DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Innovation und Programmentwicklung

ERHARD SCHULTZ

Innovation bedeutet Neuorientierung, Veränderung. Aber wann verdienen Neuerungen in der Erwachsenenbildung wirklich die Bezeichnung "Innovation"? - Erhard Schlutz fragt in seinem Beitrag nach der Nützlichkeit des Begriffs, den Problemen der Identifizierung des Innovativen und der Bedeutung des Modus von "Programmentwicklung" als Veränderungs- und Erweiterungsinstrument. Schließlich benennt er Felder für heute notwendige Innovationen.

Innovation ist eines der Zauberworte unserer Zeit. Das hat substantielle Gründe und banalere. Einerseits leben wir ökonomisch gesehen tatsächlich davon, daß immer neue Erfindungen den globalen Wirtschaftskreislauf antreiben und in Schwung halten. Überleben werden wir dabei wohl nur, wenn wir für die zugleich und selbst geschaffenen Probleme neue Lösungen zustande bekommen. Andererseits ist Neuartigkeit eines der wichtigsten Kaufsignale, vielleicht auch -motive geworden. Noch der kleinste denkbare Unterschied wird in der Produktwerbung mit beabsichtigter oder unfreiwilliger Komik herausgestellt. Zugleich sind im Firmen- wie im Selbstmarketing Innovationsfähigkeit, Kreativität, Veränderungslust zu Werten an sich geworden. Das Design, das solche Propaganda ästhetisch ratifiziert, hat längst den Avantgarde-Anspruch der modernen Kunst ad absurdum geführt.

Soll man wegen solch modischer Aura im Zusammenhang mit Bildung besser auf den Innovationsbegriff verzichten? Sicher nicht, denn wenn ein Kennzeichen unserer Gesamtentwicklung Veränderung, permanente Umstellung und Neuorientierung ist, dann hat Erwachsenen- und Weiterbildung die Aufgabe, den Menschen dabei ebenso durch Lernen (Beschleunigung) wie durch Nachdenken (Entschleunigung) zu helfen. Zudem ist die Bildung Erwachsener immer noch eine relativ junge gesellschaftliche Praxis, von der keineswegs endgültig feststeht, was zu leisten sie in der Lage ist, und die dies nur herausfinden wird, wenn sie bisherige Grenzen überschreitet.

Nur werden wir eben nicht jede Veränderung oder auch nur die Absicht dazu gleich als Innovation bezeichnen. Im ernsthaften Sprachgebrauch ist dieses Fremdwort solchen geplanten oder bewußt begleiteten Veränderungen vorbehalten, die von einigem Gewicht und einer gewissen Nachhaltigkeit sind. So werden MitarbeiterInnen der Erwachsenenbildung in jedem Arbeitsabschnitt eine Reihe von Veränderungen planen, die sie eher als selbstverständliche Programmpflege betrachten.

Was wäre dann aber als Innovation zu bezeichnen und zu fördern?

Da auch kleine Veränderungen auf Dauer große Wirkungen haben können und umgekehrt große Neuerungsabsichten im Sande verrinnen können, ist oft erst im Rückblick zu erkennen, ob etwas den Namen Innovation verdient hat. Deshalb liegt es nahe zu fragen, was denn in der bisherigen Entwicklung der Erwachsenenbildung als Innovationen gelten soll und wie sie zustande gekommen sind.

Dabei stoßen wir aber auf das umgekehrte Problem: Wir können vielleicht relativ schnell mehrere große Neuerungen nennen, weil sie bis heute nachwirken (etwa: die Arbeitsgemeinschaft anstelle des Vortrags in den 20er Jahren; Programme der Lebenshilfe statt oder neben solchen zum kulturellen Erbe; die curricularen Bausteine und VHS-Zertifikate der "Realistischen Wende" usw.), aber wo genau deren Ursprünge und Keimzellen liegen, ist weit schwerer auszumachen.

Wir haben in Bremen die Programmangebote aller Weiterbildungsanbieter untersucht, zum großen Teil auch deren Veränderungen seit Ende der siebziger Jahre und zusätzlich die in den Volkshochschulprogrammen seit 1950 (vgl. IfEB 1995). Was sich bei der notwendigen Zusammenfassung solch großer Datenmengen zunächst abzeichnet, ist eher der Eindruck einer großen Kontinuität.

