Gespräch mit Dr. Werner Dostal
Dr. Werner Dostal (W.D.) ist am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (AB) der Bundesanstalt für Arbeit leitender wissenschaftlicher Direktor für den Bereich Berufs- und Qualifikationsforschung. - Das DIE-Gespräch über Zertifikate und die Bewertung von Nachweisen übergreifender Kompetenzen führte Klaus Meisel (DIE).
DIE: Herr Dostal, wie sehen Sie vom heutigen
Standpunkt aus die Trends in den Qualifikationsanforderungen?
W.D.: Auch in Zukunft wird es sehr viele Arbeitsplätze hoher Spezialisierung
geben. Daneben zeigen sich aber in den letzten Jahren zunehmend Wünsche nach
übergreifenden, oft auch extrafunktionalen Qualifikationen oder nach Schlüsselqualifikationen.
Die Fachqualifikationen werden dort eher auf einem Basisniveau erwartet, Wert
wird auf integrative Fähigkeiten gelegt. Diesem Trend kann die Ausbildung nur
folgen, wenn sie die Spezialqualifikationen durch Schlüsselqualifikationen abrundet.
Dies ist auch deshalb erforderlich, da insbesondere das Spezialwissen derzeit
schnell veraltet. Da zu den Schlüsselqualifikationen auch die Lernfähigkeit
gehört, sind diese Forderungen durchaus plausibel.
DIE: Bedeutet das auch, daß Zusatzqualifikationen bereits in der Berufsausbildung,
aber dann auch in den weiteren Phasen zunehmend bedeutender werden?
W.D.: Das sogenannte T-Modell geht davon aus, daß tief angelegte Basisqualifikationen
erworben werden, die dann durch jeweils aktuelles Anwendungswissen ergänzt werden.
Diese Basisqualifikationen sind längerfristig bedeutsam und haben lange Halbwertzeiten.
Möglicherweise reicht die Bedeutung dieser Basisqualifikationen über ein ganzes
Erwerbsleben. Natürlich kommt es auch vor, daß bei dieser Basisqualifikation
nachgebessert werden muß, doch es sind vor allem die aufgesetzten anwendungsbezogenen
Inhalte, die ständig aktualisiert und erneuert werden müssen.
Nachdem aber mehr Inhalte dazukommen als alte obsolet werden, ergibt sich das
Problem, daß die Ausbildungen immer vollgepackter werden. Die Gefahr ist groß,
daß aktuelle Spezialqualifikationen die Basisqualifikationen an den Rand drängen.
Dabei sind aber die Grundlagen heute viel wichtiger als früher geworden, da
sie als stabiles Fundament für die wechselnden Spezialqualifikationen dienen
müssen.
DIE: Glauben Sie, daß in Zukunft der Nachweis erforderlich sein wird,
daß man auch im extrafunktionalen Bereich sich weiterqualifiziert und versucht,
Kompetenzen weiterzuentwickeln?
W.D.: Bei den extrafunktionalen Qualifikationen handelt es sich meist
um Allgemeinqualifikationen, die auch im außerberuflichen Umfeld gelernt, geübt
und möglicherweise auch zertifiziert werden. Unternehmen haben Assessment-Center
eingerichtet, um die Bewerber auf diese Qualifikationen hin zu testen. Auch
Nachweise außerberuflicher Aktivitäten können bei der Auswahl den Ausschlag
geben, da zunehmend Elemente wie Kooperationsfähigkeit, Kontaktfähigkeit und
andere Persönlichkeitselemente als wichtig auch für den Beruf erachtet werden.
DIE: Wie können solche Lernaktivitäten nachgewiesen und zertifiziert
werden?
W.D.: Eine Zertifizierung extrafunktionaler Qualifizierung gestaltet
sich außerordentlich schwierig. Sie hilft auch nicht immer, denn es erfordert
spezielle Motivation, diese extrafunktionalen Qualifikationen - soweit sie wirklich
vorliegen - auch am Arbeitsplatz einzubringen. Die Arbeitgeber müssen dazu die
entsprechenden Freiräume anbieten, damit Gelegenheit und Motivation für diese
Verhaltensweisen gefördert werden. Die Freiräume am Arbeitsplatz bedeuten breite
Aufgabenzuschnitte, Vertrauen und Offenheit. So sind dann auch persönlichkeitsförderliche
und individualisierte Arbeitszusammenhänge erreichbar. Schließlich ist auch
der Arbeitsplatz ein Ort des Lernens, und schon allein wegen der zunehmenden
Kompetenz der Mitarbeiter sollten die Aufgabenstellungen und Arbeitsabläufe
auf diese steigenden Qualifikationen hin abgestimmt werden. Gerade in anspruchsvollen
Tätigkeiten, beispielsweise in Forschung und Entwicklung, läßt sich mit rigiden
Vorgaben und detaillierter Kontrolle nichts erreichen.
