DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

»Entgrenzung als propagiertes Ziel«

Heinrich Schneider, Direktor der vhs stuttgart, über Grenzen und ihre Überwindung

Dr. Heinrich Schneider, Jg. 1942, leitet die Stuttgarter Volkshochschule seit 1985. Entgrenzung ist für ihn keine Drohvokabel, mit der Ängste vor Unsicherheiten prägnant verpackt würden. Entgrenzung ist für ihn Programm. Mit ihm sprach Dr. Peter Brandt.

DIE: Welche Aspekte des Wandels von Erwachsenenbildung/Weiterbildung assoziieren Sie mit dem Wort »Entgrenzung«?

Heinrich Schneider

Schneider: Weiterbildung befindet sich in einem stetigen Veränderungsprozess, zugespitzt: Weiterbildung ist Veränderung, und damit auch Verschiebung, Überwindung oder Aufhebung von Grenzen. Das ist also nichts grundsätzlich Neues. Das Neue ist vielleicht die Vielfalt der Stellen, an denen bisherige Grenzen aufgeweicht oder überwunden werden. Das gilt für die Orte, Zeiten und Formen, an, zu und in denen Weiterbildung stattfindet, für die Themen und Methoden, für die Teilnehmerkreise und für die Anbieter von Weiterbildung. Dabei ersetzt das Neue nicht das Bisherige, sondern erweitert es in der Regel, tritt ergänzend hinzu.

DIE: War die Erwachsenenbildung jemals »begrenzt«?

Schneider: Natürlich gab und gibt es immer wieder von außen gesetzte und/oder von innen akzeptierte Begrenzungen. Aber genauso ist zu beobachten, dass diese Grenzen immer auch Widerstand und Veränderungswillen hervorgerufen haben, was dann früher oder später zur »Entgrenzung« führte. Ich erinnere mich an den Beginn meiner Tätigkeit in der Volkshochschule Ende der siebziger Jahre: Da haben wir tatsächlich überlegt, ob es Ärger mit den Kirchen geben könnte, wenn wir Wochenend-Seminare auch am Sonntag-Vormittag ansetzen würden. Wir haben es probiert, die Angebote wurden angenommen, und niemand hat sichtbar Anstoß genommen. Heute sind die Wochenendkurse einschließlich der Sonntage eine wesentliche Säule unseres Kursprogramms, es fehlt uns in unserem zeitlichen Repertoire nur noch der Nachtkurs.

DIE: Gibt es noch ältere Beispiele von Entgrenzung?

Schneider: In den zwanziger Jahren ist die Vorreiterin unserer Stuttgarter Frauenbildung, Carola Rosenberg-Blume, mit Kursen in die Tagheime für erwerbslose Frauen und in die Fabriken zu den Fabrikarbeiterinnen gegangen – also ganz früh heraus aus der Institution.

DIE: Was ist das qualitativ Neue der zeitgenössischen Entgrenzung?

Schneider: Egal, was gerade als aktuelle Entgrenzung diskutiert wird, z.B. das »selbstgesteuerte« oder auch das »selbstorganisierte« Lernen: Da bin ich ganz sicher, dass es das schon immer gab und dass es die Profession nur erst jetzt in ihr Blickfeld bekommt, also ist das Neue eher »entgrenzte Wahrnehmung«. Und die Bezeichnung und Zusammenfassung verschiedener Veränderungsprozesse unter einem verallgemeinernden Begriff.

DIE: Haben Sie in der Volkshochschule eine entgrenzte Teilnehmerschaft?

Schneider: Keine grundsätzlich entgrenzte, aber sicher eine erweiterte Teilnehmerschaft. Nach wie vor fällt es uns leicht, die bildungswillige und bildungsgewohnte Mittelschicht anzusprechen, oder feiner differenziert die entsprechenden Milieus, wie sie von der neuen Münchner Studie herausgestellt werden.1  Aber es gibt Verschiebungen: Aufträge von Sozialamt und Arbeitsverwaltung bringen gerade sog. »problematische« Jugendliche zu uns in die Institution, und wir können ihnen eine »JUMP«-Erfahrung vermitteln oder sie zum Hauptschulabschluss begleiten. Die Zusammenarbeit mit zahllosen Gruppen aus der Migranten-Szene macht unser zentrales Veranstaltungshaus »TREFFPUNKT Rotebühlplatz« zu »ihrem (interkulturellen) Haus«, in dem sie nicht bloß in den Sprachkursen Defizite beheben können, sondern in dem ihre mitgebrachten Kompetenzen ein Faktor der Programmvielfalt sind und kulturelle und