Das Volkshochschulprogramm etwa wird seit der Nachkriegszeit nahezu durchgehend von acht Themensträngen beherrscht (Grundbildung/Schlüsselqualifikationen, Fremdsprachen, berufliche Bildung, EDV, Kultur, Haus und Umwelt, Gesundheit und personale Bildung, politische und soziale Bildung), wovon nur der Strang EDV, Ende der siebziger Jahre entstanden und bis heute sehr stark anwachsend, eine wirkliche Neuerung darzustellen scheint - scheint, denn man könnte ihn ohne weiteres (nach den dabei gängigsten Themen und Methoden) in die Tradition der Schreibmaschinenkurse stellen. Trotzdem beweist diese Globalansicht nur eine Kontinuität im großen oder daß Innovation in der Erwachsenenbildung kaum die Ablösung großer Themenkomplexe durch völlig neue bedeutet.

Betrachtet man die Entwicklung innerhalb der großen Themenkomplexe, so zeigen sich sofort kleinere oder große Veränderungen und Verschiebungen. So werden z.B. klassische Hauswirtschaftskurse nach und nach ergänzt, z.T. auch modifiziert durch gesundheits-, verbraucher- und ökologieorientierte Angebote. Aber dieser Veränderungsmodus innerhalb eines Großthemas läßt es als schwierig erscheinen, den Beginn einer Neuerung eindeutig zu identifizieren, gleichsam eine Art "Urknall" zu entdecken.

Geht man mit FachbereichsleiterInnen der Programmentwicklung nach, so zeigt sich meist, daß selbst heute neuartig wirkende Programmbereiche, wie etwa der der Gesundheitsbildung, ihre Vorläufer haben. So stellt etwa eine Fachbereichsleiterin fest, daß es schon früh Bewegungs- und Entspannungskurse mit ähnlichem Ziel und Ankündigungstenor wie heute gegeben hat (1950: "Erholung heißt nicht immer Ausruhen ... Das schafft Frohsinn und gibt uns Spannkraft. Der ausgeglichene Mensch steht der täglichen Arbeit leistungsfähiger gegenüber." - 1960: "Wir wollen gemeinsam durch richtiges Spannen und Entspannen ein Gefühl für die Kräfte und Bewegungsmöglichkeiten unseres Körpers erwerben." Ulla Voigt in Schlutz 1995, S. 174). Und wäre die Bremer Volkshochschule in den zwanziger Jahren nicht eine deutschnational orientierte Einrichtung gewesen, deren Gesundheitsvorstellungen in Richtung "Volkshygiene" gingen, so hätte die Fachbereichsleiterin gerade auch aus dieser Zeit Vorläufer nennen können.

Deutlicher erscheint der Beginn einer Neuerung immer da, wo es einen benennbaren Initiationsakt gibt: eine bildungspolitische Initiative, wie die Einführung der VHS-Zertifikate; der dokumentierte Entschluß, das eigene Programm umzustellen (in Bremen z.B. 1976 auf Zielgruppenarbeit); die Bewerbung um ein Förderprogramm; die gleichzeitige Schaffung eines neuen Bereichs und einer Stelle dafür. Aber gerade solche Art initiierter und inszenierter Neuerung läßt oft vergessen, wieviel an Vorarbeit und Vorerfahrung nötig war, um erst dahin zu gelangen.

Selten kann der überregionale Beginn eines neuen Programms so deutlich benannt werden wie im Falle der Alphabetisierung in der BRD: "Im September 1979 werden die ersten beiden Alphabetisierungskurse für Deutsche eingerichtet. Die Bremer VHS war damit die zweite im Bundesgebiet nach der Bremerhavener VHS, die, begleitet zunächst von einem ungläubigen Erstaunen der Öffentlichkeit, solche Angebote machte" (Monika Wagener-Drecoll in Schlutz 1995, S.124). Die Innovation bestand seinerzeit in dem Mut, den Skandal des Nicht-schreiben-Könnens öffentlich zu machen und ihn als Analphabetismus zu brandmarken, was zugleich aber die zu erreichenden Adressaten in gewisser Weise zwang, zu ihrer eigenen Paria-Existenz zu stehen. Ähnlich mühsame, wenn auch weniger methodisch durchdachte Arbeit mit Langsam-Lernenden hatte es an Volkshochschulen, aber auch in Gefängnissen (!) schon lange gegeben.

