DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

»Was wir säen und was wir ernten« 

Im Gespräch mit Gerhard Lienemeyer, dem »Mann hinter dem DIE -Umschlag«

Arbeiten von Gerhard Lienemeyer, Jahrgang 1936, Grafik-Designer aus Offenbach, kennt jeder: Vor vier Jahren hat er die Briefmarke zum 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno entworfen, vor acht Jahren die zum 100. von Erich Kästner. Lienemeyer hat an mehreren Fachhochschulen Design gelehrt und alle 57 Umschläge der DIE Zeitschrift gestaltet. Nun fällt der 57. Umschlag ausgerechnet ins 07er Jahr und damit dieses Interview gewissermaßen auf einem Nebengleis in den Themenschwerpunkt »57/07«. Mit Lienemeyer sprach DIE-Herausgeber Prof. Dr. Ekkehard Nuissl von Rein.

Gerhard Lienemeyer
Gerhard Lienemeyer
(Alle Fotos zum Interview: Peter Brandt)

Nuissl: Herzlich willkommen, Herr Lienemeyer. Sie machen seit 14 Jahren das Gesicht der DIE Zeitschrift, unsichtbar im Hintergrund. Im ersten Editorial 1993 habe ich geschrieben: Gewöhnen Sie sich an alles Mögliche, an die Rubriken, an die Struktur, aber nicht an den Umschlag, denn der ändert sich jedes Mal. Was hat Sie damals motiviert, diese Art grafischer Arbeit aufzunehmen?

Lienemeyer: Herbert Bohn und Richard Stang erzählten mir, dass eine neue Zeitschrift entstehen soll. Und es gab gleich am Anfang die Einschränkung: »Wir haben kaum Geld«. Also: nur zwei Farben. Das war die Herausforderung, und ich glaube, dass die Vorteile dieser Nachteile damals noch gar nicht richtig erkannt worden sind.

Nuissl: Welches sind die Vorteile der Nachteile?

Lienemeyer: Zum Beispiel, dass das Konzept nicht ausufert. Wichtig ist ja, wie auch sonst im Leben, dass Grenzen gesetzt werden. Ich habe gesagt, wir grenzen das noch mehr ein, wir beschränken uns auf eine Schrift. Und diese Schrift ist die »Akzidenz Grotesk«, das ist eine einfache Grotesk mit einer gewissen klassischen Schönheit. Wenn man die Titelbilder der Zeitschrift mit einem Acker vergliche, dann steht der Acker für die Fläche, auf der gearbeitet wird, und die Schrift ist sozusagen unsere Saat.

Nuissl: Das ist das durchgehende Erkennungsmerkmal: der Schrifttyp.

Lienemeyer: Ja, wir haben zwei Farben und wir haben eine bestimmte Schrift, das ist sozusagen unser Arbeitsmaterial. Und für jede Ausgabe wird neu gesät und es gibt eine neue Ernte. Und was man säen will, wird von der Redaktion bestimmt, diesmal säen wir Kartoffeln und das nächste mal Gemüse. Das ist dann das Thema. Dann gibt es das Gespräch vorher, in dem wir festlegen, was wir säen und was wir ernten wollen.

Nuissl: Sie machen ja nicht nur das Cover, die klassische Titelseite, sondern immer den ganzen Umschlag. Das gehört mit zum Konzept, das Heft als Ganzes zu umbinden mit einer grafischen Gestaltung?

Lienemeyer: Ja, denn wir haben keinen Einfluss, wie das Heft liegt. Und insofern muss die Rückseite genau so wie die Vorderseite ihre Botschaft verbreiten. Das ist ganz wichtig. Und insofern ist das eine Vorgabe, die von mir gekommen ist: Titelseite und Rückseite sind gleichwertig.

»Kein Einfluss, wie das Heft liegt«

Nuissl: Welche sind denn Ihre ästhetischen Vorbilder dabei? Ich erinnere mich noch an »Ästhetik und Kommunikation« aus den 1970er Jahren. Die hatten unter einem bestimmten Aspekt ein ähnliches Konzept: immer eine Banane auf einem sonst veränderbaren schwarzweißen Cover. Jedesmal suchte man die Banane. Wo ist sie jetzt? Oder: Wie wird sie grafisch eingebettet?