DIE: Betriebe tun sicher sehr viel für die übergreifende Kompetenzförderung
bei den Stammbelegschaften. Wenn man erspüren will, welche Qualifikationen und
Kompetenzen die Menschen besitzen, wird immer stärker mit Assessment-Centers
gearbeitet. Heißt das, daß der Stellenwert von Zertifikaten, von Abschlüssen
eher geringer wird?
W.D.: In den Stammbelegschaften haben Zertifikate keine besondere Bedeutung,
da die Ausbildungszertifikate oft lange zurückliegen und die Qualifikation innerbetrieblich
weitgehend ausgetauscht worden ist. Wenn unterstellt wird, daß der Verbleib
im Unternehmen gewährleistet ist, dann ist es auch gar nicht nötig, Zertifikate
zu haben. Beim Einstieg in die Stammbelegschaften sind demgegenüber Zertifikate
zukünftig immer wichtiger, weil sie die Rekrutierung erleichtern. Da in der
ersten Auswahlrunde zunächst nach den schriftlichen Bewerbungsunterlagen verfahren
wird, haben nur jene Bewerber eine Chance, die auch ausreichende und überzeugende
Zertifikate eingereicht hatten. Nur diese können dann im Assessment-Center ihre
Qualitäten beweisen.
DIE: Belegen solche Zertifikate nur formale Qualifikationen, oder werden
in Zukunft auch für die übergreifenden Kompetenzen Nachweise wichtig? Und wenn
ja, für welchen Personenkreis?
W.D.: Die Erfahrungen beziehen sich heute vor allem auf Zertifikate der
formalen und fachbezogenen Qualifikationen. Es wird aber zukünftig wichtig werden,
auch Zertifikate über extrafunktionale Qualifikationen auszustellen. Denn in
den Randbelegschaften sind häufige Arbeitsgeberwechsel die Regel, und bei diesen
häufigen Bewerbungen können Zertifikate helfen, sowohl jene über fachliche als
auch jene über außerfachliche Qualifikationen.
DIE: Kann man heute eigentlich noch von Stammbelegschaften sprechen?
W.D.: Dazu sind die Meinungen derzeit recht widersprüchlich.
DIE: Wenn Umstrukturierungen ständigen Wechsel erfordern und wenn jemand
sehr viele Lernanstrengungen in einer Stammbelegschaft gemacht hat, aber nach
fünf Jahren überhaupt nicht mehr nachweisen kann, was er überhaupt getan hat:
Ist das dann nicht ein Problem für ihn? Kann diese Person sich noch adäquat
den Konkurrenzbedingungen des Arbeitsmarktes stellen?
W.D.: Der Abbau der Stammbelegschaften wird hierzulande sehr dramatisiert.
Diskussionen über Lean Management wurden häufig überbewertet und haben viel
Unruhe gestiftet. Es kann durchaus sein, daß die Unternehmen mit dieser Strategie
zu "mager" geworden sind und jetzt wieder aufbauen müssen. Die heutige
Position scheint die zu sein, daß Stamm- und Randbelegschaften in einem gesunden
Verhältnis zueinander stehen müssen. Denn was bleibt von einem Unternehmen,
wenn es sich von den Leistungsträgern trennt und sie nur lose ankoppelt? Die
sonstigen Ressourcen sind zum großen Teil schon abgegeben worden: Grundstücke,
Gebäude, Lager, Dienste. So bleiben doch nur noch das Know-how, die Marktkenntnis,
die spezifischen Erfahrungen. Diese basieren auf den Qualifikationen der Mitarbeiter
der Stammbelegschaft als sichere Ressource des Unternehmens. Und die Unternehmen
scheinen sich jetzt auch so zu verhalten, daß sie durchaus versuchen, die wichtigen
Mitarbeiter fest an sich zu binden. Allerdings nur die wichtigen. Die übrigen
werden befristet dazugemietet, damit auch auf die Schwankungen des Marktes reagiert
werden kann.
DIE: Und welche Bedeutung haben Zertifikate für die Randbelegschaften?
