Gerhild Brüning
Gerhild Brüning ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Projekt Fortbildung in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im Kontext
regionaler Kooperation (REGIO)" im Arbeitsbereich Planung und Entwicklung/Berufliche
Weiterbildung am DIE.
Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause
tragen" (Goethe): Der Begriff Lernnachweise" muß unter
ordnungspolitischer, pädagogischer und organisatorischer Perspektive betrachtet
werden. Der Nachweis dessen, was man gelernt hat, erfolgt normalerweise
als Zertifizierung, Zertifikat, Zeugnis, Bescheinigung etc. Dieses
Lernen ist durch Schule, Ausbildungsgänge, Weiterbildungsmaßnahmen, Kurse
formalisiert und in die umfassendere Struktur des Bildungs- wie Ausbildungssystems
sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Hinsicht einordnungsfähig.
Die Zertifizierung oder Prüfung erfolgt im Hinblick auf die Inhalte,
die im Lehrplan/Curriculum vorgesehen, festgelegt und vermittelt worden
sind. Lernnachweise sind daher input-orientiert. Sie bestätigen das, was
gelehrt, und nicht so sehr das, was gelernt worden ist. Die Ausweitung der
Input-Orientierung durch die Bildungsreform Ende der 60er/Anfang der 70er
Jahre hat insbesondere die akademische Bildung für breitere Gesellschaftsschichten
(Zweiter und Dritter Bildungsweg) zugänglich gemacht. Ziel der Reform war
es, zum Abbau der Hierarchisierung von Bildungsabschlüssen, zu ihrer Vereinheitlichung
und zur Demokratisierung der Gesellschaft beizutragen. Als Bewertungskriterien
für den Zugang wurden berufliche Bildungsabschlüsse und Berufserfahrung
sowie Studierfähigkeit und Hochschulreife, die sich an den Erfordernissen
der Studiengänge orientierten und nicht über die üblichen Lernnachweise
erfolgten, zugrunde gelegt.
Die gesellschaftlichen Veränderungen durch den technologischen Wandel führten
zu einer massiven Zunahme und Ausdifferenzierung der Angebote insbesondere
für die berufliche Weiterbildung. Die Gleichwertigkeit von beruflicher
und allgemeiner Bildung wurde postuliert. Die dafür notwendigen Zertifizierungen
dienen bei der Unübersichtlichkeit des Anbietermarktes der Vergleichbarkeit,
Vereinheitlichung und Sicherstellung von Qualitätsstandards sowohl für die
Teilnehmenden an Weiterbildungsmaßnahmen (Nachfragende nach Bildung) wie
für die Arbeitsämter, die einen großen Teil der außerbetrieblichen beruflichen
Weiterbildung finanzieren.
Ein Perspektivenveränderung hin zu individuellen Lernnachweisen begann
mit den Konzepten zu erfahrungsorientiertem Lernen, das als Thema
bereits in den 60er Jahren in der gewerkschaftlichen und politischen Bildungsarbeit
Eingang fand. Danach wird Erfahrung zwar als individuell verarbeitetes sinnliches
Erleben und Empfinden verstanden, die Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen
aber sind gesellschaftlich vermittelt. Die Bewertung von Erfahrung hängt
vom Verwendungszusammenhang ab. Erfahrung und das Wissen von Mitarbeiter/innen
mit langjähriger Betriebszugehörigkeit werden in Unternehmen bei der internen
Personalplanung berücksichtigt. Bei Neueinstellungen werden mittels Assessment-Verfahren
früher und informell erworbenes Wissen und allgemein fachübergreifende
Kompetenzen erfaßt. Bei erfahrungsorientiertem Lernen werden die Selbstreflexion
und die Selbstevaluation als Bewertungsverfahren eingesetzt. Individualisiertes,
an Erfahrung und Biografie orientiertes Lernen hat bislang keinen Niederschlag
in Akkreditierungsverfahren gefunden. Allerdings muß das Gelernte kommunizierbar
sein und in eine Akkreditierungssprache übersetzt werden können.
Dazu sind Kriterien notwendig, die jedoch noch entwickelt und ausgehandelt
werden müssen.
Unter der Prämisse des lebenslangen Lernens rücken veränderte Formen des
Lernens wie Selbststeuerung/ Selbstorganisation in den Vordergrund.
Damit verschiebt sich gleichfalls die Bewertung vom Lehren hin zum Lernen.
Abrufbares Wissen und Kenntnisse als individueller Output - nicht der Lehrplan
- unterliegen der Bewertung. Lernleistungen lassen sich aber nur dann verwerten,
wenn sie sichtbar sind und ein gewisses Maß an allgemeiner Anerkennung finden.
Neben die Nachweise formaler Bildungs- und Weiterbildungsabschlüsse müssen
andere Formen des Nachweises von (auch informellen) Lernprozessen
treten.
Lernnachweise gewinnen an Bedeutung, weil kontinuierliche Erwerbsbiografien
seltener, weiche Kompetenzen zunehmend wichtiger werden, organisierte allgemeine
wie berufliche Weiterbildung wie auch erfahrungs-orientiertes Lernen demzufolge
einen höheren Stellenwert erhalten. Formen sind: modulareTeilqualifizierungen,
Portofolio-Ansätze, die auch soziale Kompetenzen erfassen, Berufsbildungspaß,
Studienbücher, Lerntagebücher. Auf europäischer Ebene werden Leistungsnachweise
für erfahrungsorientiertes Lernen derzeit im Rahmen der SOKRATES-geförderten
APEL-Projekte (Assessment of Prior Experiental Learning) entwickelt.
Die (wieder entfachte) Diskussion um Lernnachweise macht deutlich, daß die
Öffnung des Bildungssystems bislang unzureichend ist, aber auch, daß Qualitätskriterien
entwickelt werden müssen, die sowohl den Interessen der individuellen Teilnehmer/innen
wie denjenigen der Unternehmen Rechnung tragen. Lernnachweise sind ein Weg
zum Interessenausgleich. Sie enthalten aber zugleich die problematische
Tendenz, daß immer mehr Fähigkeiten/Kompetenzen des Individuums sich in
Lernnachweisen niederschlagen und damit einer Bewertung unterzogen werden.