Lienemeyer: So eine Banane ist bei uns natürlich nicht vertreten, wir haben ja grundsätzlich keine Bilder auf dem Umschlag. Bei Illustrierten dagegen wird überwiegend mit Bildern gearbeitet. Stellen Sie sich den »Playboy« nur mit Buchstaben vor! Wir arbeiten mit dem Wort, mit der Semantik der Buchstaben, und da haben wir durchaus starke Vorbilder. Das Wörterbuch der Brüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert zeigt eine Vignette (s. Abb.) auf der Titelseite mit der Abbildung einer allegorischen, weiblichen Figur, die eine Tafel hält, darauf steht: »Im Anfang war das Wort«. Wir kennen das ja aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums. Das Wort hat Raum und Zeit erst ermöglicht.

Nuissl: Das Wort als »gedachtes Entstehen «?

Lienemeyer: Ja, das trifft es. Für mich ist wichtig, dass ich die Titel nie alleine gemacht habe, immer die aktuelle Resonanz der Redaktion hatte. Ich bringe meine Erfahrung ein, mein handwerkliches Können, mein typografisches Wissen, nur bedingt bin ich inhaltlich orientiert; dafür brauchte ich natürlich auf der anderen Seite die Partner der Redaktion. Und dieses integrative Arbeiten, das hat mir eigentlich immer großen Spaß gemacht.

Nuissl: Wie muss man sich das vorstellen: Wie viele Stunden sitzen Sie denn mit der Redaktion zusammen?

Lienemeyer: Wir treffen uns etwa zweimal im Jahr und entwerfen zwei, manchmal drei Titel in einer Session. Ein Treffen dauert maximal drei Stunden. Wir haben auch schon Titel in fünf Minuten gemacht, z.B. »Drittmittel«. Die Redaktion liefert eine Interpretation des Heftthemas, und ich sehe, dass mir dazu etwas einfällt. Kreativität ist ja aktuelles Erarbeiten mit Erfahrung und Wissen um die Dinge im Hintergrund. Ich mache Vorschläge, und von der Redaktion kommt dann z.B. eine Reaktion: »Wir könnten das ‚i’ doch rot machen«. Und dadurch entsteht dann Bedeutungserweiterung oder ein subtiler Doppelsinn, so dass der »dröge« Titel intellektuell interessant wird für die Rezeption.

Nuissl: Entwerfen Sie gleich am Computer?

Lienemeyer: Nein, ich betreibe bei den Treffen mit der Redaktion »archaisches Entwerfen « mit zwei farbigen Stiften und einem Blatt Papier. Horst Engels setzt das dann anhand meines später gelieferten Reinlayouts in seinem Büro digital um, immer sehr engagiert und zuverlässig.

Nuissl: Es gibt viele Umschläge, die richtig überraschend sind, die eigene inhaltliche Botschaften enthalten. Wie z.B. bei »Armut« – eine sehr frühe Nummer –, da fehlt dann einfach ein Stück. Oder wie bei der Fußballnummer, bei der das ganze Fußballfeld ausgebreitet ist, oder wie bei »Gewalt«, da ist was weggebrochen. Sie haben in der grafischen Umsetzung des Themas sehr oft für mich überraschende Lösungen gefunden, um die zentrale Botschaft direkt zu übermitteln und zugleich noch etwas Eigenes dazuzutun.

Lienemeyer: Es ist für mich immer eine Bestätigung, dass der Titel »stimmt«, wenn ich ihn erzählen kann. Obwohl Beuys sinngemäß gesagt hat: »Man muss nicht berichten oder erzählen, man muss anschauen.« Aber parallel dazu kann ich über die Sache auch eine ganze Geschichte erzählen.

»Schöner Minimalismus«

Nuissl: »Behinderungen« ist ja auch ein klasse Titel.

Lienemeyer: Ja. Man sieht einfach, das über den Bund geknickte Wort steht inhaltlich für eine Behinderung, das Lesen wird durch diesen Bruch erschwert. Das Wort selber ist total behindert. Und das ist natürlich ein sehr schöner Minimalismus. Der Titel erklärt sich von selbst, er ist einfach statisch, inhaltlich präsent. Wunderbar.

Nuissl: Es ist nicht so, dass man als Rezipient dies alles bedenkt, aber es bleibt etwas hängen. Herr Brandt müsste mal als Gebrauchsanleitung für den Umschlag angeben, dass man das Heft als erstes aufklappt. (Was hiermit erledigt wäre, d. Red.).

Auch das »Glücksheft« ist besonders schön mit dem Marienkäferchen.

