DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Stichwort: »Entgrenzung«

Jochen Kade/Wolfgang Seitter

Mit dem »Strukturplan« war Anfang der 1970er Jahre versucht worden, unter dem Begriff Weiterbildung das Lernen Erwachsener – bei aller Differenziertheit und Vielgestaltigkeit seiner Formen – im Rahmen eines institutionell auf das Modell der Volkshochschule hin zentrierten, öffentlich verantworteten Bildungssystems zu verstehen.

Dieses bildungspolitische Programm war empirisch äußerst folgenreich. Es führte zu einem in diesem Umfang bis dahin nicht da gewesenen Ausbau der Weiterbildung, insbesondere der Volkshochschulen, zur Professionalisierung ihres Personals, aber auch zur Verwissenschaftlichung der Reflexion. Trotz alledem konnte die gesellschaftliche Eigendynamik der Entwicklung des Lernens Erwachsener – insbesondere im Kontext von Beruf und Betrieb sowie der neuen sozialen Bürgerbewegungen wie Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung – nicht unter (öffentliche) Kontrolle gebracht werden.

Auf diese Konstellation bezieht sich die These von der Entgrenzung der Erwachsenenbildung: Wenn traditionelle Erwachsenen- und Weiterbildungsinstitutionen nicht nur Bildungsaufgaben, sondern zunehmend arbeitsmarkt-, sozialpolitische und gesellige Aufgaben übernehmen, und – gleichsam im Gegenzug – andere Institutionen, etwa im Bereich von Kultur und Ökonomie, sich jenseits professioneller Verantwortung im Unschärfebereich von Bildung vermehrt für das Lernen Erwachsener und die Kultivierung von Personen engagieren, dann bedeutet das nicht nur ein Hinausschieben der (äußeren) Grenzen dessen, was unter Erwachsenenbildung bzw. Weiterbildung zu verstehen ist, sondern mehr noch ein Unscharfwerden ihrer Grenzen überhaupt. Was in einer bildungszentrierten Organisationsperspektive als eindeutig galt, differenziert sich nicht nur aus, sondern es wird zugleich unüberschaubar und überschneidet und vermengt sich mit anderen gesellschaftlichen Praxisformen, so dass die Fragen, wo die Erwachsenenbildung anfängt, wo sie aufhört und an welchen normativen Maßgaben sie sich überhaupt noch orientieren könne, nicht nur in Praxis-, sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten zu einem Dauerthema wird.

Eine erziehungswissenschaftlich höchst folgenreiche Antwort ist die These der Universalisierung des Pädagogischen. Mit dieser These wird Bildung als Einheitsformel des Lernens Erwachsener (zunächst) eingeklammert. Statt den Zielen von Lernprozessen gilt die Aufmerksamkeit nun den Formen ihrer pädagogischen Strukturierung. Im Mittelpunkt der Erörterung steht nicht mehr die institutionell-organisatorische Abgrenzung, sondern die Formbildung von Lehren und Lernen, von Vermitteln, Aneignen und Überprüfen auf der Ebene von Kom­mu­nikations- und Interaktionsprozessen.

Damit verliert die soziale Ordnung, in der das Lernen Erwachsener unter den Bedingungen der Universalisierung des Pädagogischen institutionalisiert ist, den traditionellen, zentrumsorientierten Charakter. Sie bekommt vielmehr die Form eines netzwerkartigen Zusammenhangs unterschiedlicher Formen pädagogischer Kommunikation, die – lose gekoppelt – einen Set zentral zwar unkoordinierbarer, gleichwohl gegenseitig aufeinander verweisender Elemente bilden. Diese neue, raffiniertere und komplexere Form der Ordnung des Lernens Erwachsener ist durch organisatorische und professionelle Verdichtungen geprägt und – komplementär dazu – durch ungebundene Formen von (pädagogisch strukturierter) Wissensvermittlung, die etwa zum Ort für das Wirken ‚ambulanter’ Pädagogen werden können und die vielleicht auch zu neuen gesellschaftlichen Laboren für pädagogische Innovationen werden.

Die Entgrenzung der Erwachsenenbildung und die Universalität des Pädagogischen haben neben der sozialen eine individuelle Entsprechung: Mit dem Ausbau von Gelegenheiten, aber auch Zumutungen der (Selbst-)Beobachtung geht die inzwischen verstärkt zu beobachtende Selbstpädagogisierung der Individuen einher, die auf die Fragilität und Flüchtigkeit des Lernens Erwachsener auf Grund ihrer schwachen organisatorischen Einbindung bezogen ist.

Der Universalisierung des Pädagogischen entspricht damit die Universalisierung lernbezogener Biographien, und das heißt auch die Entstehung einer habituell gesicherten Professionalität des Individuums als Lerner.

Prof. Dr. Jochen Kade und Prof. Dr. Wolfgang Seitter lehren Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildung in Frankfurt/M. und Marburg.

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
November 2004
Jochen Kade/Wolfgang Seitter, Stichwort: »Entgrenzung«
URL: http://www.diezeitschrift.de/12005/kade04_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
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