Die Spuren innovativer Entwicklung sind allerdings auch deshalb oft mühsam wiederzuentdecken, weil viele Neuerungen nicht bei den Themen ansetzen, die sich leichter identifizieren lassen, sondern bei anderen Dimensionen des Programmangebots: z.B. den Adressaten und Zielgruppen, den Veranstaltungsformen und -zeiten, den Methoden und Aktivitätsformen. Am wichtigsten erscheint mir dabei inzwischen der seit den zwanziger Jahren durchgehende Trend, die Kursgruppen zu verkleinern; fast ebenso wichtig ist die Tendenz zum Tagesunterricht, denn beides ermöglicht zugleich eine höhere Lernintensität und -intimität. Nur vor diesem Hintergrund sind die bemerkenswerten methodischen Umstellungen vom rezeptiven zum aktiven Verhalten, etwa im Sprachenunterricht oder in der kulturellen Bildung, möglich geworden, aber auch die großen Themenverschiebungen seit Ende der siebziger Jahre hin zu Lebenswelt- und Subjektorientierung.

Dies sind aber alles Entwicklungen, die nicht punktuell und plötzlich erfolgten, sondern in einer langen Kontinuität: Das Neue in Weiterbildungsprogrammen (zumindest soweit diese sich an eine breite Öffentlichkeit wenden) wird seltener von Paukenschlägen begleitet, entsteht kaum durch totale Kehrtwendung, sondern meist

- als Ausdifferenzierung des Alten (z.B. intensive Auffrischungskurse in Englisch),

- in Analogie zum Bekannten (ein Angebot für Aussiedler nach Erfahrungen mit Integrationsangeboten für Ausländer)

- durch Neukomposition und Zusammenfassung von älteren und neueren Elementen (ein komplexer Lehrgang für ein neues Berufsbild, ein neuer Fachbereich wie der der Gesundheitsbildung).

Dieser Innovationsmodus, der eher dem Wachstum von Jahresringen an Bäumen gleicht und bei dem das Alte selten ganz und gar verlorengeht, findet seine Entsprechung in einem ähnlich langwierigen "Wachstum" von Weiterbildungsmotivationen in der Abnehmerschaft.

Dies aber ist der eigentliche und tiefere Grund für den beobachteten Modus von Programmentwicklung und -innovation in der Erwachsenenbildung, den ich als "Ausdifferenzierung bei hoher Kontinuität" bezeichnen möchte: Da eine Innovation ohne TeilnehmerInnen diesen Namen nicht verdient, sondern die zunehmende Einigung zwischen Veranstaltern und Adressaten über den Innovationsbedarf verlangt, ist sie darauf angewiesen, daß die Adressaten die jeweilige Neuerung in ihre Vorstellung von Bildung und Lernbarem einschließen. Dieses Innovationsinteresse kann selbstverständlich durch den Druck zu beruflicher Veränderung erzwungen werden. Viele, wenn nicht die meisten Innovationen sind aber darauf angewiesen, daß es eine öffentliche Anschubfinanzierung dafür gibt und hauptberufliches Personal sich um die Initialzündung kümmert, einen Start auch mit Kleinstgruppen wagt, aber auch darauf, daß offene Suchbewegungen von Lernenden durch ein enstprechendes Bildungsklima positiv sanktioniert werden.

Selbstverständlich macht auch Not erfinderisch, dennoch haben wir bei unserer breiten Analyse der Programmentwicklung keine schlagkräftigen Belege dafür finden können, daß große thematische Innovationen in der außerbetrieblichen Weiterbildung unmittelbar über einen Markt, der diesen Namen verdient, oder über alternative, nicht öffentlich geförderte Initiativen entwickelt worden sind. Der Markt produziert vor allem bekannte Lernpakete, deren Gewinn für den Zahlenden von vornherein feststeht, aber keine solchen Neuerungen, die das Käuferrisiko, das im Falle der Weiterbildung ohnehin schon relativ hoch ist, noch weiter verstärken würden. Sogenannte alternative Weiterbildung hat im einzelnen wichtige, auch provokative Ideen geliefert, aber selten in Breitenwirkung umsetzen können und hängt heute, soweit sie nicht weiter der Selbstausbeutung erliegt, auch am Tropf von freundlichen Geldgebern oder Drittmitteln.

Aber kehren wir einmal den historischen Betrachtungen, die nach Nietzsche bekanntlich auch das Handeln lähmen können, und den strukturellen Gefährdungen den Rücken und fragen, wie man hier und heute zu Innovationen ermutigen kann. Denn gerade in einer Zeit der drohenden Lähmung müssen innovative Versuche gewagt, aber auch bekannt gemacht werden! Dazu braucht es - neben dem Respekt vor der Geschichte und den Vorläufern - sicher den Mut einzelner, eigene Neuerungsversuche zunächst selbst als innovative Ansätze zu deklarieren und öffentlich herauszustellen - auch wenn schließlich erst der Diskurs von FachkollegInnen und Öffentlichkeit vorläufig (!) darüber entscheiden kann, ob der jeweilige Ansatz mehr als persönlichen Mut zeigt. Vor allem muß es sich dabei nicht immer - und das lehrt die Geschichte in der Tat - um den voraussehbar großen Wurf handeln, nicht etwa um die Neubegründung eines Fachbereiches, nicht um einen Mitteleinsatz, wie ihn sich nur bestimmte Institutionen leisten können; auch die erkennbare Modifikation oder Transformation eines grundsätzlich bereits bekannten Ansatzes - etwa im Hinblick auf die Bedingungen eines kleinen Einzugsbereiches - kann zu einer bedeutsamen Innovation werden.