W.D.: Bei den Randbelegschaften lassen sich zwei Segmente unterscheiden:
Jene, die eine unverwechselbare Kompetenz bewiesen haben und sich allein auf
dem Markt behaupten können, die gefragt sind und die immer wieder aufgrund ihrer
Leistungen weiterempfohlen werden. Und auf der anderen Seite jene, die Hilfe
brauchen und die nur gelegentlich das Glück haben, beschäftigt zu werden. Spezielle
für diese zweite Gruppe sind gewisse Basiszertifikate von großer Bedeutung,
während für die Souveränen Mindeststandards als Signal sicher hilfreich, aber
nicht unbedingt erforderlich sind.
DIE: Können Sie das etwas konkretisieren?
W.D.: Zertifikate sind nötig für den Aufbau einer Vertrauensbasis. Es
können auch Mitgliedschaften in Vereinigungen oder Fach- und Berufsverbänden
sein, durch die zugleich die Einhaltung von Regeln, möglicherweise von ethischen
Normen signalisiert wird. Die Zertifizierung nach ISO geht auch in diese Richtung.
Sie soll normierte Leistungen und gewisse Garantien deutlich machen.
DIE: Wenn ich das richtig verstanden habe, werden zumindest bei den Randbelegschaften
Zusatzqualifikationen bedeutsamer. Welche Bedingungen müssen dann diese Zertifikate
erfüllen?
W.D.: Zertifikate müssen bekannt und in sich stabil sein. Sie dürfen
nicht ständig geändert werden, müssen auch langfristig von Bedeutung und dürfen
nicht zu selektiv sein. Sonst sind die Akteure im Markt nicht bereit, sich mit
diesen Zertifikaten abzugeben und sie für ihre Entscheidungen zu nutzen. Außerdem
muß transparent sein, wie das jeweilige Zertifikat zustande kam. Ist es nur
ein Teilnahmenachweis, Ergebnis einer einzelnen Prüfung oder einer beruflichen
Bewährung? Wie renommiert ist die prüfende Institution? Hat sie Bedeutung im
Fachgebiet?
DIE: Vor allem muß gefragt werden: Wie werden solche extrafunktionalen
Qualifikationen gemessen und bewertet? Die lassen sich doch nicht abtesten wie
Fachwissen.
W.D.: Bei extrafunktionalen Qualifikationen ist selbstverständlich die
Messung recht schwierig. Hier reichen kurzzeitige Prüfungen kaum aus, sondern
sie lassen sich eigentlich nur über einen ganzen Ausbildungsgang oder eine längere
Prüfungsarbeit ermitteln. Aus diesem Grunde hat - spezielle für diese extrafunktionalen
Qualifikationen - die ausbildungsunabhängige Zertifizierung so große Probleme.
DIE: Wäre es denkbar, daß man über Akkreditierungssysteme der Organisationen
geht? Daß man also versucht, pädagogische Qualitätskriterien und Anforderungen
dafür zu formulieren, was eine gute Bildungsorganisation ist, und für diejenigen,
die an solchen akkreditierten Weiterbildungsinstitutionen gelernt haben, die
Verwertbarkeit von Zertifikaten zu erreichen?
W.D.: Akkreditierungssysteme sind schließlich Monopole. Sie unterstellen,
daß gewisse Qualifikationen nur dort und nirgendwo anders erworben werden können.
Das läßt sich heute nicht halten, denn der schnelle Wandel und die Offenheit
der Berufe erfordern Mehrgleisigkeit. Nur dort, wo die Gesellschaft vor Schäden
von Minderqualifizierten geschützt werden muß, sind derartige Akkreditierungen
von Ausbildungen und auf sie aufgebauten Zertifikaten sinnvoll. Es kann aber
konstatiert werden, daß die Gesellschaft verletzlicher geworden ist und daß
die Bereiche, in denen durch mangelhaft Ausgebildete Probleme ausgelöst werden
können, größer geworden sind. So lassen sich derartige Akkreditierungssysteme
durchaus als notwendig begründen. Sie haben aber nur dann eine Bedeutung, wenn
sie - wie andere Zertifizierungen - transparent und klar bleiben.
DIE: In den 70er Jahren gab es einmal einen Berufsbildungspaß. Irgendwie
hat der praktisch nicht gegriffen. Nimmt die Bedeutung jetzt wieder zu?
W.D.: Derartige Pässe - sofern sie ein getreues Abbild der Lernstationen
sind - können durchaus ihre Bedeutung haben, so wie beispielsweise auch der
Impfpaß. Doch auch hier ist die Frage der Manipulierbarkeit nicht gelöst. Auch
die Bereitschaft der Arbeitgeber, derartige Nachweise zur Grundlage ihrer Entscheidungen
zu machen, läßt sich in dieser formalen Art nicht erkennen. In besonderen Bereichen,
beispielsweise bei Randbelegschaften, mag ein solcher Berufsbildungspaß sicherlich
ganz nützlich sein. Wo es aber um folgenreiche und sensible Entscheidungen geht,
wird detaillierter auf die Persönlichkeit des Bewerbers/der Bewerberin eingegangen.
