DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

»Die Frage ist schwierig zu beantworten …«

Podiumsdiskussionen als Unart der Tagungskultur – ein Erfahrungsbericht

Frank Berzbach

Genau zwei Jahre ist es her, dass an dieser Stelle die Unerfreulichkeiten des Folienvortrags beim Namen genannt wurden (DIE, H. IV/ 2004, S. 48f.). Jetzt legt der Autor nach: Die Podiumsdiskussion bietet offenbar allzuoft mehr unfreiwillig Komisches als fachliche Substanz. Schade, ist die Podiumsdiskussion als diskursives Element einer Tagung doch wenigstens prinzipiell geeignet, Positionen zu vernetzen, Dissens abzubilden und das Publikum einzubeziehen.

Um ehrlich zu sein: Die Podiumsdiskussion ist nicht der Tagesordnungspunkt, den ich ungeduldig herbeisehne. Doch viele Tagungen finden damit ihren Abschluss. Keiner weiß genau, woher die Kultur der Podiumsdiskussionen stammt. Die Massenmedien werden dabei sicher eine Rolle gespielt haben: Immerhin haben die Talkshows, die Christiansens und Konsorten großen Erfolg. Auch die so genannte Elefantenrunde nach den Wahlen hat Tradition. Dem rhetorisch perfekten Spiel und den kalkulierten Tricks der Medienprofis schauen viele Menschen gerne zu. Hier ist alles inszeniert, die Teilnehmer sprechen vor allem für das Publikum und nicht mit dem Gegenüber. Sie müssen dem Zuschauer etwas bieten, es geht hier um Unterhaltung. Einfach ist das nicht, denn gewöhnlich sind Diskussionen die andere führen und an denen man nicht selbst teilnehmen kann, eher langweilig.

Leider nimmt man das Fernsehen zu ernst und so konnte die Unart der Podiumsdiskussionen sich ausbreiten, sie findet sich in jedem Tagungsprogramm. Viele Veranstalter fühlen sich vielleicht wie Fernsehmacher oder sie haben gar keine andere Idee für den Abschluss einer Tagung. Schließlich endet für viele auch der Fernsehabend mit Talk – und in den 1980ern hieß es in einer Werbung: Millionen können nicht irren.

Ich sehe aber auch ein, dass es ganz manifeste Gründe für Tagungsmacher gibt, eine Podiumsdiskussion durchzuführen. Sie dient zum Beispiel dem Networking: Man kann gleich zehn Leute einladen, denen man signalisieren will, dass sie wichtig sind. Wir nehmen Euch ernst, ist die Botschaft – auch wenn der Subtext lautet: Aber haltet bloß keinen der Hauptvorträge! Auf einem Podium dürfen alle Platz nehmen, auch die Gegner (natürlich in einer Minderzahl).

Ein besonderes Amt übernimmt der Moderator. Eigentlich kann er (oder sie) sich nur profilieren durch gesprächsanregende Klugheit, eine liebenswürdig-gewinnende Wesensart und sprachliche Eleganz – also durch etwas sehr sehr seltenes. Es wundert daher nicht, dass die Podiumsdiskussionen auf gewöhnlichen Tagungen einen entweder schockieren, langweilen oder Menschen mit einer Vorliebe für Peinlichkeiten köstlich unterhalten. Die Fachwelt sieht sich zudem mit einem Dilemma konfrontiert: Holt man einen Profi zur Moderation, einen Talkmaster, dann wirkt der furchtbar extern, nimmt man aber einen Laien, dann ist der eben nur ein Laie.

Das Tagungsprogramm hat einen verführt – und man hat ihm geglaubt. Doch was an Kommunikation folgt, lädt meist nur zum Sammeln von Zitaten ein. Und die sind, gemessen an den Tagungsgebühren, schockierend. Entweder will keiner seine Meinung sagen, oder – schlimmer – die Diskutanten haben gar keine. Dass man sich »mehr auf den ganzen Prozess konzentrieren muss« wird gesagt; dass dieses oder jenes »zu kompliziert ist, um ins Detail zu gehen – aber ungeheuer spannend«.

Gelegentlich bemerken die Diskutanten es und sagen es auch noch: »Das klingt nicht nur banal, es ist banal.« Aber warum sitzen wir dann hier? Sobald sich weckende Diskussionsschärfe andeutet, sagt der Betroffene: »Da haben sie mich falsch verstanden.« Will heißen: Es liegt also am Zuhörer. Jedenfalls versucht man sich zu konzentrieren, aber die Begriffe, Thesen und Themen bleiben unklar. Vielleicht ist das ein Geheimnis von Podiumsdiskussionen: Nur um ganz unklare Themen und Fragen lässt sich herumreden ohne dass es bemerkt wird. (Ist das das Erfolgsgeheimnis des Fernsehens?) Die ganz seltenen Momente der Wahrheit beziehen sich auf die Podiumsdiskussion selbst. Mutige Menschen, die sich durch Ehrlichkeit unbeliebt machen, sagen dann: »Entschuldigen Sie, dass ich schon in Ihre Pausenzeit reden muss, aber die Monologe meiner Vorredner lassen es nicht anders zu.« Selbst Ehrlichkeit mit Humor taucht auf: Ein 20 Minuten zu spät eingetroffener Podiumsteilnehmer sagte neulich: »Ich entschuldige mich hiermit für die Deutsche Bahn.«