Lienemeyer: Ja, ein schöner Titel, der ist besonders bei den Damen gut angekommen. Das war übrigens keine Idee von mir, sondern wie mir Herr Brandt gesagt hat, meinte eine Kollegin: »Da gehört doch ein Glückskäfer drauf«. Und dann bin ich natürlich bereit, so etwas sofort aufzunehmen. Und sehen Sie: Da gibt es auch dieses Fragezeichen: »Ist es Glück?« Das Punkt-Muster funktioniert in unserem Konzept, weil die Punkte ja auch Satzzeichen sind – wir dürfen ja keine Bilder nehmen.

Nuissl: Also ein großgezogenes Satzzeichen. Und die beiden verwendeten Farben sind schwarz und rot an der Stelle. Es ist schon genial, mit wie wenigen Mitteln … Aber sagen Sie mal, wie kommen sie auf so eine Idee mit der Lautschrift? Das ist wirklich genial.

Lienemeyer: Das war ein Vorschlag von der Redaktion. Bachelor und Master kommen aus dem anglo-amerikanischen Raum. Durch die Benutzung dieser Lautsprache wird der ganze Internationalisierungszwang karikiert. Man nimmt die Leute so ein bisschen auf die Schippe, die sich im deutschen Kontext einen abbrechen, die neuen Studiengänge möglichst international mit »ey« auszusprechen. Wir müssen den Leuten eben hilfreich zur Seite stehen …

»Viel ironische Distanz«

Nuissl: In Ihren Titeln steckt viel ironische Distanz.

Lienemeyer: Nun, es gab die Ära Bohn/Stang, und es gibt jetzt die Ära Brandt in der Redaktion. Es gibt da eine sehr gute Entwicklung: Z.B. hier, »Organisationsentwicklung«, einer der ersten Titel, den ich mit Brandt gemacht habe, war noch beschreibend und illustrativ, eine gewisse bildnerische Darstellung, Börsenentwicklung oder so etwas. Der PISA-Titel ist ein gutes Beispiel für die Arbeit mit der neuen Redaktion, wo auch das Spiel mit den Worten, neue Konnotationen ins Spiel gekommen sind: dieses simple Schulheftdesign mit einer intellektuellen Interpretation des Wortes; durch Umstellung und Trennung entsteht hier das Wort »Slang«. Das ist im gemeinsamen Gespräch entstanden. So etwas klappt nur, wenn man sich gegenseitig akzeptiert. Ich bin nicht der Guru, der sagt: »So muss das gemacht werden«; nein, ich kenne die Rezeptur und bin immer bereit, etwas aufzunehmen, Würze in den Topf zu tun, umzurühren. Oder Salz dazu tun, damit es überhaupt schmackhaft wird. Und das macht mir eigentlich großen Spaß, diese Zusammenarbeit mit der Redaktion, dass wir uns gut verstehen und uns alle freuen, wenn wir einen neuen Titel gut gemacht haben.

Nuissl: Irgendwie spürt man das auch immer, dass da Spaß hintersteckt.

Lienemeyer: Und das finde ich das eigentlich Positive, dass die Titel immer ein kleines intellektuelles Witzchen haben.

Nuissl: Das ist ja Brandts Steckenpferd, wenn man seine »Nachwörter«- Seite anschaut. Aber kommen wir mal zu Ihnen: Sie machen ja nicht nur DIE-Titel, was sind sonst Ihre Schwerpunkte?

Lienemeyer: Es gibt fremdbestimmte und selbstbestimmte Aufträge; jetzt im Alter zunehmend selbstbestimmte. Da ist z.B. der Umgang mit dem Wort »Nein«. Das Wort habe ich sozusagen als Wort-Bild-Marke entwickelt. Ich habe festgestellt, dass »Nein« ein wunderbar interessantes Wort ist, in keiner Weise negativ, es ist Selbstschutz, es kann auch durchaus lustig eingesetzt werden. Aus Irland gibt es diese Geschichte von einem Menschen, der immer Nein gesagt hat, und dann kam die Frage: »Sie werden mir doch sicher nicht abschlagen, wenn ich ihnen einen Whiskey anbiete?« – »Nein«. Die Freude am sprachlichen Entdecken schlägt sich in meinen Nein-Bildern nieder, ich habe z.B. einen »Nein- Tisch« gemacht und Kuckucksuhren mit »Nein«, ich könnte eine eigene Ausstellung machen.

»Einmalig, dass der übliche Innovationszwang unterbleibt«

Nuissl: Wir haben bald Ausstellungsflächen, dann können wir darauf zurückkommen ...