Dann ist der Berufsbildungspaß nur als eine Sammlung von Zertifikaten zu verstehen,
die bei der Vorbereitung der Entscheidung genutzt werden, aber nicht mehr.
DIE: Das heißt: Zertifikate als Einstiegsticket und Orientierungshilfe,
aber die Kriterien für die Entscheidung, warum man jemanden nimmt oder nicht,
sind subjektiv?
W.D.: Wenn Betriebe kleiner und die Qualifikationen wichtiger werden,
dann wird es immer objektive und subjektive Faktoren bei der Entscheidung geben.
Nur werden die extrafunktionalen Elemente wichtiger, bei denen der persönliche
Eindruck, das Verhalten im Assessment-Test oder die Referenzen eine wachsende
Bedeutung erlangen. Doch auch hier können die Bewerber durch spezielle Einübung
Fähigkeiten erlangen, die so nicht oder nur rudimentär vorliegen. Tests können
sich also auch von ihren Zielen entfernen, wenn sie sich zu sehr formalisiert
haben.
DIE: Herr Dostal, ich habe noch eine Zweitausend-Dollar-Frage. Welche
Qualifikationen braucht man, um sich kompetent auf dem europäischen Arbeitsmarkt
zu bewegen?
W.D.: Die Internationalisierung führt einerseits zu einer gewissen Homogenisierung,
in bestimmten Bereichen aber auch zu einer Anpassung an nationale Besonderheiten.
Meist werden in diesem Zusammenhang Sprach- und Kulturkenntnisse thematisiert,
aber es ist aus meiner Sicht sehr problematisch, diese in formalisierter Weise
zu sehen. Viele Spezialgebiete sind bereits internationalisiert, haben ihre
universelle Fachsprache und zeigen, wie Internationalität praktisch umgesetzt
werden kann. Gelernt werden diese Fähigkeiten am besten im Ausland, so daß der
Austausch in der Ausbildung und in der Berufstätigkeit sicherlich eine gute
Möglichkeit ist, diese Sprach-, Kultur- und spezifischen Fachqualifikationen
zu erwerben, wie sie für eine integrative Tätigkeit nützlich sind. Allerdings
braucht es dazu auch eine besondere Motivation. Die Hoffnung auf Betätigungsfelder
im Ausland geht parallel mit der Aktivität von Ausländern in Deutschland. Wir
sehen derzeit, daß Ausländer gerade in den zukunftsorientierten Dienstleistungen
aktiv sind, in der Gastronomie, im Handwerk und in weiteren Dienstleistungen.
DIE: Werden Zertifikate, zertifizierte Zusatzqualifikationen Ihrer Ansicht
nach auf einem europäischen Arbeitsmarkt eher wichtiger, oder aber werden sie
aufgrund der noch nicht vorhandenen Einschätzbarkeit des Wertes solcher Zertifikate
eher insgesamt an Bedeutung verlieren?
W.D.: Zertifikate haben in den europäischen Ländern eine sehr unterschiedliche
Bedeutung. Manche Länder haben ein differenziertes System von Zertifikaten des
Bildungswesens (beispielsweise Frankreich), andere zertifizieren eher in der
und durch die Berufspraxis (England), wieder andere nutzen internationale Zertifikate.
Erfahrungen mit einem europaweiten Zertifizierungssystem für Informatikberufe,
die nachgewiesenermaßen einen globalen Markt haben und bei denen nationale Besonderheiten
keine große Rolle spielen, da Hardware und Software wie auch die Fachsprache
international sind, zeigen vor allem Dissonanzen bei der Einordnung in die jeweiligen
Wertesysteme. Die gemeinsame Erarbeitung einer Zertifizierungsvorgabe war kein
Problem, aber die Implementierung war nicht möglich. Erst bei der Nagelprobe,
ob Länder bereit sind, statt ihrer überkommenen Systeme das neue zu übernehmen,
hat sich gezeigt, daß viele Vorbehalte unterschwellig vorhanden sind, die dieses
System gekippt haben. Nur die kleineren Länder, die sich schon immer mit den
Nachbarländern abgestimmt hatten, waren bereit, derartigen globalen Vorgaben
zu folgen und sie zu nutzen.