierender Geschichtsdiskurs gegen die Aufarbeitung der NS-Geschichte angesetzt wird. Um dieser Tendenz etwas entgegenzusetzen, wäre es sinnvoll, die Erinnerungskulturen von Ost und West in die erwachsenenbildnerische Arbeit aufzunehmen, wie es auch in einigen Einrichtungen der politischen Bildung geschieht. Vielleicht ist dies das Nervenzentrum der ost-west-deutschen Aus­einandersetzungen und auch der Ausgangspunkt einer europäischen Per­spektive, die wir damals versucht haben einzunehmen. Am 8. Mai war das spürbar – die verschiedenen Bedeutungen von Befreiung und Kriegsende in den europäischen Ländern. Hier sehe ich eine Herausforderung für die Konzeption politischer Bildung in zeitgeschichtlichen Zusammenhängen.

DIE: Damals nannten Sie Ihr Buch »Mancher Abschied ist schön«. Ist rückblickend jetzt zu viel des Abschieds erfolgt?

G.S.-H.: Nein.