Wo sollen Innovationen ansetzen? Oft ergänzen sie vorhandene Trends, häufiger wird man Versuche der Gegensteuerung und der Grenzüberschreitung als Neuerungen empfinden. Das beeindruckende Wachstum der offenen Weiterbildung (trotz stagnierender öffentlicher Förderung) seit Beginn der achtziger Jahre beruht vor allem auf drei Programmtrends: 1. der Nachfrage nach Alltagskompetenzen (z.B. nach Gesundheitsbildung, praktischer Ökologie, Beziehungs- und Lebensplanungsthemen, Schlüsselqualifikationen - bei gleichzeitigem Kurssturz der klassischen Wissensvermittlung); 2. der elektronischen Aufrüstung und 3. dem Anstieg der beruflichen Rehabilitation und Umschulung mit hohem Stundenvolumen (vgl. IfEB 1995). Weniger Aufmerksamkeit haben dagegen u.a. erfahren: (1) die Teilhabe an solchem Wissen, das nicht der Nähe, sondern der Orientierung für das anscheinend Ferne dient: Wissen, auch wissenschaftliches, in Politik, besonders in Welt- und Entwicklungspolitik, in Fragen der globalen Ökologie, in solchen der Ökonomie, Kulturentwicklung usw; (2) ein selbständigerer Umgang mit den Möglichkeiten der Informationstechnologien und Medien (statt bloßem Nachbeten der Anwenderprogramme); (3) berufliche Anpassungs- und Zusatzfortbildung in eher - auch unter Strukturgesichtspunkten - zukunftweisenden Technologien und Dienstleistungen.

Erfindungsreichtum scheint auch bei einer differenzierteren Adressatenansprache gefragt. So flexibel sich die Programme bei Themenformulierungen oder bei Veranstaltungsformen zeigen, so ist nicht zu übersehen, daß die Publikumsansprache undifferenzierter geworden ist, so als habe man es mit einer homogeneren Interessentenmasse zu tun, was aber nicht der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht. Ein gewisser Verfall des Informationswertes und der Zielgenauigkeit bei den Ankündigungstexten weist vielleicht auch darauf hin, wie wichtig es nach einer Phase der Expansion wäre, auch wieder über Qualität nachzudenken.

Grenzüberschreitungen, sicher das wichtigste Charakteristikum für Innovationen, sind vielfach zu erkennen; mehr Versuche wären wohl noch wünschenswert zur Überschreitung der Grenzen zwischen Erwachsenenbildung und anderen Aktivitäten (z.B. Arbeiten, kultureller Praxis), zwischen institutionell und selbst organisiertem Lernen, aber auch zur Integration gegeneinander abgeschotteter Gruppen (etwa von Alt und Jung, Migranten und Einheimischen) und zur Ermöglichung neuer Formen längerfristigen Lernens, auch außerhalb berufsbildender Lehrgänge (z.B. mit Hilfe semesterübergreifender Arbeitskreise und Projekte). Besonders auffällig erscheint, daß Jugend und junges Erwachsenenalter kaum zum Thema oder zum Gegenstand methodischer Versuche gemacht werden. Selbstverständlich ist es mühevoll, eine mit Bildung vollgestopfte Generation zur Erwachsenenbildung zu verleiten; aber diese Aufgabe stellt eine Herausforderung für die Zukunft dar.

Diese Hinweise entstammen retrospektiven Beobachtungen des Gesamtangebots. Weder wollen sie suggerieren, nur ein entsprechendes Handeln sei zukunftweisend, noch können sie die eigene Analyse, Bedarfsermittlung und Konzeptionierung im Lokalen, erst recht nicht die eigene Lust auf Neues ersetzen.

Literatur

IfEB / Institut für Erwachsenen-Bildungsforschung: Das Weiterbildungsangebot im Lande Bremen. Strukturen und Entwicklungen in einer städtischen Region. Bremen 1995

Schlutz, Erhard (Hrsg.): Die Bremer Volkshochschule. Geschichte, Programmentwicklung, Perspektiven. Bremen 1995