gesellschaftliche Gegebenheiten abbilden. Oder ein drittes Beispiel der Erweiterung: Durch Auftrag der Stadt für ein Angebot von Kinderbetreuung hat sich unser »Treffpunkt Kinder« zu einem wichtigen Netzwerk-Knoten für vielfältige Kooperationen der Kinder-Kultur entwickelt und bahnt frühe Erfahrungen mit der Institution Volkshochschule an. Durch stetig intensivierte Zusammenarbeit mit der hiesigen Stadtbücherei gelingt es insbesondere in Stadtteilen, durch informelle Schnupper- und Beratungsangebote neue Teilnehmerkreise zu erschließen. Was uns bei der Entgrenzung der Teilnehmerschaft noch nicht wirklich gelungen ist: Wie können wir über die zwei Prozentpunkte, die wir im Schnitt höher als im Bundesdurchschnitt liegen, wirklich mehr Männer in die Volkshochschule bekommen?

DIE: Haben Sie ein entgrenztes didaktisches Repertoire?

Schneider: Ja, auf jeden Fall, da sind wir, glaube ich, am weitesten, was »Entgrenzung« betrifft. Ein wichtiger Motor der Entgrenzung ist hier der Einsatz der neuen Medien und Techniken. Bereits 1994 haben wir einen Raum für »computergestützten Fremdsprachen-Unterricht« eingerichtet, und daraus machen wir aktuell unseren neuen »Lern- und Surf-Treff« (LuST). Vor, nach und neben Kursen bieten wir die Möglichkeiten für Individuen und Gruppen, Informationen zu erschließen und computergestützt zu lernen.

DIE: Das klingt nach neuen Anforderungen an die Professionellen.

Schneider: Ja, sicher. Im Programmbereich EDV zum Beispiel gibt es eine Entwicklung hin zur »vhs-community«, in der während und nach Kursen weitergearbeitet wird, in der neue und maßgeschneiderte Lern-Module angefordert und entwickelt werden können. Hier bieten »flying coaches« Beratung und Lernbegleitung.

DIE: Was machen die und wie sind sie qualifiziert?

Schneider: Das sind Kursleiter/innen mit Kompetenzen meist für die »Professional«-Themen im IT-Bereich, die wir für ganz spezifische, begrenzte Frage- und Problemstellungen sowohl von Einzelnen wie von Firmen bereitstellen. Meist geht es dabei um kurzfristig auftretenden Bedarf (»Ich habe eine neue Aufgabe im Job bekommen und soll übermorgen das und das mit Hilfe der EDV lösen«) und um Themen, die im Umfang unterhalb der üblichen Kursangebote liegen. Es wird die Problemlage genau eingegrenzt, der zeitliche und finanzielle Rahmen vereinbart, und der Kunde hat übermorgen sein Problem gelöst. Die Leis­tung besteht dann aus einer Mischung von Unterricht und Beratung. Eine ähnliche Individualisierung verfolgen wir im neu aufgebauten Geschäftsfeld »Kompetenzanerkennung«, wo es darum geht, individuell und informell erworbene Kompetenzen mit standardisierten Verfahren der Selbst- und Fremdbeurteilung für einen selbst, aber auch für den Arbeitgeber überprüfbar zu machen und eventuell die Grundlage für gezielte Weiterbildung zu legen. All dies hat zu einer Strukturierung und Profilierung unserer Beratungs-Angebote und -Leistungen geführt.

DIE: Sie waren als VHS auch am SELBER-Projekt des DIE beteiligt. Hat das die Entwicklung zu neuer Lernkultur und zu mehr Beratung unterstützt?