Die Funktion der Podiumsdiskussionen insgesamt bleibt unklar. Alle verbreiteten Absichten werden jedenfalls nicht eingelöst: ein »spannendes« Gespräch zu inszenieren, Gegner zusammenzubringen, Unterschiede sichtbar zu machen oder Konsens herzustellen.

Bringt man Gegner zusammen, dann vertragen die sich plötzlich oder verbünden sich gegen den Moderator. Ständig werden Sätze gesagt wie »Da haben Sie mich falsch verstanden« oder »Ich wollte damit keineswegs sagen, dass ...«. Der Harmoniezwang stellt sich ein, sobald man miteinander reden muss. (Solange miteinander geredet wird, wird nicht geschossen – lautet eine diplomatische Weisheit.)

Auf Podiumsdiskussionen entsteht eine ganz eigene Art der Sprachkreativität, die man wahrheitsliebender auch Sprachmüll nennen könnte. Es wird geredet, aber nichts gesagt. Wer über die Länge einer ganzen Podiumsdiskussion alle Phrasen, komischen Äußerungen oder Ausweichmanöver notiert, der muss sehr flink in der stenographischen Kunst sein. Auch Linguisten konnten mir bisher nicht erklären, warum Menschen immer »ich sag jetzt mal« sagen, während sie etwas sagen, oder warum sich manche mit »schön, dass Sie das ansprechen« begnügen oder »das ist auch gut so« sagen. Aber auch schöne Paradoxien entstehen: »Bevor ich anfange zu sprechen, möchte ich noch etwas sagen.« Wir ahnen was gemeint ist, aber warum das ganze? Ist die Stille wirklich so unerträglich? »Das müssen wir wirklich diskutieren« (ohne das dann zu tun) oder »darauf komme ich noch zurück« (ohne darauf zurück zu kommen) könnte ich sagen, würde man mich fragen.

Wirklich zurückkommen möchte ich auf den Moderator. Natürlich sind die meisten Menschen dafür nicht geeignet, weil moderieren gar nicht ihr Job ist. Das Wort talkmaster suggeriert, vielleicht zu recht, das es sich um eine Kunst handelt. Irgendwie müssen sich die Unsummen erklären, die Fernsehmoderatoren verdienen. Die Fehler der Laien sind daher für die Zuhörer meist sehr unterhaltsam. Gegen Unterhaltung habe ich gar nichts, wären die Tagungsgebühren nicht so hoch: Wer 400 Euro zahlt, um den Deutschen Soziologentag zu besuchen, der kann sich mit Unterhaltung nicht zufrieden geben! (Man könnte für diesen Betrag immerhin etwa 50 Hollywood-Komödien im Kino sehen.) Es handelt sich schließlich nicht nur um fachlich getarnte Unterhaltung, sondern um drittklassige. Bei der letzten Podiumsdiskussion bat der Moderator die Zuhörer eindringlich, dass sie ihre Mobiltelefone ausstellen – mitten in der Diskussion klingelte sein eigenes. Eine Hälfte des Saals lachte, die andere war empört (das Publikum war dann zerstritten). Moderatoren stellen oft die Mitdiskutanten mit falschem Namen vor, verwechseln deren Ämter, Titel oder Herkunftsorte. Die so gleich beim Einstieg verärgerten Diskutanten müssen dann selbst peinliche Sätze sagen wie »nein, ich bin nicht Professor« oder »ich komme vom Hessischen Volkshochschulverband, nicht aus Bayern. Mein Name ist Bayer«.

Gewöhnlich glaubt der Teilnehmer, dass ein Moderator die Redebeiträge balanciert. In Wirklichkeit balanciert er nur die Redezeit – Inhalte gibt es oft gar keine. Dennoch muss am Ende der Moderator betonen, wie dankbar er den Diskutanten ist, wie gewinnbringend die Statements waren und wie wunderbar das Publikum. Wir hätten nun zwar »ein Stück weit« Klarheit erlangt, aber »die spannenden Fragen bleiben unbeantwortet« – wir sollten sie mit auf den Heimweg nehmen. Ich fühle in mir dann ein starkes Knirschen. Was wüsste ich nicht, wenn ich schon lange im Zug nach Hause säße? Immerhin kann ich auf solche Anfragen nun gekonnt erwidern: »Diese Frage ist schwierig zu beantworten, eine andere ist aber wichtiger …«.