Lienemeyer: Und dann gibt es natürlich fremdbestimmte Aufträge: Ich entwerfe Briefmarken für das Bundesfinanzministerium, habe viele Jahre für das »Haus der Begegnung« in Frankfurt die ganze visuelle Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Dann habe ich viele Jahre für den Deutschen Werkbund gearbeitet, Publikationen, Plakate und die »Deutsche Werkbundzeitung«. Von mir sind 25 Ausgaben der Theaterzeitung des S. Fischer Theater Verlags, der Umgang mit Zeitschriften ist mir also sehr vertraut. Wichtig ist bei dieser Arbeit immer die Kontinuität. Die ist ja auch bei »DIE« gegeben, und das ist die wunderbare Alleinstellung dieser Zeitschrift auf dem Zeitschriftenmarkt eben durch diese grafische, reduzierte Präsentation. Es ist einmalig, dass der übliche Innovationszwang unterbleibt; wir sagen, das Bewährte können wir auf vielfältige Art und Weise präsentieren, wir sind noch längst nicht am Ende. Im Grunde genommen fangen wir erst an. Wir haben gerade mal 14 Jahre hinter uns. Und es spricht für das Haus, dass diese Kontinuität gewahrt wird.

Nuissl: Es ist kein Geheimnis, dass bei den Diskussionen über Einsparungspotenziale auch die Titelgestaltung der Zeitschrift auf den Prüfstand kam. Aber Herausgeber und Redaktion haben gekämpft wie die Löwen für dieses zentrale Element der Zeitschrift. Auch in der Botschaft an die Leser: Kontinuität im Wandel. 57 Umschläge sind es inzwischen! – Wissen Sie eigentlich, dass eine Nummer heftig Ärger verursacht hat, dieses Finanzierungsheft? Es gab die kritische Frage, was die Botschaft der Rechnung »Kosten, Konten, Kommissionen gleich null« sei. Wir wurden hochoffiziell angefragt, ob wir damit sagen wollten, dass die gesamte bildungspolitische Aktivität von uns als effektlos eingeschätzt würde.

Lienemeyer: Dieser Titel ist ein grafisch sehr simpler Titel. Der ist ohne große Verrenkungen gemacht. Den kann eigentlich jeder machen: Dieser kleine Rechnungszettel, der da liegt, das ist mehr oder weniger der Bierfilz. Wenn man mit so einer Geschichte eine solche Reaktion bekommen kann von höchster Stelle, das ist doch mehr, als man überhaupt erwarten kann.

Nuissl: Was muss man gelernt haben, um so arbeiten zu können wie Sie? Wie kommt man in ein solches Berufsfeld hinein?

Lienemeyer: Ich habe eine Lehre gemacht als grafischer Zeichner in einer Druckerei, als man noch mit Bleisatz gearbeitet hat. Ich musste in eine Berufsschule gehen, in der auch Schriftsetzer ausgebildet wurden, und da habe ich sehr viel über Typografie gelernt. Anschließend, nach der Gehilfenprüfung bin ich nach Kassel gegangen und habe dort elf Semester Visuelle Kommunikation studiert.

Nuissl: An der dortigen Gesamthochschule?

Lienemeyer: Damals hieß es »Staatliche Werkakademie Kassel«. Einer ihrer Gründer war Arnold Bode, Schöpfer der Documenta. Ich habe bei Hans Hillmann studiert, der die schönsten Filmplakate gemacht hat, und habe viele Jahre mit Gunter Rambow zusammengearbeitet, wir waren sehr erfolgreiche Plakatgestalter. 1988 habe ich mein eigenes Designbüro in Offenbach gegründet, nebenher Lehraufträge übernommen an den Fachhochschulen in Krefeld und Würzburg und an der Staatlichen Werkakademie Kassel, ebenso eine Vertretungsprofessur an der FH in Darmstadt. Inzwischen bin ich froh, mit freien Aufträgen beschäftigt zu sein. Im Durchschnitt gehen vier bis fünf Projekte parallel über meinen Tisch.

Nuissl: Macht es Ihnen denn nach wie vor noch Freude?

Lienemeyer: Ja, es ist eine enorme Herausforderung, zur Zufriedenheit meiner Partner zu arbeiten und auch für mich die Bestätigung zu finden: Es funktioniert noch. Wissen Sie, jede dieser Arbeiten wird öffentlich gemacht. Ich muss mich der Kritik stellen, auch jeder DIE-Titel verursacht immer noch Herzklopfen.

Nuissl: Immer noch? Wie beim Schauspieler?

Lienemeyer: Ja, das Lampenfieber hört nie auf.

Nuissl: Beruhigend zu hören, dass es auch anderen so geht. Auf die nächsten 14 Jahre, Herr Lienemeyer!