Schneider: Durch die Teilnahme gab es eine Steigerung und erheblichen Schub für diese Bemühungen, indem deutlich wurde, dass hier zahlreiche Fäden bereits zu einem Tau zusammengefasst werden können – und diese Entwicklung nicht nur isolierte methodische Schritte darstellt, sondern die Organisation insgesamt fordert und fördert. Ein »Highlight« der SELBER-Beteiligung war die Zusammenarbeit mit der Universität Gießen (Lehrstuhl Forneck), aus der eine für die Praxis als tauglich eingeschätzte neue »Lernarchitektur« für wirklich »selbstgesteuertes« Lernen in Verbindung mit Lernbegleitung entstand.

DIE: Haben Sie die schon in der Praxis erprobt?

Schneider: Der Übergang vom Laborversuch zur »Mühsal der Ebenen«, der breiten Anwendung im »Alltagsgeschäft«, steht jetzt an. Bei all dem brauchen wir natürlich nicht nur diejenigen, die solche Veränderungen planen, sondern vor allem diejenigen, die sie mitvollziehen, die Kursleiter/innen. Natürlich ist die Mehrzahl unserer Kursleiter/innen noch eindeutig mehr »Vermittler/in von Fachwissen« als schon »Lernbegleiter/in« – aber der ermutigende Anfang ist gemacht.

DIE: Wie bereiten Sie ihr Personal auf die Arbeit in einem entgrenzten Feld vor?

Schneider: Indem ich den Mitarbeiter/inne/n so wenig Grenzen wie möglich ziehe und maximalen Gestaltungsspielraum eröffne: möglichst unbegrenztes Spielfeld, aber auch möglichst klare Spielregeln für das Zusammenspiel. Gemeinsam haben wir jetzt zum dritten Mal eine Dreijahresstrategie erarbeitet – mit aktuell z.B. dem zentralen Ziel, die vhs als Netzwerk-Knüpferin und -Pflegerin zu profilieren.

Ein ständiger Organisations-Entwicklungsprozess – begonnen Anfang der neunziger Jahre, mit viel interner und punktuell zugezogener externer Expertise – führt zur stetigen Klärung und Weiterentwicklung der Spielregeln. Und externe und interne Fortbildung (z.B. als neues Instrument die sog. »kollegiale Beratung«) sind wichtige Antriebsfedern.

DIE: Gibt es in einem entgrenzten Weiterbildungsfeld neue Anforderungen an strategische Kooperationen?

Schneider: Das scheint mir sogar die entscheidende Herausforderung: Kooperation als Moment der Veränderung und Entgrenzung. Kooperationen führen hin zu neuen Themenfeldern, Kooperationen erschließen neue Teilnehmerkreise, Kooperationen ermöglichen neue Lernarrangements, Kooperationen prägen das Bild von der Einrichtung.

DIE: Erzählen Sie ein bisschen über die Bedeutung und die Funktionsfähigkeit dieser Kooperationen.

Schneider: Sie bedeuten zunächst eine Perspektiven-Veränderung in der Einrichtung, in der Arbeitsweise sowohl der Planenden wie aller Mitarbeiter/innen. Nicht allein zählt mehr ein fachlich und methodisch professionellen Ansprüchen genügendes Programmangebot (und seine Durchführung) – sondern zu dieser Anforderung kommt die Frage hinzu, in welchem Maße es gelingt, die Perspektive möglicher Auftraggeber einzunehmen, ihre Anforderungen an Inhalte und Formen wenn nicht vorauszuahnen, so doch schnell und postwendend aufzugreifen, sprich sich mehr als bisher an der Nachfrage zu orientieren. Die vhs muss sich mehr als Dienstleister definieren – und zwar in einem ganz breiten Spektrum: von den Selbsthilfegruppen über die kommunalen Institutionen bis hin zur Weltfirma als Partnerin.

DIE: Sie sprechen die Daimler-Chrysler-Abendakademie an. Was ist dabei die Rolle der vhs? Ist das Projekt ein Zukunftsmodell?

Schneider: Unsere Rolle ist dabei die eines in einem breiten, auch über den unmittelbaren betrieblichen Verwendungszweck hinausgehenden Themenspektrum tätigen Partners für Planung, Durchführung und Evaluation von Weiterbildung und Qualifizierung. Das hat uns dazu gebracht, ganz selbstbewusst diese Rolle anzunehmen und entsprechend aufzutreten – nach Vergangenheit sieht das für mich jedenfalls nicht aus.

DIE: Verlieren Sie angesichts einer solchen strategischen Ausrichtung bei der Stammklientel an Rückhalt? Weicht ihr Profil auf?

Schneider: Überhaupt nicht, im Gegenteil: Die vhs stuttgart ist der Netzwerk- und Integrations-Profi für Versuch, Irrtum und Erfolg.

DIE: Gibt es eine »Neue Unübersichtlichkeit« der Erwachsenenbildung? Damit wären wir beim Aspekt des Unkonturierten, des Unstrukturierten, des Unüberschaubaren, der neben dem Aspekt der »Grenze« durch den Begriff  »Entgrenzung« transportiert wird.

Schneider: Für wen ist Übersichtlichkeit wichtig? Und gab es eine alte Unübersichtlichkeit, wenn ja, hat sie jemandem geschadet? – Für unsere Teilnehmenden, für die Stadt und für unsere Auftraggeber reicht die Übersichtlichkeit, uns als verlässlichen und innovativen Partner für alle Formen von Weiterbildung wahrzunehmen. Und wer uns aus fehlender Übersicht noch nicht als solchen wahrnimmt, den müssen wir eben noch überzeugen, durch Ablegen selbstgeknüpfter Fesseln.

DIE: Wo liegen neue Begrenzungen des Feldes?

Schneider: In den fehlenden bzw. nicht hinreichenden personellen und vor allem finanziellen Ressourcen – um das als richtig und sinnvoll Erkannte in größerem Stile auch umsetzen zu können. Das ist meines Erachtens die einzige Begrenzung, die über alle Zeiten hinweg die Weiterbildung wirklich eingeschränkt hat. Aber auch da gilt: Wir haben das stets als Herausforderung gesehen, uns davon

»Ablegen selbstgeknüpfter Fesseln.«

nicht lähmen zu lassen. Wachsende Teilnehmerkreise und zunehmende Aufträge haben es uns in den letzten Jahren ermöglicht, vielleicht nicht so schnell und umfassend, wie wir es uns gewünscht haben, aber doch voranzukommen in der Weiterentwicklung der vhs stuttgart.

DIE: Spüren Sie untergründig bereits die Herausbildung neuer Strukturen im entgrenzten Feld?

Schneider: Alle S-Bahnen im Verdichtungsraum Stuttgart mit 2,5 Millionen Einwohnern kommen am Hauptbahnhof zusammen und laufen in einem Strang zur nächsten Station »Stadtmitte« – und darüber sitzt unser zentrales Veranstaltungsgebäude »TREFFPUNKT Rotebühlplatz«. Diese untergründige Struktur genügt mir.

DIE: Sie gehen das Thema »Entgrenzung« selbstbewusst und offensiv an.

Schneider: Wir sind das hier schon immer offensiv angegangen. Wir haben den Umzug unserer Geschäftsstelle aus dem gründerzeitlichen Villenviertel an den Standort »Stadtmitte« als Signal für die Entwicklung der ganzen Einrichtung deklariert und unter das Motto gestellt »Aus der Villa auf den Markt« – also Entgrenzung als propagiertes Ziel.

DIE: Versuchen Sie doch einmal, die Vision einer Entgrenzung mitgestaltenden Weiterbildungseinrichtung zu formulieren.

Schneider: Weiterbildung selbst hat ja zum Ziel, dass begrenzende Faktoren im Denken und Verstehen, im Wissen und Können reduziert bzw. überwunden werden. Dieses Ziel gilt es auf die Institutionen selbst anzuwenden: Die »lernende Organisation« erkennt Grenzen und analysiert die Rahmenbedingungen, um sie als gegeben, veränderbar oder überwindbar zu erklären. Wenn Sie hierzu wirkungsvolle Strategien entwickelt, ist sie auf dem richtigen Weg.

DIE: Danke für das Gespräch!

Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
November 2004
Heinrich Schneider / Peter Brandt , »Entgrenzung als propagiertes Ziel«
URL: http://www.diezeitschrift.de/12005/schneider04_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp